Schopenhauer, Arthur
Kapitel 44.
Metaphysik der Geschlechtsliebe
[621] Ihr Weisen, hoch und tief gelahrt,
Die ihr's ersinnt und wißt,
Wie, wo und wann sich Alles paart?
Warum sich's liebt und küßt?
Ihr hohen Weisen, sagt mir's an!
Ergrübelt, was mir da,
Ergrübelt mir, wo, wie und wann,
Warum mir so geschah?
Bürger
Dieses Kapitel ist das letzte von vieren, deren
mannigfaltige gegenseitige Beziehungen zu einander, vermöge welcher sie
gewissermaaßen ein untergeordnetes Ganzes bilden, der aufmerksame Leser
erkennen wird, ohne daß ich nöthig hätte, durch Berufungen und Zurückweisungen
meinen Vortrag zu unterbrechen.
Die Dichter ist man gewohnt hauptsächlich mit der
Schilderung der Geschlechtsliebe beschäftigt zu sehn. Diese ist in der Regel
das Hauptthema aller dramatischen Werke, der tragischen, wie der komischen, der
romantischen, wie der klassischen, der Indischen, wie der Europäischen: nicht
weniger ist sie der Stoff des bei Weitem größten Theils der lyrischen Poesie,
und ebenfalls der epischen; zumal wenn wir dieser die hohen Stöße von Romanen
beizählen wollen, welche, in allen civilisirten Ländern Europas, jedes Jahr so
regelmäßig wie die Früchte des Bodens erzeugt, schon seit Jahrhunderten. Alle
diese Werke sind, ihrem Hauptinhalte nach, nichts Anderes, als vielseitige,
kurze oder ausführliche Beschreibungen der in Rede stehenden Leidenschaft. Auch
haben die gelungensten Schilderungen derselben, wie z.B. Romeo und Julie, die
neue Heloise, der Werther, unsterblichen Ruhm erlangt. Wenn dennoch Rochefoucauld[621]
meint, es sei mit der leidenschaftlichen Liebe wie mit den Gespenstern, Alle
redeten davon, aber Keiner hätte sie gesehn; und ebenfalls Lichtenberg in
seinem Aufsatze »Ueber die Macht der Liebe« die Wirklichkeit und Naturgemäßheit
jener Leidenschaft bestreitet und ableugnet; so ist dies ein großer Irrthum.
Denn es ist unmöglich, daß ein der menschlichen Natur Fremdes und ihr
Widersprechendes, also eine bloß aus der Luft gegriffene Fratze, zu allen
Zeiten vom Dichtergenie unermüdlich dargestellt und von der Menschheit mit
unveränderter Theilnahme aufgenommen werden könne; da ohne Wahrheit kein
Kunstschönes seyn kann:
Rien n'est beau
que le vrai; le vrai seul est aimable.
Allerdings aber bestätigt es auch die Erfahrung, wenn gleich
nicht die alltägliche, daß Das, was in der Regel nur als eine lebhafte, jedoch
noch bezwingbare Neigung vorkommt, unter gewissen Umständen anwachsen kann zu
einer Leidenschaft, die an Heftigkeit jede andere übertrifft, und dann alle
Rücksichten beseitigt, alle Hindernisse mit unglaublicher Kraft und Ausdauer
überwindet, so daß für ihre Befriedigung unbedenklich das Leben gewagt, ja,
wenn solche schlechterdings versagt bleibt, in den Kauf gegeben wird. Die
Werther und Jacopo Ortis existiren nicht bloß im Romane; sondern jedes Jahr hat
deren in Europa wenigstens ein halbes Dutzend aufzuweisen: sed ignotis
perierunt mortibus illi: denn ihre Leiden finden keinen andern Chronisten, als
den Schreiber amtlicher Protokolle, oder den Berichterstatter der Zeitungen.
Doch werden die Leser der polizeigerichtlichen Aufnahmen in Englischen und
Französischen Tagesblättern die Richtigkeit meiner Angabe bezeugen. Noch größer
aber ist die Zahl Derer, welche die selbe Leidenschaft ins Irrenhaus bringt.
Endlich hat jedes Jahr auch einen und den andern Fall von gemeinschaftlichem
Selbstmord eines liebenden, aber durch äußere Umstände verhinderten Paares
aufzuweisen; wobei mir inzwischen unerklärlich bleibt, wie Die, welche,
gegenseitiger Liebe gewiß, im Genüsse dieser die höchste[622] Säligkeit zu
finden erwarten, nicht lieber durch die äußersten Schritte sich allen
Verhältnissen entziehn und jedes Ungemach erdulden, als daß sie mit dem Leben
ein Glück aufgeben, über welches hinaus ihnen kein größeres denkbar ist. – Was
aber die niedern Grade und die bloßen Anflüge jener Leidenschaft anlangt, so
hat Jeder sie täglich vor Augen und, so lange er nicht alt ist, meistens auch
im Herzen.
Also kann man, nach dem hier in Erinnerung Gebrachten, weder
an der Realität, noch an der Wichtigkeit der Sache zweifeln, und sollte daher,
statt sich zu wundern, daß auch ein Philosoph dieses beständige Thema aller
Dichter ein Mal zu dem seinigen macht, sich darüber wundern, daß eine Sache,
welche im Menschenleben durchweg eine so bedeutende Rolle spielt, von den
Philosophen bisher so gut wie gar nicht in Betrachtung genommen ist und als ein
unbearbeiteter Stoff vorliegt. Wer sich noch am meisten damit abgegeben hat,
ist Plato, besonders im »Gastmahl« und im »Phädrus«: was er jedoch darüber
vorbringt, hält sich im Gebiete der Mythen, Fabeln und Scherze, betrifft auch
größtentheils nur die Griechische Knabenliebe. Das Wenige, was Rousseau im Discours sur l'inégalité (p. 96, ed. Bip.)
über unser Thema sagt, ist falsch und ungenügend. Kants Erörterung des
Gegenstandes, im dritten Abschnitt der Abhandlung »Ueber das Gefühl des Schönen
und Erhabenen« (S. 435 fg. der Rosenkranzischen Ausgabe), ist sehr oberflächlich
und ohne Sachkenntniß, daher zum Theil auch unrichtig. Endlich Platners
Behandlung der Sache in seiner Anthropologie, §§ 1347 fg., wird Jeder platt und
seicht finden. Hingegen verdient Spinoza's Definition, wegen ihrer
überschwänglichen Naivetät, zur Aufheiterung, angeführt zu werden: Amor est
titillatio, concomitante idea causae externae (Eth., IV, prop. 44, dem.).
Vorgänger habe ich demnach weder zu benutzen, noch zu widerlegen: die Sache hat
sich mir objektiv aufgedrungen und ist von selbst in den Zusammenhang meiner
Weltbetrachtung getreten. – Den wenigsten Beifall habe ich übrigens von Denen
zu hoffen, welche gerade selbst von dieser Leidenschaft beherrscht sind, und
demnach in den sublimsten und ätherischesten Bildern ihre überschwänglichen
Gefühle auszudrücken suchen: ihnen wird meine Ansicht zu physisch, zu materiell
erscheinen; so metaphysisch, ja transscendent, sie auch[623] im Grunde ist.
Mögen sie vorläufig erwägen, daß der Gegenstand, welcher sie heute zu
Madrigalen und Sonetten begeistert, wenn er 18 Jahre früher geboren wäre, ihnen
kaum einen Blick abgewonnen hätte.
Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden
mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher
bestimmter, specialisirter, wohl gar im strengsten Sinn individualisirter
Geschlechtstrieb. Wenn man nun, dieses fest haltend, die wichtige Rolle
betrachtet, welche die Geschlechtsliebe in allen ihren Abstufungen und Nuancen,
nicht bloß in Schauspielen und Romanen, sondern auch in der wirklichen Welt
spielt, wo sie, nächst der Liebe zum Leben, sich als die stärkste und thätigste
aller Triebfedern erweist, die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngern
Theiles der Menschheit fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast
jedes menschlichen Bestrebens ist, auf die wichtigsten Angelegenheiten
nachtheiligen Einfluß erlangt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder
Stunde unterbricht, bisweilen selbst die größten Köpfe auf eine Weile in
Verwirrung setzt, sich nicht scheut, zwischen die Verhandlungen der
Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten, störend, mit ihrem Plunder
einzutreten, ihre Liebesbriefchen und Haarlöckchen sogar in ministerielle
Portefeuilles und philosophische Manuskripte einzuschieben versteht, nicht
minder täglich die verworrensten und schlimmsten Händel anzettelt, die
werthvollsten Verhältnisse auflöst, die festesten Bande zerreißt, bisweilen
Leben, oder Gesundheit, bisweilen Reichthum, Rang und Glück zu ihrem Opfer
nimmt, ja, den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräther
macht, demnach im Ganzen auftritt als ein feindsäliger Dämon, der Alles zu
verkehren, zu verwirren und umzuwerfen bemüht ist; – da wird man veranlaßt
auszurufen: Wozu der Lerm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Noth? Es
handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grethe63 finde: weshalb sollte
eine solche Kleinigkeit eine so wichtige Rolle spielen und unaufhörlich Störung
und Verwirrung in das wohlgeregelte Menschenleben bringen? – Aber dem ernsten
Forscher enthüllt allmälig der Geist der Wahrheit die Antwort: Es ist keine
Kleinigkeit,[624] worum es sich hier handelt; vielmehr ist die Wichtigkeit der
Sache dem Ernst und Eifer des Treibens vollkommen angemessen. Der Endzweck
aller Liebeshändel, sie mögen auf dem Sockus, oder dem Kothurn gespielt werden,
ist wirklich wichtiger, als alle andern Zwecke im Menschenleben, und daher des
tiefen Ernstes, womit Jeder ihn verfolgt, völlig werth. Das nämlich, was
dadurch entschieden wird, ist nichts Geringeres, als die Zusammensetzung der nächsten
Generation. Die dramatis personae, welche auftreten werden, wann wir abgetreten
sind, werden hier, ihrem Daseyn und ihrer Beschaffenheit nach, bestimmt, durch
diese so frivolen Liebeshändel. Wie das Seyn, die Existentia, jener künftigen
Personen durch unsern Geschlechtstrieb überhaupt, so ist das Wesen, die
Essentia derselben durch die individuelle Auswahl bei seiner Befriedigung, d.i.
die Geschlechtsliebe, durchweg bedingt, und wird dadurch, in jeder Rücksicht,
unwiderruflich festgestellt. Dies ist der Schlüssel des Problems: wir werden
ihn, bei der Anwendung, genauer kennen lernen, wann wir die Grade der
Verliebtheit, von der flüchtigsten Neigung bis zur heftigsten Leidenschaft,
durchgehn, wobei wir erkennen werden, daß die Verschiedenheit derselben aus dem
Grade der Individualisation der Wahl entspringt.
Die sämmtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation
zusammengenommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche
meditatio compositionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae
generationes. Diese hohe Wichtigkeit der Angelegenheit, als in welcher es sich
nicht, wie in allen übrigen, um individuelles Wohl und Wehe, sondern um das
Daseyn und die specielle Beschaffenheit des Menschengeschlechts in künftigen
Zeiten handelt und daher der Wille des Einzelnen in erhöhter Potenz, als Wille
der Gattung, auftritt, diese ist es, worauf das Pathetische und Erhabene der
Liebesangelegenheiten, das Transscendente ihrer Entzückungen und Schmerzen
beruht, welches in zahllosen Beispielen darzustellen die Dichter seit
Jahrtausenden nicht müde werden; weil kein Thema es an Interesse diesem gleich
thun kann, als welches, indem es das Wohl und Wehe der Gattung betrifft, zu
allen übrigen, die nur das Wohl der Einzelnen[625] betreffen, sich verhält wie
Körper zu Fläche. Daher eben ist es so schwer, einem Drama ohne Liebeshändel
Interesse zu ertheilen, und wird andererseits, selbst durch den täglichen
Gebrauch, dies Thema niemals abgenutzt.
