Vorwort
Was
die Welt im Innersten zusammenhält, ist fürwahr ein Spannungsfeld!
Mit
dieser Anspielung auf die Eröffnungsszene von Goethes Faust (383) soll hier
dem
Spannungsfeld nachempfunden werden, das der Ur-Sprung aller Dinge, und damit
auch der vorliegenden Arbeit, ist. Das deutsche Wort "Ur-Sprung" stellt in
seinem Bedeutungsfeld auf unübersetzbare Weise genau das ihm innewohnende
Spannungsfeld dar, und seine Be-Deutung entfaltet sich aus der inneren Dynamik
des Wortbildes. Bevor etwas im "Ur-Sprung" Befindliches
in
die Welt der Erscheinungen ent-springen kann, muß es durch ein
Spannungsfeld gehen, durch ein kulminierendes Anwachsen von Kräften, die
im Widerstreit stehen, dem Kampf der Kräfte des Beharrenden gegen die
Kräfte des Verändernden. Eine mathematische Darstellung dieser
kulminierenden Klimax wurde von René Thom als
Katastrophentheorie
bezeichnet, von
kata
strophae
(Wendung, Umsturz, Untergang). In der griechischen Kosmogonie des Hesiodos, und
in vielen anderen uralten Kosmogonien der Menschheit, existierten im
"Ur-Sprung" - "
en
archae
",
nicht einfach nur Spannungsfelder, sondern es herrschte Aufruhr, Kampf, und
Gewalt, und da nimmt die christliche, das Abendland während der letzten
2000 Jahre beherrschende Mythologie eine gewisse Sonderstellung ein, indem sie
den Anfang aller Dinge der ordnenden Stimme und Willensmacht eines
Schöpfergottes unterordnet, nach der der
Kosmos
(griech: Schmuck, Zierde, Ordnung) geschaffen wird. Während der
jüdische Entwurf der Kosmogonie ja noch voll von gewaltsamen Szenen ist,
wie der Aufstand der Engel am Beginn der kosmischen Epoche, der
Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies, die Ermordung Abels, und die
Austilgung der früheren Menschheit in der Sintflut, so ist die christliche
Fassung von Joh. 1.1. eine im Vergleich dazu wesentlich geläuterte
Version, in der das Schöpferwort Gottes in der Form des griechischen
Logos,
und des apollinischen Lichts (
phoibos,
phaos),
in abstrakter Überhöhung als Prinzip (
principium
:=
archae),
erscheint, das sich erst zu einer späteren Stufe in der materiellen
Fleischlichkeit manifestiert. Wesentlich bestimmend für das christliche
Bild von der Weltenordnung war nicht nur die jüdische Überlieferung,
sondern auch Plat
ons
Entwurf der Weltschöpfung im Timaios, der ganz auf den alles
durchwaltenden höchsten Prinzipien (
hier-archia)
des Wahren, des Guten und des Schönen, des Geordneten, beruhte. Auch wenn
die religiösen Motive aus der Geschichte des Abendlandes langsam
verblaßten, so blieb das Prinzip der Ordnung das Leitmotiv, das vor allem
von den Naturwissenschaften übernommen wurde
,
unter der Führung der Physik in der mechanistischen, Newton-
Cartesianischen Orientierung, auf Basis reversibler Prozesse, in energetisch
geschlossenen Systemen. Dieses Prinzip ist vor allem in dem heute aktuellen
Thema der Suche nach der "Weltformel" der Physiker erkennbar, und es wurde
pointiert in Anlehnung an das theologische Motiv von Albert Einstein
ausgedrückt: "Gott würfelt nicht"
.
Die Weltherrschaft des Geordneten, des Wahren, des Guten, und des Schönen,
wurde in der politischen Welt Europas vor allem von den Kräften des Ancien
Regime vertreten, deren Herrschaft zur Zeit Goethes mit der Französichen
Revolution ihren ersten Einbruch hatte, und in der Kata-strophae des ersten
Weltkrieges ihr Ende fand. Seitdem wird die Welt mehr und mehr von einer Kraft
beherrscht, die den anderen Gegenpol des Ur-sprunges vertritt, die Energien der
Veränderung, der Bewegung, und des Wandels. In der heutigen
Naturwissenschaft konkretisiert sich diese Sicht etwa in den Arbeiten
René Thoms, und Chaos- und Thermodynamik- orientierten Ansätzen.
Besonders das globale Finanzsystem bewegt sich mit immer größerer
Geschwindigkeit in einem dynamischen abstrakten Raum von "Spaces of Flow", wie
Manuel Castells es bezeichnet.