Was im individuellen Bewußtseyn sich kund giebt als Geschlechtstrieb
überhaupt und ohne die Richtung auf ein bestimmtes Individuum des andern
Geschlechts, das ist an sich selbst und außer der Erscheinung der Wille zum
Leben schlechthin. Was aber im Bewußtseyn erscheint als auf ein bestimmtes
Individuum gerichteter Geschlechtstrieb, das ist an sich selbst der Wille, als
ein genau bestimmtes Individuum zu leben. In diesem Falle nun weiß der
Geschlechtstrieb, obwohl an sich ein subjektives Bedürfniß, sehr geschickt die
Maske einer objektiven Bewunderung anzunehmen und so das Bewußtseyn zu
täuschen: denn die Natur bedarf dieses Stratagems zu ihren Zwecken. Daß es
aber, so objektiv und von erhabenem Anstrich jene Bewunderung auch erscheinen
mag, bei jedem Verliebtseyn doch allein abgesehn ist auf die Erzeugung eines Individuums
von bestimmter Beschaffenheit, wird zunächst dadurch bestätigt, daß nicht etwan
die Gegenliebe, sondern der Besitz, d.h. der physische Genuß, das Wesentliche
ist. Die Gewißheit jener kann daher über den Mangel dieses keineswegs trösten:
vielmehr hat in solcher Lage schon Mancher sich erschossen. Hingegen nehmen
stark Verliebte, wenn sie keine Gegenliebe erlangen können, mit dem Besitz,
d.i. dem physischen Genuß, vorlieb. Dies belegen alle gezwungenen Heirathen,
imgleichen die so oft, ihrer Abneigung zum Trotz, mit großen Geschenken, oder
sonstigen Opfern, erkaufte Gunst eines Weibes, ja auch die Fälle der Nothzucht.
Daß dieses bestimmte Kind erzeugt werde, ist der wahre, wenn gleich den
Theilnehmern unbewußte Zweck des ganzen Liebesromans: die Art und Weise, wie er
erreicht wird, ist Nebensache. – Wie laut auch hier die hohen und empfindsamen,
zumal aber die verliebten Seelen aufschreien mögen, über den derben Realismus
meiner Ansicht; so sind sie doch im Irrthum. Denn, ist nicht die genaue Bestimmung
der Individualitäten der nächsten Generation ein viel höherer und würdigerer
Zweck, als Jener ihre überschwänglichen Gefühle und übersinnlichen
Seifenblasen? Ja, kann es, unter Irdischen Zwecken, einen wichtigeren und
größeren geben? Er allein entspricht der Tiefe, mit welcher die
leidenschaftliche Liebe gefühlt wird, dem Ernst,[626] mit welchem sie auftritt,
und der Wichtigkeit, die sie sogar den Kleinigkeiten ihres Bereiches und ihres
Anlasses beilegt. Nur sofern man diesen Zweck als den wahren unterlegt,
erscheinen die Weitläuftigkeiten, die endlosen Bemühungen und Plagen zur
Erlangung des geliebten Gegenstandes, der Sache angemessen. Denn die künftige
Generation, in ihrer ganzen individuellen Bestimmtheit, ist es, die sich
mittelst jenes Treibens und Mühens ins Daseyn drängt. Ja, sie selbst regt sich
schon in der so umsichtigen, bestimmten und eigensinnigen Auswahl zur
Befriedigung des Geschlechtstriebes, die man Liebe nennt. Die wachsende
Zuneigung zweier Liebenden ist eigentlich schon der Lebenswille des neuen
Individuums, welches sie zeugen können und möchten; ja, schon im
Zusammentreffen ihrer sehnsuchtsvollen Blicke entzündet sich sein neues Leben,
und giebt sich kund als eine künftig harmonische, wohl zusammengesetzte
Individualität. Sie fühlen die Sehnsucht nach einer wirklichen Vereinigung und
Verschmelzung zu einem einzigen Wesen, um alsdann nur noch als dieses
fortzuleben; und diese erhält ihre Erfüllung in dem von ihnen Erzeugten, als in
welchem die sich vererbenden Eigenschaften Beider, zu Einem Wesen verschmolzen
und vereinigt, fortleben. Umgekehrt, ist die gegenseitige, entschiedene und
beharrliche Abneigung zwischen einem Mann und einem Mädchen die Anzeige, daß
was sie zeugen könnten nur ein übel organisirtes, in sich disharmonisches, unglückliches
Wesen seyn würde. Deshalb liegt ein tiefer Sinn darin, daß Calderon die
entsetzliche Semiramis zwar die Tochter der Luft benennt, sie jedoch als die
Tochter der Nothzucht, auf welche der Gattenmord folgte, einführt.
Was nun aber zuletzt zwei Individuen verschiedenen
Geschlechts mit solcher Gewalt ausschließlich zu einander zieht, ist der in der
ganzen Gattung sich darstellende Wille zum Leben, der hier eine seinen Zwecken
entsprechende Objektivation seines Wesens anticipirt in dem Individuo, welches
jene Beiden zeugen können. Dieses nämlich wird vom Vater den Willen, oder
Charakter, von der Mutter den Intellekt haben, die Korporisation von Beiden:
jedoch wird meistens die Gestalt sich mehr nach dem Vater, die Größe mehr nach
der Mutter richten, – dem Gesetze gemäß, welches in den Bastarderzeugungen der
Thiere an den Tag tritt und hauptsächlich darauf beruht, daß die Größe des
Fötus sich nach der Größe des Uterus richten muß. So[627] unerklärlich die ganz
besondere und ihm ausschließlich eigenthümliche Individualität eines jeden
Menschen ist; so ist es eben auch die ganz besondere und individuelle
Leidenschaft zweier Liebenden; – ja, im tiefsten Grunde ist Beides Eines und
das Selbe: die Erstere ist explicite was die Letztere implicite war. Als die allererste
Entstehung eines neuen Individuums und das wahre punctum saliens seines Lebens
ist wirklich der Augenblick zu betrachten, da die Eltern anfangen einander zu
lieben, – to fancy each other nennt es ein sehr treffender Englischer Ausdruck,
– und, wie gesagt, im Begegnen und Heften ihrer sehnsüchtigen Blicke entsteht
der erste Keim des neuen Wesens, der freilich, wie alle Keime, meistens
zertreten wird. Dies neue Individuum ist gewissermaaßen eine neue (Platonische)
Idee: wie nun alle Ideen mit der größten Heftigkeit in die Erscheinung zu
treten streben, mit Gier die Materie hiezu ergreifend, welche das Gesetz der
Kausalität unter sie alle austheilt; so strebt eben auch diese besondere Idee
einer menschlichen Individualität mit der größten Gier und Heftigkeit nach
ihrer Realisation in der Erscheinung. Diese Gier und Heftigkeit eben ist die
Leidenschaft der beiden künftigen Eltern zu einander. Sie hat unzählige Grade,
deren beide Extreme man immerhin als Aphroditê pandêmos und ourania bezeichnen
mag: – dem Wesen nach ist sie jedoch überall die selbe. Hingegen dem Grade nach
wird sie um so mächtiger seyn, je individualisirter sie ist, d.h. je mehr das
geliebte Individuum, vermöge aller seiner Theile und Eigenschaften,
ausschließlich geeignet ist, den Wunsch und das durch seine eigene
Individualität festgestellte Bedürfniß des liebenden zu befriedigen. Worauf es
nun aber hiebei ankommt, wird uns im weiteren Verfolge deutlich werden.
Zunächst und wesentlich ist die verliebte Neigung gerichtet auf Gesundheit,
Kraft und Schönheit, folglich auch auf Jugend; weil der Wille zuvörderst den
Gattungscharakter der Menschenspecies, als die Basis aller Individualität,
darzustellen verlangt: die alltägliche Liebelei (Aphroditê pandêmos) geht nicht
viel weiter. Daran knüpfen sich sodann speciellere Anforderungen, die wir
weiterhin im Einzelnen untersuchen werden, und mit denen, wo sie Befriedigung
vor sich sehn, die Leidenschaft steigt. Die höchsten Grade dieser aber
entspringen aus derjenigen Angemessenheit beider Individualitäten zu einander,
vermöge welcher der Wille, d.i.[628] der Charakter, des Vaters und der
Intellekt der Mutter, in ihrer Verbindung, gerade dasjenige Individuum
vollenden, nach welchem der Wille zum Leben überhaupt, welcher in der ganzen
Gattung sich darstellt, eine dieser seiner Größe angemessene, daher das Maaß
eines sterblichen Herzens übersteigende Sehnsucht empfindet, deren Motive eben
so über den Bereich des individuellen Intellekts hinausliegen. Dies also ist
die Seele einer eigentlichen, großen Leidenschaft. – Je vollkommener nun die
gegenseitige Angemessenheit zweier Individuen zu einander, in jeder der so
mannigfachen, weiterhin zu betrachtenden Rücksichten ist, desto stärker wird
ihre gegenseitige Leidenschaft ausfallen. Da es nicht zwei ganz gleiche
Individuen giebt, muß jedem bestimmten Mann ein bestimmtes Weib, – stets in
Hinsicht auf das zu Erzeugende, – am vollkommensten entsprechen. So selten, wie
der Zufall ihres Zusammentreffens, ist die eigentlich leidenschaftliche Liebe.
Weil inzwischen die Möglichkeit einer solchen in Jedem vorhanden ist, sind uns
die Darstellungen derselben in den Dichterwerken verständlich. – Eben weil die
verliebte Leidenschaft sich eigentlich um das zu Erzeugende und dessen
Eigenschaften dreht und hier ihr Kern liegt, kann zwischen zwei jungen und
wohlgebildeten Leuten verschiedenen Geschlechts, vermöge der Uebereinstimmung
ihrer Gesinnung, ihres Charakters, ihrer Geistesrichtung, Freundschaft bestehn,
ohne daß Geschlechtsliebe sich einmischte; ja sogar kann in dieser Hinsicht
eine gewisse Abneigung zwischen ihnen vorhanden seyn. Der Grund hievon ist
darin zu suchen, daß ein von ihnen erzeugtes Kind körperlich oder geistig
disharmonirende Eigenschaften haben, kurz, seine Existenz und Beschaffenheit
den Zwecken des Willens zum Leben, wie er sich in der Gattung darstellt, nicht
entsprechen würde. Im entgegengesetzten Fall kann, bei Heterogeneität der
Gesinnung, des Charakters und der Geistesrichtung, und bei der daraus
hervorgehenden Abneigung, ja Feindsäligkeit, doch die Geschlechtsliebe
aufkommen und bestehn; wo sie dann über jenes Alles verblendet: verleitet sie
hier zur Ehe, so wird es eine sehr unglückliche. –
Jetzt zur gründlicheren Untersuchung der Sache. – Der
Egoismus ist eine so tief wurzelnde Eigenschaft aller Individualität überhaupt,
daß, um die Thätigkeit eines individuellen Wesens zu erregen, egoistische
Zwecke die einzigen sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann. Zwar hat
die Gattung auf das[629] Individuum ein früheres, näheres und größeres Recht,
als die hinfällige Individualität selbst: jedoch kann, wann das Individuum für
den Bestand und die Beschaffenheit der Gattung thätig seyn und sogar Opfer
bringen soll, seinem Intellekt, als welcher bloß auf individuelle Zwecke
berechnet ist, die Wichtigkeit der Angelegenheit nicht so faßlich gemacht
werden, daß sie derselben gemäß wirkte. Daher kann, in solchem Fall, die Natur
ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem Individuo einen gewissen Wahn
einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in
Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während
es sich selber zu dienen wähnt; bei welchem Hergang eine bloße, gleich darauf
verschwindende Chimäre ihm vorschwebt und als Motiv die Stelle einer Wirklichkeit
vertritt. Dieser Wahn ist der Instinkt. Derselbe ist, in den allermeisten
Fällen, anzusehn als der Sinn der Gattung, welcher das ihr Frommende dem Willen
darstellt. Weil aber der Wille hier individuell geworden; so muß er dergestalt
getäuscht werden, daß er Das, was der Sinn der Gattung ihm vorhält, durch den
Sinn des Individui wahrnimmt, also individuellen Zwecken nachzugehn wähnt,
während er in Wahrheit bloß generelle (dies Wort hier im eigentlichsten Sinn
genommen) verfolgt. Die äußere Erscheinung des Instinkts beobachten wir am
besten an den Thieren, als wo seine Rolle am bedeutendesten ist; aber den
innern Hergang dabei können wir, wie alles Innere, allein an uns selbst kennen
lernen. Nun meint man zwar, der Mensch habe fast gar keinen Instinkt,
allenfalls bloß den, daß das Neugeborene die Mutterbrust sucht und ergreift.
Aber in der That haben wir einen sehr bestimmten, deutlichen, ja komplicirten
Instinkt, nämlich den der so feinen, ernstlichen und eigensinnigen Auswahl des
andern Individuums zur Geschlechtsbefriedigung. Mit dieser Befriedigung an sich
selbst, d.h. sofern sie ein auf dringendem Bedürfniß des Individuums beruhender
sinnlicher Genuß ist, hat die Schönheit oder Häßlichkeit des andern Individuums
gar nichts zu schaffen. Die dennoch so eifrig verfolgte Rücksicht auf diese,
nebst der daraus entspringenden sorgsamen Auswahl, bezieht sich also offenbar
nicht auf den Wählenden selbst, obschon er es wähnt, sondern auf den wahren
Zweck, auf das zu Erzeugende, als in welchem der Typus der Gattung möglichst
rein und richtig erhalten werden soll. Nämlich[630] durch tausend physische
Zufälle und moralische Widerwärtigkeiten entstehn gar vielerlei Ausartungen der
menschlichen Gestalt: dennoch wird der ächte Typus derselben, in allen seinen
Theilen, immer wieder hergestellt; welches geschieht unter der Leitung des
Schönheitssinnes, der durchgängig dem Geschlechtstriebe vorsteht, und ohne
welchen dieser zum ekelhaften Bedürfniß herabsinkt. Demgemäß wird Jeder,
erstlich, die schönsten Individuen, d.h. solche, in welchen der
Gattungscharakter am reinsten ausgeprägt ist, entschieden vorziehn und heftig
begehren; zweitens aber wird er am andern Individuo besonders die
Vollkommenheiten verlangen, welche ihm selbst abgehn, ja sogar die
Unvollkommenheiten, welche das Gegentheil seiner eigenen sind, schön finden:
daher suchen z.B. kleine Männer große Frauen, die Blonden lieben die Schwarzen
u.s.w. – Das schwindelnde Entzücken, welches den Mann beim Anblick eines Weibes
von ihm angemessener Schönheit ergreift und ihm die Vereinigung mit ihr als das
höchste Gut vorspiegelt, ist eben der Sinn der Gattung, welcher den deutlich
ausgedrückten Stämpel derselben erkennend, sie mit diesem perpetuiren möchte.
Auf diesem entschiedenen Hange zur Schönheit beruht die Erhaltung des Typus der
Gattung: daher wirkt derselbe mit so großer Macht. Wir werden die Rücksichten,
welche er befolgt, weiter unten speciell betrachten. Was also den Menschen
hiebei leitet, ist wirklich ein Instinkt, der auf das Beste der Gattung
gerichtet ist, während der Mensch selbst bloß den erhöhten eigenen Genuß zu
suchen wähnt. – In der That haben wir hieran einen lehrreichen Aufschluß über
das innere Wesen alles Instinkts, als welcher fast durchgängig, wie hier, das
Individuum für das Wohl der Gattung in Bewegung setzt. Denn offenbar ist die
Sorgfalt, mit der ein Insekt eine bestimmte Blume, oder Frucht, oder Mist, oder
Fleisch, oder, wie die Ichneumonien, eine fremde Insektenlarve aufsucht, um
seine Eier nur dort zu legen, und um dieses zu erreichen weder Mühe noch Gefahr
scheut, derjenigen sehr analog, mit welcher ein Mann zur
Geschlechtsbefriedigung ein Weib von bestimmter, ihm individuell zusagender
Beschaffenheit sorgsam auswählt und so eifrig nach ihr strebt, daß er oft, um
diesen Zweck zu erreichen, aller Vernunft zum Trotz, sein eigenes Lebensglück
opfert, durch thörichte Heirath, durch Liebeshändel, die ihm Vermögen, Ehre und
Leben kosten, selbst durch Verbrechen,[631] wie Ehebruch, oder Nothzucht; Alles
nur, um, dem überall souveränen Willen der Natur gemäß, der Gattung auf das
Zweckmäßigste zu dienen, wenn gleich auf Kosten des Individuums. Ueberall
nämlich ist der Instinkt ein Wirken wie nach einem Zweckbegriff, und doch ganz
ohne denselben. Die Natur pflanzt ihn da ein, wo das handelnde Individuum den
Zweck zu verstehn unfähig, oder ihn zu verfolgen unwillig seyn würde: daher ist
er, in der Regel, nur den Thieren, und zwar vorzüglich den untersten, als
welche den wenigsten Verstand haben, beigegeben, aber fast allein in dem hier
betrachteten Fall auch dem Menschen, als welcher den Zweck zwar verstehn
könnte, ihn aber nicht mit dem nöthigen Eifer, nämlich sogar auf Kosten seines
individuellen Wohls, verfolgen würde. Also nimmt hier, wie bei allem Instinkt,
die Wahrheit die Gestalt des Wahnes an, um auf den Willen zu wirken. Ein
wollüstiger Wahn ist es, der dem Manne vorgaukelt, er werde in den Armen eines
Weibes von der ihm zusagenden Schönheit einen größern Genuß finden, als in
denen eines jeden andern; oder der gar, ausschließlich auf ein einziges
Individuum gerichtet, ihn fest überzeugt, daß dessen Besitz ihm ein
überschwängliches Glück gewähren werde. Demnach wähnt er, für seinen eigenen
Genuß Mühe und Opfer zu verwenden, während es bloß für die Erhaltung des
regelrechten Typus der Gattung geschieht, oder gar eine ganz bestimmte
Individualität, die nur von diesen Eltern kommen kann, zum Daseyn gelangen
soll. So völlig ist hier der Charakter des Instinkts, also ein Handeln wie nach
einem Zweckbegriff und doch ganz ohne denselben, vorhanden, daß der von jenem
Wahn Getriebene den Zweck, welcher allein ihn leitet, die Zeugung, oft sogar
verabscheut und verhindern möchte: nämlich bei fast allen unehelichen
Liebschaften. Dem dargelegten Charakter der Sache gemäß wird, nach dem endlich
erlangten Genuß, jeder Verliebte eine wundersame Enttäuschung erfahren, und
darüber erstaunen, daß das so sehnsuchtsvoll Begehrte nichts mehr leistet, als
jede andere Geschlechtsbefriedigung; so daß er sich nicht sehr dadurch
gefördert sieht. Jener Wunsch nämlich verhielt sich zu allen seinen übrigen
Wünschen, wie sich die Gattung verhält zum Individuo, also wie ein Unendliches
zu einem Endlichen. Die Befriedigung hingegen kommt eigentlich nur der Gattung
zu Gute und fällt deshalb nicht in das Bewußtseyn des Individuums, welches
hier, vom Willen der Gattung beseelt, mit jeglicher[632] Aufopferung, einem
Zwecke diente, der gar nicht sein eigener war. Daher also findet jeder
Verliebte, nach endlicher Vollbringung des großen Werkes, sich angeführt: denn
der Wahn ist verschwunden, mittelst dessen hier das Individuum der Betrogene
der Gattung war. Demgemäß sagt Plato sehr treffend: hêdonê hapantôn
alazonestaton (voluptas omnium maxime vaniloqua). Phileb 319.
Dies Alles aber wirft seinerseits wieder Licht zurück auf
die Instinkte und Kunsttriebe der Thiere. Ohne Zweifel sind auch diese von
einer Art Wahn, der ihnen den eigenen Genuß vorgaukelt, befangen, während sie
so emsig und mit Selbstverleugnung für die Gattung arbeiten, der Vogel sein
Nest baut, das Insekt den allein passenden Ort für die Eier sucht, oder gar
Jagd auf Raub macht, der, ihm selber ungenießbar, als Futter für die künftigen
Larven neben die Eier gelegt werden muß, die Biene, die Wespe, die Ameise ihrem
künstlichen Bau und ihrer höchst komplicirten Oekonomie obliegen. Sie Alle
leitet sicherlich ein Wahn, welcher dem Dienste der Gattung die Maske eines
egoistischen Zweckes vorsteckt. Um uns den innern oder subjektiven Vorgang, der
den Aeußerungen des Instinkts zum Grunde liegt, faßlich zu machen, ist dies
wahrscheinlich der einzige Weg. Aeußerlich aber, oder objektiv, stellt sich
uns, bei den vom Instinkt stark beherrschten Thieren, namentlich den Insekten,
ein Ueberwiegen des Ganglien- d.i. des subjektiven Nervensystems über das
objektive oder Cerebral-System dar; woraus zu schließen ist, daß sie nicht
sowohl von der objektiven, richtigen Auffassung, als von subjektiven, Wunsch
erregenden Vorstellungen, welche durch die Einwirkung des Gangliensystems auf
das Gehirn entstehn, und demzufolge von einem gewissen Wahn getrieben werden:
und dies wird der physiologische Hergang bei allem Instinkt seyn. – Zur
Erläuterung erwähne ich noch, als ein anderes, wiewohl schwächeres Beispiel vom
Instinkt im Menschen, den kapriziösen Appetit der Schwangeren: er scheint
daraus zu entspringen, daß die Ernährung des Embryo bisweilen eine besondere
oder bestimmte Modifikation des ihm zufließenden Blutes verlangt; worauf die
solche bewirkende Speise sich sofort der Schwangeren als Gegenstand heißer
Sehnsucht darstellt, also auch hier ein Wahn entsteht. Demnach hat das Weib
einen Instinkt mehr als der Mann: auch ist das Gangliensystem beim Weibe viel
entwickelter. – Aus[633] dem großen Uebergewicht des Gehirns beim Menschen
erklärt sich, daß er wenigere Instinkte hat, als die Thiere, und daß selbst
diese wenigen leicht irre geleitet werden können. Nämlich der die Auswahl zur
Geschlechtsbefriedigung instinktiv leitende Schönheitssinn wird irre geführt,
wenn er in Hang zur Päderastie ausartet; Dem analog, wie die Schmeißfliege
(Musca vomitoria), statt ihre Eier, ihrem Instinkt gemäß, in faulendes Fleisch
zu legen, sie in die Blüthe des Arum dracunculus legt, verleitet durch den
kadaverosen Geruch dieser Pflanze.