[1]
Verfolgen
wir den Werdegang der Auseinandersetzung zwischen den Kräften der Ordnung
und der
hiero-archia
mit den dynamischen Prinzipien der Veränderung und der Metamorphose
zurück zu den Ur-sprüngen der Zivilisationen, so finden wir eine
bedeutsame
Bifurkation
in
der Menschheitsgeschichte, die vor ca. 2500 Jahren stattfand, und die seit
Jaspers unter dem Namen "Achsenzeit" bekannt ist. Ihr geschichtliches
Er-Scheinen, die
phainosis,
fand sie in Persien, unter dem Namen des Religionsgründers Zoroaster
[2].
Dort trat das Prinzip des Guten und der Ordnung als Ahura Mazda das erste Mal
in eine ewige Todfeindschaft mit dem Prinzip des Bösen, Angra Mainyu.
Gleichzeitig aber wurde hier auch das universale Herrschaftsprinzip der
weltenüberspannenden Hegemonie (orbis terrarum) der persischen Herrscher
mit diesem ideologischen Fundament
begründet. Wie wir alle wissen, wanderte dann im Verlauf der Geschichte das
principium
des persischen Machtwillens mit Alexander in den mediterranen Kulturkreis,
manifestierte sich im
Imperium
Romanum
,
und inkarnierte sich später in der Lehre der katholischen Kirche vom
Hierarchieprinzip der Herrschaft Gottes und seiner Heerscharen. Mit der
Entstehung
des
Dualismus, der Exklusion von Gut und Böse, Licht und Dunkel, Fest und
Flüssig, Männlich und Weiblich, wurde auch das Tor zugeschlagen,
durch das man zu einem Verständnis der Schöpfungskraft des Universums
aus einer polaren Balance in Wechselwirkung und Ergänzung
gegensätzlicher Prinzipien hätte gelangen können, wie es z.B.
noch in der chinesischen Yin-Yang-Vorstellung weiterbestand, oder der indischen
Balance der Kräfte des Erzeugenden und Zerstörenden in der Form des
Tanzes des Gottes Shiva. Diese Exklusion fand auch im antiken Griechenland
statt, vor allem in Form der Lehren der Eleaten und Platons vom statischen Sein
und unter Zurückdrängung dynamischer Lehren, wie etwa Heraklits. Die
alten dynamischen Prinzipien hielten sich noch in den Kulten, wie den
Dionysischen und Eleusinischen Riten, die erst durch das Christentum liquidiert
wurden. Das Prinzip des Ur-Bösen fand in dem Teufel der Christenheit seine
charakteristische Ausprägung, der viele seiner äußeren
Attribute von den bocksfüßigen und gehörnten Satyren und
anderer antiker Fruchtbarkeitsgötter geerbt hatte, und in dessen Gestalt
von nun an das Ur-Böse mit der Ur-Zeugung der Natur unheilvoll amalgamiert
wurde
.
Die
hier in einigen groben Zügen nachgezeichnete Entwicklung eines
Weltendramas von Spannungsfeldern wurde von Goethe in seinem 'Faust' als das
Drama des Webens (
histourgia)
und Wirkens der Weltengeister in dem alchymischen Prozess der primordialen
Elemente des Festen und Flüssigen, des Feurigen und Luftigen, in ihrer
Trennung und Vereinigung, ihrem Widerstreit und ihrer Harmonie (
solve
et
coagula
/
diaballo,
metaballo, symballo
),
in höchster Ver-Dichtung dargestellt, ein Elementar-Drama, das sich mehr
oder weniger
deut-lich
oder ange-
deutet,
hinter, und unter (im
mae-phainon)
der sichtbaren, als Theater-Vorstellung darstellbaren Rahmenhandlung des
'Faust', abspielt. Hier sehen wir die sichtbaren Prozesse, die
Phainomena,
welche uns als das Ringen von Faust dargestellt werden, mit den von ihm
gerufenen, aber unkontrollierbaren und entfesselten Kräften der Dynamik,
die durch
Mephistopheles
verkörpert werden, durch deren Unberechenbarkeit er immer wieder seine
Absichten vereitelt sieht, und von denen er letztlich, im Tode, überholt,
und wieder "heimgeholt" wird (zu den
Müttern).
Das elementare Hintergrund-Drama findet vor allem in den Szenen der beiden
Walpurgisnächte statt, in denen die dionysischen und eleusinischen
Mysterien wiedererweckt werden, und besonders durch seine Unsichtbarkeit
ausgeprägt, in der sehr kurzen, für den Zuschauer völlig im
mae-phainon
verdeckten (
kalyptischen)
Szene des Abstiegs Faustens in das Reich des
A-peiron,
der
Mütter,
wie Goethe die Welt der
Materia,
der ungeformten, un-informierten
Hylae,
der
Protisten,
poetisch bezeichnet (
en
archae... aetoi men pr
otista
Chaos genet
- Hesiodos). So erleben, oder vielmehr: ahnen wir hinter dem Drama des
Sichtbaren, des
Phainomenon,
der Handlungen und der Taten (der
erga),
noch eine andere Welt, die der
en-ergeia,
der Web- Wirk- und Werde-Kräfte, die Welt des
Mae-Phainon.