Daß nun aller Geschlechtsliebe ein durchaus auf das zu
Erzeugende gerichteter Instinkt zum Grunde liegt, wird seine volle Gewißheit
durch genauere Zergliederung desselben erhalten, der wir uns deshalb nicht
entziehn können. – Zuvörderst gehört hieher, daß der Mann von Natur zur
Unbeständigkeit in der Liebe, das Weib zur Beständigkeit geneigt ist. Die Liebe
des Mannes sinkt merklich, von dem Augenblick an, wo sie Befriedigung erhalten
hat: fast jedes andere Weib reizt ihn mehr als das, welches er schon besitzt:
er sehnt sich nach Abwechselung. Die Liebe des Weibes hingegen steigt von eben
jenem Augenblick an. Dies ist eine Folge des Zwecks der Natur, welche auf
Erhaltung und daher auf möglichst starke Vermehrung der Gattung gerichtet ist.
Der Mann nämlich kann, bequem, über hundert Kinder im Jahre zeugen, wenn ihm
eben so viele Weiber zu Gebote stehn; das Weib hingegen könnte, mit noch so
vielen Männern, doch nur ein Kind im Jahr (von Zwillingsgeburten abgesehn) zur
Welt bringen. Daher sieht er sich stets nach andern Weibern um; sie hingegen
hängt fest dem Einen an: denn die Natur treibt sie, instinktmäßig und ohne
Reflexion, sich den Ernährer und Beschützer der künftigen Brut zu erhalten.
Demzufolge ist die eheliche Treue dem Manne künstlich, dem Weibe natürlich, und
also Ehebruch des Weibes, wie objektiv, wegen der Folgen, so auch subjektiv,
wegen der Naturwidrigkeit, viel unverzeihlicher als der des Mannes.
Aber um gründlich zu seyn und die volle Ueberzeugung zu
gewinnen, daß das Wohlgefallen am andern Geschlecht, so objektiv es uns dünken
mag, doch bloß verlarvter Instinkt, d.i. Sinn der Gattung, welche ihren Typus
zu erhalten strebt, ist, müssen wir sogar die bei diesem Wohlgefallen uns
leitenden Rücksichten näher untersuchen und auf das Specielle derselben[634]
eingehn, so seltsam auch die hier zu erwähnenden Specialitäten in einem philosophischen
Werke figuriren mögen. Diese Rücksichten zerfallen in solche, welche
unmittelbar den Typus der Gattung, d.i. die Schönheit, betreffen, in solche,
welche auf psychische Eigenschaften gerichtet sind, und endlich in bloß
relative, welche aus der erforderten Korrektion oder Neutralisation der
Einseitigkeiten und Abnormitäten der beiden Individuen durch einander
hervorgehn. Wir wollen sie einzeln durchgehn.
Die oberste, unsere Wahl und Neigung leitende Rücksicht ist
das Alter. Im Ganzen lassen wir es gelten von den Jahren der eintretenden bis
zu denen der aufhörenden Menstruation, geben jedoch der Periode vom achtzehnten
bis achtundzwanzigsten Jahre entschieden den Vorzug. Außerhalb jener Jahre
hingegen kann kein Weib uns reizen: ein altes, d.h. nicht mehr menstruirtes
Weib erregt unsern Abscheu, Jugend ohne Schönheit hat immer noch Reiz;
Schönheit ohne Jugend keinen. – Offenbar ist die hiebei uns unbewußt leitende
Absicht die Möglichkeit der Zeugung überhaupt: daher verliert jedes Individuum
an Reiz für das andere Geschlecht in dem Maaße, als es sich von der zur Zeugung
oder zur Empfängniß tauglichsten Periode entfernt. – Die zweite Rücksicht ist
die der Gesundheit: akute Krankheiten stören nur vorübergehend, chronische,
oder gar Kachexien, schrecken ab; – weil sie auf das Kind übergehn. – Die
dritte Rücksicht ist das Skelett: weil es die Grundlage des Typus der Gattung
ist. Nächst Alter und Krankheit stößt nichts uns so sehr ab, wie eine
verwachsene Gestalt: sogar das schönste Gesicht kann nicht dafür entschädigen;
vielmehr wird selbst das häßlichste, bei geradem Wüchse, unbedingt vorgezogen.
Ferner empfinden wir jedes Mißverhältniß des Skeletts am stärksten, z.B. eine
verkürzte, gestauchte, kurzbeinige Figur u. dgl. m., auch hinkenden Gang, wo er
nicht Folge eines äußern Zufalls ist. Hingegen kann ein auffallend schöner
Wuchs alle Mängel ersetzen: er bezaubert uns. Hieher gehört auch der hohe
Werth, den Alle auf die Kleinheit der Füße legen: er beruht darauf, daß diese
ein wesentlicher Charakter der Gattung sind, indem kein Thier Tarsus und
Metatarsus zusammengenommen so klein hat, wie der Mensch, welches mit dem
aufrechten Gange zusammenhängt: er ist ein Plantigrade. Demgemäß sagt auch
Jesus Sirach (26, 23: nach der[635] verbesserten Uebersetzung von Kraus): »Ein
Weib, das gerade gebaut ist und schöne Füße hat, ist wie die goldenen Säulen
auf den silbernen Stühlen.« Auch die Zähne sind uns wichtig; weil sie für die
Ernährung wesentlich und ganz besonders erblich sind. – Die vierte Rücksicht
ist eine gewisse Fülle des Fleisches, also ein Vorherrschen der vegetativen
Funktion, der Plasticität; weil diese dem Fötus reichliche Nahrung verspricht:
daher stößt große Magerkeit uns auffallend ab. Ein voller weiblicher Busen übt
einen ungemeinen Reiz auf das männliche Geschlecht aus: weil er, mit den
Propagationsfunktionen des Weibes in direktem Zusammenhange stehend, dem
Neugeborenen reichliche Nahrung verspricht. Hingegen erregen übermäßig fette
Weiber unsern Widerwillen: die Ursache ist, daß diese Beschaffenheit auf
Atrophie des Uterus, also auf Unfruchtbarkeit deutet; welches nicht der Kopf,
aber der Instinkt weiß. – Erst die letzte Rücksicht ist die auf die Schönheit
des Gesichts. Auch hier kommen vor Allem die Knochentheile in Betracht; daher
hauptsächlich auf eine schöne Nase gesehn wird, und eine kurze, aufgestülpte
Nase Alles verdirbt. Ueber das Lebensglück unzähliger Mädchen hat eine kleine
Biegung der Nase, nach unten oder nach oben, entschieden, und mit Recht: denn
es gilt den Typus der Gattung. Ein kleiner Mund, mittelst kleiner Maxillen, ist
sehr wesentlich, als specifischer Charakter des Menschenantlitzes, im Gegensatz
der Thiermäuler. Ein zurückliegendes, gleichsam weggeschnittenes Kinn ist
besonders widerlich; weil mentum prominulum ein ausschließlicher Charakterzug
unserer Species ist. Endlich kommt die Rücksicht auf schöne Augen und Stirn:
sie hängt mit den psychischen Eigenschaften zusammen, zumal mit den
intellektuellen, welche von der Mutter erben.
Die unbewußten Rücksichten, welche andererseits die Neigung
der Weiber befolgt, können wir natürlich nicht so genau angeben. Im Ganzen läßt
sich Folgendes behaupten. Sie geben dem Alter von 30 bis 35 Jahren den Vorzug,
namentlich auch vor dem der Jünglinge, die doch eigentlich die höchste
menschliche Schönheit darbieten. Der Grund ist, daß sie nicht vom Geschmack,
sondern vom Instinkt geleitet werden, welcher im besagten Alter die Akme der
Zeugungskraft erkennt. Ueberhaupt sehn sie wenig auf Schönheit, namentlich
des[636] Gesichts: es ist als ob sie diese dem Kinde zu geben allein auf sich
nähmen. Hauptsächlich gewinnt sie die Kraft und der damit zusammenhängende Muth
des Mannes: denn diese versprechen die Zeugung kräftiger Kinder und zugleich
einen tapfern Beschützer derselben. Jeden körperlichen Fehler des Mannes, jede
Abweichung vom Typus, kann, in Hinsicht auf das Kind, das Weib bei der Zeugung
aufheben, dadurch daß sie selbst in den nämlichen Stücken untadelhaft ist, oder
gar auf der entgegengesetzten Seite excedirt. Hievon ausgenommen sind allein die
Eigenschaften des Mannes, welche seinem Geschlecht eigenthümlich sind und
welche daher die Mutter dem Kinde nicht geben kann: dahin gehört der männliche
Bau des Skeletts, breite Schultern, schmale Hüften, gerade Beine, Muskelkraft,
Muth, Bart u.s.w. Daher kommt es, daß Weiber oft häßliche Männer lieben, aber
nie einen unmännlichen Mann: weil sie dessen Mängel nicht neutralisiren können.
Die zweite Art der Rücksichten, welche der Geschlechtsliebe
zum Grunde liegen, ist die auf die psychischen Eigenschaften. Hier werden wir
finden, daß das Weib durchgängig von den Eigenschaften des Herzens oder
Charakters im Manne angezogen wird, – als welche vom Vater erben. Vorzüglich
ist es Festigkeit des Willens, Entschlossenheit und Muth, vielleicht auch
Redlichkeit und Herzensgüte, wodurch das Weib gewonnen wird. Hingegen üben
intellektuelle Vorzüge keine direkte und instinktmäßige Gewalt über sie aus;
eben weil sie nicht vom Vater erben. Unverstand schadet bei Weibern nicht: eher
noch könnte überwiegende Geisteskraft, oder gar Genie, als eine Abnormität,
ungünstig wirken. Daher sieht man oft einen häßlichen, dummen und rohen
Menschen einen wohlgebildeten, geistreichen und liebenswürdigen Mann bei
Weibern ausstechen. Auch werden Ehen aus Liebe bisweilen geschlossen zwischen
geistig höchst heterogenen Wesen: z.B. er roh, kräftig und beschränkt, sie
zartempfindend, fein denkend, gebildet, ästhetisch u.s.w.; oder er gar genial
und gelehrt, sie eine Gans:
Sic visum Veneri;
cui placet impares
Formas atque
animos sub juga aënea
Saevo mittere cum
joco.[637]
Der Grund ist, daß hier ganz andere Rücksichten vorwalten,
als die intellektuellen: – die des Instinkts. Bei der Ehe ist es nicht auf
geistreiche Unterhaltung, sondern auf die Erzeugung der Kinder abgesehn: sie
ist ein Bund der Herzen, nicht der Köpfe. Es ist ein eiteles und lächerliches
Vorgeben, wenn Weiber behaupten, in den Geist eines Mannes sich verliebt zu
haben, oder es ist die Ueberspannung eines entarteten Wesens. – Männer hingegen
werden in der instinktiven Liebe nicht durch die Charakter-Eigenschaften des
Weibes bestimmt; daher so viele Sokratesse ihre Xanthippen gefunden haben, z.B.
Shakespeare, Albrecht Dürer, Byron u. s. w. Wohl aber wirken hier die
intellektuellen Eigenschaften ein; weil sie von der Mutter erben: jedoch wird
ihr Einfluß von dem der körperlichen Schönheit, als welche, wesentlichere
Punkte betreffend, unmittelbarer wirkt, leicht überwogen. Inzwischen geschieht
es, im Gefühl oder nach der Erfahrung jenes Einflusses, daß Mütter ihre Töchter
schöne Künste, Sprachen u. dgl. erlernen lassen, um sie für Männer anziehend zu
machen; wobei sie dem Intellekt durch künstliche Mittel nachhelfen wollen, eben
wie vorkommenden Falls den Hüften und Busen. – Wohl zu merken, daß hier überall
die Rede allein ist von der ganz unmittelbaren, instinktartigen Anziehung, aus
welcher allein die eigentliche Verliebtheit erwächst. Daß ein verständiges und
gebildetes Weib, Verstand und Geist an einem Manne schätzt, daß ein Mann, aus
vernünftiger Ueberlegung, den Charakter seiner Braut prüft und berücksichtigt,
thut nichts zu der Sache, wovon es sich hier handelt: dergleichen begründet
eine vernünftige Wahl bei der Ehe, aber nicht die leidenschaftliche Liebe,
welche unser Thema ist.
Bis hieher habe ich bloß die absoluten Rücksichten, d.h.
solche, die für Jeden gelten, in Betracht genommen: ich komme jetzt zu den
relativen, welche individuell sind; weil bei ihnen es darauf abgesehn ist, den
bereits sich mangelhaft darstellenden Typus der Gattung zu rektificiren, die
Abweichungen von demselben, welche die eigene Person des Wählenden schon an
sich trägt, zu korrigiren und so zur reinen Darstellung des Typus
zurückzuführen. Hier liebt daher[638] Jeder, was ihm abgeht. Von der
individuellen Beschaffenheit ausgehend und auf die individuelle Beschaffenheit
gerichtet, ist die auf solchen relativen Rücksichten beruhende Wahl viel
bestimmter, entschiedener und exklusiver, als die bloß von den absoluten
ausgehende; daher der Ursprung der eigentlich leidenschaftlichen Liebe, in der
Regel, in diesen relativen Rücksichten liegen wird, und nur der der
gewöhnlichen, leichteren Neigung in den absoluten. Demgemäß pflegen es nicht
gerade die regelmäßigen, vollkommenen Schönheiten zu seyn, welche die großen
Leidenschaften entzünden. Damit eine solche wirklich leidenschaftliche Neigung
entstehe, ist etwas erfordert, welches sich nur durch eine chemische Metapher
ausdrücken läßt: beide Personen müssen einander neutralisiren, wie Säure und
Alkali zu einem Mittelsalz. Die hiezu erforderlichen Bestimmungen sind im
Wesentlichen folgende. Erstlich: alle Geschlechtlichkeit ist Einseitigkeit.
Diese Einseitigkeit ist in Einem Individuo entschiedener ausgesprochen und in
höherm Grade vorhanden, als im Andern: daher kann sie in jedem Individuo besser
durch Eines als das Andere vom andern Geschlecht ergänzt und neutralisirt
werden, indem es einer der seinigen individuell entgegengesetzten Einseitigkeit
bedarf, zur Ergänzung des Typus der Menschheit im neu zu erzeugenden Individuo,
als auf dessen Beschaffenheit immer Alles hinausläuft. Die Physiologen wissen,
daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade zulassen, durch welche jene bis
zum widerlichen Gynander und Hypospad[i]äus sinkt, diese bis zur anmuthigen
Androgyne steigt: von beiden Seiten aus kann der vollkommene Hermaphroditismus
erreicht werden, auf welchem Individuen stehn, welche, die gerade Mitte
zwischen beiden Geschlechtern haltend, keinem beizuzählen, folglich zur
Fortpflanzung untauglich sind. Zur in Rede stehenden Neutralisation zweier
Individualitäten durch einander ist dem zu Folge erfordert, daß der bestimmte
Grad seiner Mannheit dem bestimmten Grad ihrer Weiblichkeit genau entspreche;
damit beide Einseitigkeiten einander gerade aufheben. Demnach wird der
männlichste Mann das weiblichste Weib suchen und vice versa, und eben so jedes Individuum
das ihm im Grade der Geschlechtlichkeit entsprechende. Inwiefern nun hierin
zwischen Zweien das erforderliche Verhältniß Statt habe, wird instinktmäßig von
ihnen gefühlt, und liegt, nebst den andern relativen Rücksichten, den[639]
höhern Graden der Verliebtheit zum Grunde. Während daher die Liebenden
pathetisch von der Harmonie ihrer Seelen reden, ist meistens die hier
nachgewiesene, das zu erzeugende Wesen und seine Vollkommenheit betreffende
Zusammenstimmung der Kern der Sache, und an derselben auch offenbar viel mehr
gelegen, als an der Harmonie ihrer Seelen, – welche oft, nicht lange nach der
Hochzeit, sich in eine schreiende Disharmonie auflöst. Hieran schließen sich
nun die ferneren relativen Rücksichten, welche darauf beruhen, daß Jedes seine
Schwächen, Mängel und Abweichungen vom Typus durch das Andere aufzuheben
trachtet, damit sie nicht im zu erzeugenden Kinde sich perpetuiren, oder gar zu
völligen Abnormitäten anwachsen. Je schwächer in Hinsicht auf Muskelkraft ein
Mann ist, desto mehr wird erkräftige Weiber suchen: eben so das Weib
ihrerseits. Da nun aber dem Weibe eine schwächere Muskelkraft naturgemäß und in
der Regel ist; so werden auch in der Regel die Weiber den kräftigeren Männern
den Vorzug geben. – Ferner ist eine wichtige Rücksicht die Größe. Kleine Männer
haben einen entschiedenen Hang zu großen Weibern, und vice versa: und zwar wird
in einem kleinen Manne die Vorliebe für große Weiber um so leidenschaftlicher
seyn, als er selbst von einem großen Vater gezeugt und nur durch den Einfluß
der Mutter klein geblieben ist; weil er vom Vater das Gefäßsystem und die
Energie desselben, die einen großen Körper mit Blut zu versehn vermag,
überkommen hat: waren hingegen sein Vater und Großvater schon klein; so wird
jener Hang sich weniger fühlbar machen. Der Abneigung eines großen Weibes gegen
große Männer liegt die Absicht der Natur zum Grunde, eine zu große Rasse zu
vermeiden, wenn sie, mit den von diesem Weibe zu ertheilenden Kräften, zu
schwach ausfallen würde, um lange zu leben. Wählt dennoch ein solches Weib
einen großen Gatten, etwan um sich in der Gesellschaft besser zu präsentiren;
so wird, in der Regel, die Nachkommenschaft die Thorheit büßen. – Sehr
entschieden ist ferner die Rücksicht auf die Komplexion. Blonde verlangen
durchaus Schwarze oder Braune; aber nur selten diese jene. Der Grund hievon
ist, daß blondes Haar und blaue Augen schon eine Spielart, fast eine Abnormität
ausmachen: den weißen Mäusen, oder wenigstens den Schimmeln analog. In keinem
andern Welttheil sind sie, selbst nicht in der Nähe der Pole, einheimisch,
sondern allein in Europa, und[640] offenbar von Skandinavien ausgegangen.
Beiläufig sei hier meine Meinung ausgesprochen, daß dem Menschen die weiße
Hautfarbe nicht natürlich ist, sondern er von Natur schwarze, oder braune Haut
hat, wie unsere Stammväter die Hindu; daß folglich nie ein weißer Mensch
ursprünglich aus dem Schooße der Natur hervorgegangen ist, und es also keine
weiße Rasse giebt, so viel auch von ihr geredet wird, sondern jeder weiße
Mensch ein abgeblichener ist. In den ihm fremden Norden gedrängt, wo er nur so
besteht, wie die exotischen Pflanzen, und, wie diese, im Winter des Treibhauses
bedarf, wurde der Mensch, im Laufe der Jahrtausende, weiß. Die Zigeuner, ein
Indischer, erst seit ungefähr vier Jahrhunderten eingewanderter Stamm, zeigen
den Uebergang von der Komplexion der Hindu zur unserigen64. In der
Geschlechtsliebe strebt daher die Natur zum dunkeln Haar und braunen Auge, als
zum Urtypus, zurück: die weiße Hautfarbe aber ist zur zweiten Natur geworden;
wiewohl nicht so, daß die braune der Hindu uns abstieße. – Endlich sucht auch
in den einzelnen Körpertheilen Jedes das Korrektiv seiner Mängel und
Abweichungen, und um so entschiedener, je wichtiger der Theil ist. Daher haben
stumpfnäsige Individuen ein unaussprechliches Wohlgefallen an Habichtsnasen, an
Papagaiengesichtern: eben so ist es rücksichtlich aller übrigen Theile.
Menschen von übermäßig schlankem, lang gestreckten Körper- und Gliederbau
können sogar einen über die Gebühr gedrungenen und verkürzten schön finden. –
Analog walten die Rücksichten auf das Temperament: Jeder wird das
entgegengesetzte vorziehn; jedoch nur in dem Maaß als das seinige ein
entschiedenes ist. – Wer selbst, in irgend einer Rücksicht, sehr vollkommen
ist, sucht und liebt zwar nicht die Unvollkommenheit in eben dieser Rücksicht,
söhnt sich aber leichter als Andere damit aus; weil er selbst die Kinder vor
großer Unvollkommenheit in diesem Stücke sichert. Z.B. wer selbst sehr weiß
ist, wird sich an einer gelblichen Gesichtsfarbe nicht stoßen: wer aber diese
hat, wird die blendende Weiße göttlich schön finden. – Der seltene Fall, daß
ein Mann sich in ein entschieden häßliches Weib verliebt, tritt ein, wann, bei
der oben erörterten genauen Harmonie des Grades der Geschlechtlichkeit, ihre
sämmtlichen Abnormitäten gerade die entgegengesetzten, also das Korrektiv, der
seinigen[641] sind. Die Verliebtheit pflegt alsdann einen hohen Grad zu
erreichen.
Der tiefe Ernst, mit welchem wir jeden Körpertheil des
Weibes prüfend betrachten, und sie ihrerseits das Selbe thut, die kritische
Skrupulosität, mit der wir ein Weib, das uns zu gefallen anfängt, mustern, der
Eigensinn unserer Wahl, die gespannte Aufmerksamkeit, womit der Bräutigam die
Braut beobachtet, seine Behutsamkeit, um in keinem Theile getäuscht zu werden,
und der große Werth, den er auf jedes Mehr oder Weniger, in den wesentlichen
Theilen, legt, – Alles dieses ist der Wichtigkeit des Zweckes ganz angemessen.
Denn das Neuzuerzeugende wird, ein ganzes Leben hindurch, einen ähnlichen Theil
zu tragen haben: ist z.B. das Weib nur ein wenig schief; so kann dies leicht
ihrem Sohn einen Puckel aufladen, und so in allem Uebrigen. – Bewußtseyn von
dem Allen ist freilich nicht vorhanden; vielmehr wähnt Jeder nur im Interesse
seiner eigenen Wollust (die im Grunde gar nicht dabei betheiligt seyn kann)
jene schwierige Wahl zu treffen; aber er trifft sie genau so, wie es, unter
Voraussetzung seiner eigenen Korporisation, dem Interesse der Gattung gemäß
ist, deren Typus möglichst rein zu erhalten die geheime Aufgabe ist. Das
Individuum handelt hier, ohne es zu wissen, im Auftrage eines Höheren, der
Gattung: daher die Wichtigkeit, welche es Dingen beilegt, die ihm, als solchem,
gleichgültig seyn könnten, ja müßten. – Es liegt etwas ganz Eigenes in dem
tiefen, unbewußten Ernst, mit welchem zwei junge Leute verschiedenen
Geschlechts, die sich zum ersten Male sehn, einander betrachten; dem
forschenden und durchdringenden Blick, den sie auf einander werfen; der
sorgfältigen Musterung, die alle Züge und Theile ihrer beiderseitigen Personen
zu erleiden haben. Dieses Forschen und Prüfen nämlich ist die Meditation des
Genius der Gattung über das durch sie Beide mögliche Individuum und die
Kombination seiner Eigenschaften. Nach dem Resultat derselben fällt der Grad
ihres Wohlgefallens an einander und ihres Begehrens nach einander aus. Dieses
kann, nachdem es schon einen bedeutenden Grad erreicht hatte, plötzlich wieder
erlöschen, durch die Entdeckung von Etwas, das vorhin unbemerkt geblieben war.