Auf diesen "
Ur-Sprung
der Ur-Sprünge
"
weist uns Goethe dezent und unauffällig in der bekannten (Fehl-)
Übersetzungsszene des Joh. 1.1. Textes hin, als Faust im Pathos der
Überzeugung deklariert: "Im Anfang war die Tat" (
ergon).
Mit diesem gravierenden Ur-Sprungs-Irrtum hat er gleichzeitig schon sein
Schicksal besiegelt, denn: "Im Anfang ist die
En-ergeia".
Er hat die wahren Ursachen des Weltgeschehens nicht gefunden, und kann in
seinem ungestümen Schaffen und Handeln nur Unheil anrichten. Die tragische
Geschichte seiner in allen Konsequenzen durchgeführten Kausal-Ketten der
Taten, Ursachen und Wirkungen, seinen Irrungen und Wirrungen, wird uns in allen
Einzelheiten von Goethe handgreiflich, drastisch, und genüßlich
vorgeführt. Hierin zeichnet uns Goethe auch den Werdegang der
techno-kapitalistischen faustischen Kultur des Abendlandes eindringlich vor,
und weist auf das voraussagbare Ende dieser Entwicklung hin.
Der
grandiose rituelle Höhepunkt des Webens, Wirkens und Werdens der
natura,
der
physis,
der Elementarkräfte der
En-ergeia,
der
Metamorphose,
findet in Goethes Werk in den Schluß-Szenen der klassischen
Walpurgisnacht, in den "Felsbuchten des Ägäischen Meeres", statt.
Hier, in der exakten Mitte von Faust II, ist nach der dramatischen Anatomie von
Freytag,
[3]
der Apex des Spannungsdreiecks erreicht, danach folgt nur noch der Abstieg (
katabasis)
in die
Kata-strophae.
Bezeichnenderweise ereignet sich diese Szene unter Ausschluß von Faust,
der von alledem nichts mitbekommt, weil er damit beschäftigt ist, in
seinem Abstieg in die Unterwelt sein Traumgespenst der Helena von Persephone
herauszulocken, während das Mysterium der Schöpfung des
kosmogonischen Eros in dem
Hieros
Gamos
,
der
heiligen
Hochzeit der Elemente
,
seinen Höhepunkt findet. Diese Szene findet im Element des Wassers statt,
und die schaffende Kraft des Wassers ist in Goethes Sicht der Ur-Sprung aller
Kreation:
So
herrsche denn Eros, der alles begonnen!
Heil
dem Meere! Heil den Wogen,
Von
dem heilgen Feuer umzogen!
Heil
dem Wasser! Heil dem Feuer!
Heil
dem seltnen Abenteuer!
Heil
den mildgewogenen Lüften!
Heil
geheimnisreichen Grüften!
Hochgefeiert
seid allhier,
Element'
ihr alle vier!
Im
weiteren unaufhaltsamen Fortgang der Tragödie des Faust gebiert ihm der
Schatten der Helena lediglich ein Wind-Ei, den sprunghaften Sohn Euphorion, der
sich sogleich zu Tode stürzt, und Helena wieder mit in ihre Unterwelt
zurückzieht. In der unvermeidlichen Katastrophe der Schlußszenen
nimmt Faust direkt den Kampf gegen das Element des Wassers auf, in seinem Wahn,
dem
Meere
das Land dauerhaft entringen zu können, und seinem Drang, das unheimliche
Symbol der natürlichen Fruchtbarkeit, den
Sumpf,
unter seine Gewalt und Ordnung zu bringen, ihn trockenzulegen, und in diesem
"letzten, schlechten Augenblick", ereilt ihn sein Geschick, und er fällt
zurück, in sein Grab. Die Erde hat ihn wieder, und damit ist er wieder auf
"dem Boden der Tatsachen" angelangt
.
[1]
Castells (1996: 412): "The space of flows is the material organization of
time-sharing social practices that work through flows."
[2]
Wie bei den meisten der Kulturheroen der frühen Menschheitszivilisationen
ist seine historische Existenz unsicher, und das Auftreten des Kultes unter
Darius I ist als erstes gesichertes Datum wahrscheinlich ein recht spätes
Stadium einer schon lange laufenden Entwicklung.