– Dergestalt also meditirt in Allen, die zeugungsfähig sind, der Genius der
Gattung das kommende Geschlecht. Die Beschaffenheit desselben ist das große
Werk, womit Kupido, unablässig thätig, spekulirend[642] und sinnend,
beschäftigt ist. Gegen die Wichtigkeit seiner großen Angelegenheit, als welche
die Gattung und alle kommenden Geschlechter betrifft, sind die Angelegenheiten
der Individuen, in ihrer ganzen ephemeren Gesammtheit, sehr geringfügig: daher
ist er stets bereit, diese rücksichtslos zu opfern. Denn er verhält sich zu
ihnen wie ein Unsterblicher zu Sterblichen, und seine Interessen zu den ihren
wie unendliche zu endlichen. Im Bewußtsein also, Angelegenheiten höherer Art,
als alle solche, welche nur individuelles Wohl und Wehe betreffen, zu
verwalten, betreibt er dieselben, mit erhabener Ungestörtheit, mitten im
Getümmel des Krieges, oder im Gewühl des Geschäftslebens, oder zwischen dem
Wüthen einer Pest, und geht ihnen nach bis in die Abgeschiedenheit des
Klosters.
Wir haben im Obigen gesehn, daß die Intensität der
Verliebtheit mit ihrer Individualisirung wächst, indem wir nachwiesen, wie die
körperliche Beschaffenheit zweier Individuen eine solche seyn kann, daß, zum
Behuf möglichster Herstellung des Typus der Gattung, das eine die ganz
specielle und vollkommene Ergänzung des andern ist, welches daher seiner
ausschließlich begehrt. In diesem Fall tritt schon eine bedeutende Leidenschaft
ein, welche eben dadurch, daß sie auf einen einzigen Gegenstand und nur auf
diesen gerichtet ist, also gleichsam im speciellen Auftrag der Gattung
auftritt, sogleich einen edleren und erhabeneren Anstrich gewinnt. Aus dem
entgegengesetzten Grunde ist der bloße Geschlechtstrieb, weil er, ohne
Individualisirung, auf Alle gerichtet ist und die Gattung bloß der Quantität
nach, mit wenig Rücksicht auf die Qualität, zu erhalten strebt, gemein. Nun
aber kann die Individualisirung, und mit ihr die Intensität der Verliebtheit,
einen so hohen Grad erreichen, daß, ohne ihre Befriedigung, alle Güter der
Welt, ja, das Leben selbst seinen Werth verliert. Sie ist alsdann ein Wunsch,
welcher zu einer Heftigkeit anwächst, wie durchaus kein anderer, daher zu jedem
Opfer bereit macht und, im Fall die Erfüllung unabänderlich versagt bleibt, zum
Wahnsinn, oder zum Selbstmord führen kann. Die einer solchen überschwänglichen
Leidenschaft zum Grunde liegenden unbewußten Rücksichten müssen, außer den oben
nachgewiesenen, noch andere seyn, welche wir nicht so vor Augen haben. Wir
müssen daher annehmen, daß hier nicht nur die Korporisation, sondern auch der
Wille des Mannes und der Intellekt des Weibes eine specielle Angemessenheit
zu[643] einander haben, in Folge welcher von ihnen allein ein ganz bestimmtes
Individuum erzeugt werden kann, dessen Existenz der Genius der Gattung hier
beabsichtigt, aus Gründen, die, als im Wesen des Dinges an sich liegend, uns
unzugänglich sind. Oder, eigentlich zu reden: der Wille zum Leben verlangt
hier, sich in einem genau bestimmten Individuo zu objektiviren, welches nur von
diesem Vater mit dieser Mutter gezeugt werden kann. Dieses metaphysische Begehr
des Willens an sich hat zunächst keine andere Wirkungssphäre in der Reihe der
Wesen, als die Herzen der künftigen Eltern, welche demnach von diesem Drange
ergriffen werden und nun ihrer selbst wegen zu wünschen wähnen, was bloß einen
für jetzt noch rein metaphysischen, d.h. außerhalb der Reihe wirklich
vorhandener Dinge liegenden Zweck hat. Also der aus der Urquelle aller Wesen
hervorgehende Drang des künftigen, hier erst möglich gewordenen Individuums,
ins Daseyn zu treten, ist es, was sich in der Erscheinung darstellt als die
hohe, Alles außer sich gering achtende Leidenschaft der künftigen Eltern für
einander, in der That als ein Wahn ohne Gleichen, vermöge dessen ein solcher
Verliebter alle Güter der Welt hingeben würde, für den Beischlaf mit diesem
Weibe, – der ihm doch in Wahrheit nicht mehr leistet, als jeder andere. Daß es
dennoch bloß hierauf abgesehn sei, geht daraus hervor, daß auch diese hohe
Leidenschaft, so gut wie jede andere, im Genuß erlischt, – zur großen Verwunderung
der Theilnehmer. Sie erlischt auch dann, wann, durch etwanige Unfruchtbarkeit
des Weibes (welche, nach Hufeland, aus 19 zufälligen Konstitutionsfehlern
entspringen kann), der eigentliche metaphysische Zweck vereitelt wird; eben so,
wie er es täglich wird in Millionen zertretener Keime, in denen doch auch das
selbe metaphysische Lebensprincip zum Daseyn strebt; wobei kein anderer Trost
ist, als daß dem Willen zum Leben eine Unendlichkeit von Raum, Zeit, Materie
und folglich unerschöpfliche Gelegenheit zur Wiederkehr offen steht.
Dem Theophrastus Paracelsus, der dieses Thema nicht
behandelt hat und dem mein ganzer Gedankengang fremd ist, muß doch ein Mal die
hier dargelegte Einsicht, wenn auch nur flüchtig, vorgeschwebt haben, indem er,
in ganz anderm Kontext und in seiner desultorischen Manier, folgende
merkwürdige Aeußerung hinschrieb: Hi sunt, quos Deus copulavit, ut eam, quae
fuit Uriae et David; quamvis ex diametro (sic[644] enim sibi humana mens
persuadebat) cum justo et legitimo matrimonio pugnaret hoc. – – – sed propter
Salomonem, qui aliunde nasci non potuit, nisi ex Bathsebea, conjuncto David
semine, quamvis meretrice, conjunxit eos Deus (De vita longa, I, 5).
Die Sehnsucht der Liebe, der himeros, welchen in zahllosen
Wendungen auszudrücken die Dichter aller Zeiten unablässig beschäftigt sind und
den Gegenstand nicht erschöpfen, ja, ihm nicht genug thun können, diese
Sehnsucht, welche an den Besitz eines bestimmten Weibes die Vorstellung einer
unendlichen Säligkeit knüpft und einen unaussprechlichen Schmerz an den
Gedanken, daß er nicht zu erlangen sei, – diese Sehnsucht und dieser Schmerz
der Liebe können nicht ihren Stoff entnehmen aus den Bedürfnissen eines
ephemeren Individuums; sondern sie sind der Seufzer des Geistes der Gattung,
welcher hier ein unersetzliches Mittel zu seinen Zwecken zu gewinnen, oder zu
verlieren sieht und daher tief aufstöhnt. Die Gattung allein hat unendliches
Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unendlicher Befriedigung und
unendlicher Schmerzen fähig. Diese aber sind hier in der engen Brust eines
Sterblichen eingekerkert: kein Wunder daher, wenn eine solche bersten zu wollen
scheint und keinen Ausdruck finden kann für die sie erfüllende Ahndung
unendlicher Wonne oder unendlichen Wehes. Dies also giebt den Stoff zu aller
erotischen Poesie erhabener Gattung, die sich demgemäß in transscendente, alles
Irdische überfliegende Metaphern versteigt. Dies ist das Thema des Petrarka,
der Stoff zu den St. Preuxs, Werthern und Jacopo Ortis, die außerdem nicht zu
verstehn, noch zu erklären seyn würden. Denn auf etwanigen geistigen, überhaupt
auf objektiven, realen Vorzügen der Geliebten kann jene unendliche
Werthschätzung derselben nicht beruhen; schon weil sie dazu dem Liebenden oft
nicht genau genug bekannt ist; wie dies Petrarka's Fall war. Der Geist der
Gattung allein vermag mit Einem Blicke zu sehn, welchen Werth sie[645] für ihn,
zu seinen Zwecken hat. Auch entstehn die großen Leidenschaften in der Regel
beim ersten Anblick:
Whoever
lov'd, that lov'd not at first sight?65
Shakespeare,
As you like it, III, 5.
Merkwürdig
ist in dieser Hinsicht eine Stelle in dem seit 250 Jahren berühmten Roman
Guzman de Alfarache, von Mateo Aleman: No es necessario, para que uno ame, que
pase distancia de tiempo, que siga discurso, ni haga eleccion, sino que con
aquella primera y sola vista, concurran juntamente cierta correspondencia ó
consonancia, ó lo que acá solemos vulgarmente decir, una confrontacion de
sangre, à que por particular influxo suelen mover las estrellas. (Damit
Einer liebe, ist es nicht nöthig, daß viel Zeit verstreiche, daß er Ueberlegung
anstelle und eine Wahl treffe; sondern nur, daß bei jenem ersten und alleinigen
Anblick eine gewisse Angemessenheit und Uebereinstimmung gegenseitig
zusammentreffe, oder Das, was wir hier im gemeinen Leben eine Sympathie des
Blutes zu nennen pflegen, und wozu ein besonderer Einfluß der Gestirne
anzutreiben pflegt.) P. II, L. III, c. 5. Demgemäß ist auch der Verlust der
Geliebten, durch einen Nebenbuhler, oder durch den Tod, für den leidenschaftlich
Liebenden ein Schmerz, der jeden andern übersteigt; eben weil er
transscendenter Art ist, indem er ihn nicht bloß als Individuum trifft, sondern
ihn in seiner essentia aeterna, im Leben der Gattung angreift, in deren
speciellem Willen und Auftrage er hier berufen war. Daher ist Eifersucht so
quaalvoll und so grimmig, und ist die Abtretung der Geliebten das größte aller
Opfer. – Ein Held schämt sich aller Klagen, nur nicht der Liebesklagen; weil in
diesen nicht er, sondern die Gattung winselt. – In der »großen Zenobia« des
Calderon ist im zweiten Akt eine Scene zwischen der Zenobia und dem Decius, wo
dieser sagt:
Cielos, luego tu
me quieres?
Perdiera cien mil
victorias,
Volviérame,
etc.66[646]
Hier wird die Ehre, welche bisher jedes Interesse überwog,
aus dem Felde geschlagen, sobald die Geschlechtsliebe, d.i. das Interesse der
Gattung, ins Spiel kommt und einen entschiedenen Vortheil vor sich sieht: denn
dieses ist gegen jedes, auch noch so wichtige Interesse bloßer Individuen
unendlich überwiegend. Ihm allein weichen daher Ehre, Pflicht und Treue,
nachdem sie jeder andern Versuchung, selbst der Drohung des Todes, widerstanden
haben. – Eben so finden wir im Privatleben, daß in keinem Punkte
Gewissenhaftigkeit so selten ist, wie in diesem: sie wird hier bisweilen sogar
von sonst redlichen und gerechten Leuten bei Seite gesetzt, und der Ehebruch
rücksichtslos begangen, wann die leidenschaftliche Liebe, d.h. das Interesse
der Gattung, sich ihrer bemächtigt hat. Es scheint sogar, als ob sie dabei einer
höheren Berechtigung sich bewußt zu seyn glaubten, als die Interessen der
Individuen je verleihen können; eben weil sie im Interesse der Gattung handeln.
Merkwürdig ist in dieser Hinsicht
Chamfort's Aeußerung: Quand un homme et une femme ont l'un pour l'autre une
passion violente, il me semble toujours que, quelque[s] soient les obstacles
qui les séparent, un mari, des parens etc., les deux amans sont l'un à l'autre,
de par la Nature, qu'ils s'appartiennent de droit divin, malgré les lois et les
conventions humaines.. Wer sich hierüber ereifern wollte, wäre auf die
auffallende Nachsicht zu verweisen, welche der Heiland im Evangelio der
Ehebrecherin widerfahren läßt, indem er zugleich die selbe Schuld bei allen
Anwesenden voraussetzt. – Der größte Theil des Dekameron erscheint, von diesem
Gesichtspunkt aus, als bloßer Spott und Hohn des Genius der Gattung über die
von ihm mit Füßen getretenen Rechte und Interessen der Individuen, – Mit
gleicher Leichtigkeit werden Standesunterschiede und alle ähnlichen Verhältnisse,
wann sie der Verbindung leidenschaftlich Liebender entgegenstehn, beseitigt und
für nichtig erklärt vom Genius der Gattung, der seine, endlosen Generationen
angehörenden Zwecke verfolgend solche Menschensatzungen und[647] Bedenken wie
Spreu wegbläst. Aus dem selben tief liegenden Grunde wird, wo es die Zwecke
verliebter Leidenschaft gilt, jede Gefahr willig übernommen und selbst der
sonst Zaghafte wird hier muthig. – Auch im Schauspiele und im Roman sehn wir,
mit freudigem Antheil, die jungen Leute, welche ihre Liebeshändel, d.i. das
Interesse der Gattung, verfechten, den Sieg davontragen über die Alten, welche
nur auf das Wohl der Individuen bedacht sind. Denn das Streben der Liebenden
scheint uns um so viel wichtiger, erhabener und deshalb gerechter, als jedes
ihm etwan entgegenstehende, wie die Gattung bedeutender ist, als das
Individuum. Demgemäß ist das Grundthema fast aller Komödien das Auftreten des
Genius der Gattung mit seinen Zwecken, welche dem persönlichen Interesse der
dargestellten Individuen zuwiderlaufen und daher das Glück derselben zu
untergraben drohen. In der Regel setzt er es durch, welches, als der poetischen
Gerechtigkeit gemäß, den Zuschauer befriedigt; weil dieser fühlt, daß die
Zwecke der Gattung denen der Individuen weit vorgehn. Daher verläßt er, am
Schluß, die sieggekrönten Liebenden ganz getrost, indem er mit ihnen den Wahn
theilt, sie hätten ihr eigenes Glück gegründet, welches sie vielmehr dem Wohl
der Gattung zum Opfer gebracht haben, dem Willen der vorsorglichen Alten
entgegen. In einzelnen, abnormen Lustspielen hat man versucht, die Sache
umzukehren und das Glück der Individuen, auf Kosten der Zwecke der Gattung,
durchzusetzen: allein da empfindet der Zuschauer den Schmerz, den der Genius
der Gattung erleidet, und wird durch die dadurch gesicherten Vortheile der
Individuen nicht getröstet. Als Beispiele dieser Art fallen mir ein Paar sehr
bekannte kleine Stücke bei: La reine de 16 ans, und Le mariage de raison. In
Trauerspielen mit Liebeshändeln gehn meistens, indem die Zwecke der Gattung
vereitelt werden, die Liebenden, welche deren Werkzeug waren, zugleich unter:
z.B. in Romeo und Julia, Tankred, Don Karlos, Wallenstein, Braut von Messina
u.a.m.
Das Verliebtseyn eines Menschen liefert oft komische,
mitunter auch tragische Phänomene; Beides, weil er, vom Geiste der Gattung in
Besitz genommen, jetzt von diesem beherrscht wird und nicht mehr sich selber
angehört: dadurch wird sein Handeln dem Individuo unangemessen. Was, bei den
höhern Graden des Verliebtseyns, seinen Gedanken einen so poetischen und
erhabenen Anstrich, sogar eine transscendente und hyperphysische[648] Richtung
giebt, vermöge welcher er seinen eigentlichen, sehr physischen Zweck ganz aus
den Augen zu verlieren scheint, ist im Grunde Dieses, daß er jetzt vom Geiste
der Gattung, dessen Angelegenheiten unendlich wichtiger, als alle, bloße
Individuen betreffenden sind, beseelt ist, um, in dessen speciellem Auftrag,
die ganze Existenz einer indefinit langen Nachkommenschaft, von dieser
individuell und genau bestimmten Beschaffenheit, welche sie ganz allein von ihm
als Vater und seiner Geliebten als Mutter erhalten kann, zu begründen, und die
außerdem, als eine solche, nie zum Daseyn gelangt, während die Objektivation
des Willens zum Leben dieses Daseyn ausdrücklich erfordert. Das Gefühl, in
Angelegenheiten von so transscendenter Wichtigkeit zu handeln, ist es, was den
Verliebten so hoch über alles Irdische, ja über sich selbst emporhebt und
seinen sehr physischen Wünschen eine so hyperphysische Einkleidung giebt, daß
die Liebe eine poetische Episode sogar im Leben des prosaischesten Menschen
wird; in welchem letzteren Fall die Sache bisweilen einen komischen Anstrich
gewinnt. – Jener Auftrag des in der Gattung sich objektivirenden Willens
stellt, im Bewußtseyn des Verliebten, sich dar unter der Maske der Anticipation
einer unendlichen Säligkeit, welche für ihn in der Vereinigung mit diesem
weiblichen Individuo zu finden wäre. In den höchsten Graden der Verliebtheit
wird nun diese Chimäre so strahlend, daß, wenn sie nicht erlangt werden kann,
das Leben selbst allen Reiz verliert und nunmehr so freudenleer, schaal und
ungenießbar erscheint, daß der Ekel davor sogar die Schrecken des Todes
überwindet; daher es dann bisweilen freiwillig abgekürzt wird. Der Wille eines
solchen Menschen ist in den Strudel des Willens der Gattung gerathen, oder
dieser hat so sehr das Uebergewicht über den individuellen Willen erhalten,
daß, wenn solcher in ersterer Eigenschaft nicht wirksam seyn kann, er
verschmäht, es in letzterer zu seyn. Das Individuum ist hier ein zu schwaches
Gefäß, als daß es die, auf ein bestimmtes Objekt koncentrirte, unendliche
Sehnsucht des Willens der Gattung ertragen könnte. In diesem Fall ist daher der
Ausgang Selbstmord, bisweilen doppelter Selbstmord beider Liebenden; es sei
denn, daß die Natur, zur Rettung des Lebens, Wahnsinn eintreten ließe, welcher
dann mit seinem Schleier das Bewußtseyn jenes hoffnungslosen Zustandes umhüllt.
– Kein Jahr geht hin, ohne durch mehrere Fälle aller dieser Arten die Realität des
Dargestellten zu belegen.[649]
Aber nicht allein hat die unbefriedigte verliebte
Leidenschaft bisweilen einen tragischen Ausgang, sondern auch die befriedigte
führt öfter zum Unglück, als zum Glück. Denn ihre Anforderungen kollidiren oft
so sehr mit der persönlichen Wohlfahrt des Betheiligten, daß sie solche
untergraben, indem sie mit seinen übrigen Verhältnissen unvereinbar sind und
den darauf gebauten Lebensplan zerstören. Ja, nicht allein mit den äußern
Verhältnissen ist die Liebe oft im Widerspruch, sondern sogar mit der eigenen
Individualität, indem sie sich auf Personen wirft, welche, abgesehn vom
Geschlechtsverhältniß, dem Liebenden verhaßt, verächtlich, ja zum Abscheu seyn
würden. Aber so sehr viel mächtiger ist der Wille der Gattung als der des
Individuums, daß der Liebende über alle jene ihm widerlichen Eigenschaften die
Augen schließt. Alles übersieht, Alles verkennt und sich mit dem Gegenstande
seiner Leidenschaft auf immer verbindet: so gänzlich verblendet ihn jener Wahn,
welcher, sobald der Wille der Gattung erfüllt ist, verschwindet und eine
verhaßte Lebensgefährtin übrig läßt. Nur hieraus ist es erklärlich, daß wir oft
sehr vernünftige, ja ausgezeichnete Männer mit Drachen und Eheteufeln verbunden
sehn, und nicht begreifen, wie sie eine solche Wahl haben treffen können. Dieserhalb
stellten die Alten den Amor blind dar. Ja, ein Verliebter kann sogar die
unerträglichen Temperaments- und Charakterfehler seiner Braut, welche ihm ein
gequältes Leben verheißen, deutlich erkennen und bitter empfinden, und doch
nicht abgeschreckt werden:
I ask not,
I care not,
If guilt's
in thy heart;
I know that
I love thee,
Whatever
thou art67.
Denn im Grunde sucht er nicht seine Sache, sondern die eines
Dritten, der erst entstehn soll; wiewohl ihn der Wahn umfängt, als wäre was er
sucht seine Sache. Aber gerade dieses Nicht seine-Sache-suchen, welches überall
der Stämpel der Größe[650] ist, giebt auch der leidenschaftlichen Liebe den
Anstrich des Erhabenen und macht sie zum würdigen Gegenstande der Dichtung. –
Endlich verträgt sich die Geschlechtsliebe sogar mit dem äußersten Haß gegen
ihren Gegenstand; daher schon Plato sie der Liebe der Wölfe zu den Schaafen
verglichen hat. Dieser Fall tritt nämlich ein, wann ein leidenschaftlich
Liebender, trotz allem Bemühen und Flehen, unter keiner Bedingung Erhörung
finden kann:
I love and
hate her68.
Shakespeare,
Cymb., III, 5.
Der Haß gegen die Geliebte, welcher sich dann entzündet,
geht bisweilen so weit, daß er sie ermordet und darauf sich selbst. Ein Paar
Beispiele dieser Art pflegen sich jährlich zu ereignen: man wird sie in den
Englischen und Französischen Zeitungen finden. Ganz richtig ist daher der
Goethe'sche Vers:
Bei aller verschmähten Liebe! beim höllischen Elemente!
Ich wollt', ich wüßt' was ärger's, daß ich's fluchen könnte!
Es ist wirklich keine Hyperbel, wenn ein Liebender die Kälte
der Geliebten und die Freude ihrer Eitelkeit, die sich an seinem Leiden weidet,
als Grausamkeit bezeichnet. Denn er steht unter dem Einfluß eines Triebes, der,
dem Instinkt der Insekten verwandt, ihn zwingt, allen Gründen der Vernunft zum
Trotz, seinen Zweck unbedingt zu verfolgen, und alles Andere hintanzusetzen: er
kann nicht davon lassen. Nicht Einen, sondern schon manchen Petrarka hat es
gegeben, der unerfüllten Liebesdrang, wie eine Fessel, wie einen Eisenblock am
Fuß, sein Leben hindurch schleppen mußte und in einsamen Wäldern seine Seufzer
aushauchte; aber nur dem einen Petrarka wohnte zugleich die Dichtergabe ein; so
daß von ihm Goethes schöner Vers gilt:[651]
Und wenn der Mensch in seiner Quaal verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.
In der That führt der Genius der Gattung durchgängig Krieg
mit den schützenden Genien der Individuen, ist ihr Verfolger und Feind, stets
bereit das persönliche Glück schonungslos zu zerstören, um seine Zwecke
durchzusetzen; ja, das Wohl ganzer Nationen ist bisweilen das Opfer seiner
Launen geworden: ein Beispiel dieser Art führt uns Shakespeare vor in Heinrich
VI., Th. 3, A. 3, Sc. 2 und 3. Dies Alles beruht darauf, daß die Gattung, als
in welcher die Wurzel unsers Wesens liegt, ein näheres und früheres Recht auf
uns hat, als das Individuum; daher ihre Angelegenheiten vorgehn. Im Gefühl
hievon haben die Alten den Genius der Gattung im Kupido personificirt, einem,
seines kindischen Aussehns ungeachtet, feindsäligen, grausamen und daher
verschrienen Gott, einem kapriziösen, despotischen Dämon, aber dennoch Herrn
der Götter und Menschen:
sy d'ô theôn tyranne k'anthrôpôn, Erôs!
(Tu, deorum
hominumque tyranne, Amor!)
Mörderisches Geschoß, Blindheit und Flügel sind seine
Attribute. Die letzteren deuten auf den Unbestand: dieser tritt, in der Regel,
erst mit der Enttäuschung ein, welche die Folge der Befriedigung ist.
Weil nämlich die Leidenschaft auf einem Wahn beruhte, der
Das, was nur für die Gattung Werth hat, vorspiegelte als für das Individuum
werthvoll, muß, nach erlangtem Zwecke der Gattung, die Täuschung verschwinden.
Der Geist der Gattung, welcher das Individuum in Besitz genommen hatte, läßt es
wieder frei. Von ihm verlassen fällt es zurück in seine ursprüngliche
Beschränkung und Armuth, und sieht mit Verwunderung, daß nach so hohem,
heroischen und unendlichen Streben, für seinen Genuß nichts abgefallen ist, als
was jede Geschlechtsbefriedigung leistet: es findet sich, wider Erwarten, nicht
glücklicher als zuvor. Es merkt, daß es der Betrogene des Willens der Gattung
gewesen ist. Daher wird, in der Regel, ein beglückter Theseus seine[652]
Ariadne verlassen. Wäre Petrarka's Leidenschaft befriedigt worden; so wäre, von
Dem an, sein Gesang verstummt, wie der des Vogels, sobald die Eier gelegt sind.
Hier sei es beiläufig bemerkt, daß, so sehr auch meine
Metaphysik der Liebe gerade den in dieser Leidenschaft Verstrickten mißfallen
wird, dennoch, wenn gegen dieselbe Vernunftbetrachtungen überhaupt etwas
vermöchten, die von mir aufgedeckte Grundwahrheit, vor allem Andern, zur
Ueberwältigung derselben befähigen müßte. Allein es wird wohl beim Ausspruch
des alten Komikers bleiben: Quae res in se neque consilium, neque modum habet
ullum, eam consilio regere non potes.
Ehen aus Liebe werden im Interesse der Gattung, nicht der
Individuen, geschlossen. Zwar wähnen die Betheiligten ihr eigenes Glück zu
fördern: allein ihr wirklicher Zweck ist ein ihnen selbst fremder, indem er in
der Hervorbringung eines nur durch sie möglichen Individuums liegt. Durch
diesen Zweck zusammengeführt sollen sie fortan suchen, so gut als möglich mit
einander auszukommen. Aber sehr oft wird das durch jenen instinktiven Wahn,
welcher das Wesen der leidenschaftlichen Liebe ist, zusammengebrachte Paar im
Uebrigen von der heterogensten Beschaffenheit seyn. Dies kommt an den Tag, wann
der Wahn, wie er nothwendig muß, verschwindet. Demgemäß fallen die aus Liebe
geschlossenen Ehen in der Regel unglücklich aus: denn durch sie wird für die
kommende Generation auf Kosten der gegenwärtigen gesorgt. Quien se casa por
amores, ha de vivir con dolores (Wer aus Liebe heirathet, hat unter Schmerzen
zu leben) sagt das Spanische Sprichwort. – Umgekehrt verhält es sich mit den
aus Konvenienz meistens nach Wahl der Eltern, geschlossenen Ehen. Die hier
waltenden Rücksichten, welcher Art sie auch seyn mögen, sind wenigstens reale,
die nicht von selbst verschwinden können. Durch sie wird für das Glück der
Vorhandenen, aber freilich zum Nachtheil der Kommenden, gesorgt; und jenes
bleibt doch problematisch. Der Mann, welcher, bei seiner Verheirathung, auf
Geld, statt auf Befriedigung seiner Neigung sieht, lebt mehr im Individuo, als
in der Gattung; welches der Wahrheit gerade entgegengesetzt ist, daher es sich
als naturwidrig darstellt und eine gewisse Verachtung erregt. Ein Mädchen,
welches, dem Rath seiner Eltern entgegen,[653] den Antrag eines reichen und
nicht alten Mannes ausschlägt, um, mit Hintansetzung aller Konvenienzrücksichten,
allein nach seinem instinktiven Hange zu wählen, bringt sein individuelles Wohl
dem der Gattung zum Opfer. Aber eben deswegen kann man ihm einen gewissen
Beifall nicht versagen: denn es hat das Wichtigere vorgezogen und im Sinne der
Natur (näher, der Gattung) gehandelt; während die Eltern im Sinne des
individuellen Egoismus riechen. – Dem Allen zufolge gewinnt es den Anschein,
als müßte, bei Abschließung einer Ehe, entweder das Individuum oder das
Interesse der Gattung zu kurz kommen. Meistens steht es auch so: denn daß
Konvenienz und leidenschaftliche Liebe Hand in Hand giengen, ist der seltenste
Glücksfall. Die physisch, moralisch, oder intellektuell elende Beschaffenheit
der meisten Menschen mag zum Theil ihren Grund darin haben, daß die Ehen gewöhnlich
nicht aus reiner Wahl und Neigung, sondern aus allerlei äußern Rücksichten und
nach zufälligen Umständen geschlossen werden. Wird jedoch neben der Konvenienz
auch die Neigung in gewissem Grade berücksichtigt; so ist dies gleichsam eine
Abfindung mit dem Genius der Gattung. Glückliche Ehen sind bekanntlich selten;
eben weil es im Wesen der Ehe liegt, daß ihr Hauptzweck: nicht die
gegenwärtige, sondern die kommende Generation ist. Indessen sei zum Tröste
zarter und liebender Gemüther noch hinzugefügt, daß bisweilen der
leidenschaftlichen Geschlechtsliebe sich ein Gefühl ganz andern Ursprungs
zugesellt, nämlich wirkliche, auf Uebereinstimmung der Gesinnung gegründete
Freundschaft, welche jedoch meistens erst dann hervortritt, wann die
eigentliche Geschlechtsliebe in der Befriedigung erloschen ist. Jene wird
alsdann meistens daraus entspringen, daß die einander ergänzenden und
entsprechenden physischen, moralischen und intellektuellen Eigenschaften beider
Individuen, aus welchen, in Rücksicht auf das zu Erzeugende, die
Geschlechtsliebe entstand, eben auch in Beziehung auf die Individuen selbst,
als entgegengesetzte Temperamentseigenschaften und geistige Vorzüge sich zu
einander ergänzend verhalten und dadurch eine Harmonie der Gemüther begründen.
–
Die ganze hier abgehandelte Metaphysik der Liebe steht mit
meiner Metaphysik überhaupt in genauer Verbindung, und das Licht, welches sie
auf diese zurückwirft, läßt sich in Folgendem resumiren.[654]
Es hat sich ergeben, daß die sorgfältige und durch unzählige
Stufen bis zur leidenschaftlichen Liebe steigende Auswahl bei der Befriedigung
des Geschlechtstriebes auf dem höchst ernsten Antheil beruht, welchen der
Mensch an der speciellen persönlichen Beschaffenheit des kommenden Geschlechts
nimmt. Dieser überaus merkwürdige Antheil nun bestätigt zwei in den
vorhergegangenen Kapiteln dargethane Wahrheiten: 1) Die Unzerstörbarkeit des
Wesens an sich des Menschen, als welches in jenem kommenden Geschlechte
fortlebt. Denn jener so lebhafte und eifrige, nicht aus Reflexion und Vorsatz,
sondern aus dem Innersten Zuge und Triebe unsers Wesens entspringende Antheil
könnte nicht so unvertilgbar vorhanden seyn und so große Macht über den
Menschen ausüben, wenn dieser absolut vergänglich wäre und ein von ihm wirklich
und durchaus verschiedenes Geschlecht bloß der Zeit nach auf ihn folgte. 2) Daß
sein Wesen an sich mehr in der Gattung als im Individuo liegt. Denn jenes
Interesse an der speciellen Beschaffenheit der Gattung, welches die Wurzel
aller Liebeshändel, von der flüchtigsten Neigung bis zur ernstlichsten
Leidenschaft, ausmacht, ist Jedem eigentlich die höchste Angelegenheit, nämlich
die, deren Gelingen oder Mißlingen ihn am empfindlichsten berührt; daher sie
vorzugsweise die Herzensangelegenheit genannt wird: auch wird diesem Interesse,
wann es sich stark und entschieden ausgesprochen hat, jedes bloß die eigene
Person betreffende nachgesetzt und nöthigenfalls aufgeopfert. Dadurch also
bezeugt der Mensch, daß ihm die Gattung näher liegt, als das Individuum, und er
unmittelbarer in Jener, als in Diesem lebt. – Warum demnach hängt der
Verliebte, mit gänzlicher Hingebung, an den Augen seiner Auserkorenen und ist
bereit, ihr jedes Opfer zu bringen? – Weil sein unsterblicher Theil es ist, der
nach ihr verlangt; nach allem Sonstigen immer nur der sterbliche. – Jenes
lebhafte, oder gar inbrünstige, auf ein bestimmtes Weib gerichtete Verlangen
ist sonach ein unmittelbares Unterpfand der Unzerstörbarkeit des Kerns unsers
Wesens und seines Fortbestandes in der Gattung. Diesen Fortbestand nun aber für
etwas Geringfügiges und Ungenügendes zu halten, ist ein Irrthum, der daraus
entspringt, daß man unter dem Fortleben der Gattung sich nichts weiter denkt,
als das künftige Daseyn uns ähnlicher, jedoch in keinem Betracht mit uns
identischer Wesen, und dies wieder, weil man, von der nach außen[655]
gerichteten Erkenntniß ausgehend, nur die äußere Gestalt der Gattung, wie wir
diese anschaulich auffassen, und nicht ihr inneres Wesen in Betracht zieht.
Dieses innere Wesen aber gerade ist es, was unserm eigenen Bewußtseyn, als
dessen Kern, zum Grunde liegt, daher sogar unmittelbarer, als dieses selbst ist
und, als Ding an sich, frei vom principio individuationis, eigentlich das Selbe
und Identische ist in allen Individuen, sie mögen neben, oder nach einander
daseyn. Dieses nun ist der Wille zum Leben, also gerade Das, was Leben und
Fortdauer so dringend verlangt. Dies eben bleibt demnach vom Tode verschont und
unangefochten. Aber auch: es kann es zu keinem bessern Zustande bringen, als
sein gegenwärtiger ist: mithin ist ihm, mit dem Leben, das beständige Leiden
und Sterben der Individuen gewiß. Von diesem es zu befreien, ist der Verneinung
des Willens zum Leben vorbehalten, als durch welche der individuelle Wille sich
vom Stamm der Gattung losreißt und jenes Daseyn in derselben aufgiebt. Für Das,
was er sodann ist, fehlt es uns an Begriffen, ja, an allen Datis zu solchen.
Wir können es nur bezeichnen als Dasjenige, welches die Freiheit hat, Wille zum
Leben zu seyn, oder nicht. Für den letztern Fall bezeichnet der Buddhaismus es
mit dem Worte Nirwana, dessen Etymologie in der Anmerkung zum Schlusse des 41.
Kapitels gegeben worden. Es ist der Punkt, welcher aller menschlichen
Erkenntniß, eben als solcher, auf immer unzugänglich bleibt. –
Wenn wir nun, vom Standpunkte dieser letzten Betrachtung
aus, in das Gewühl des Lebens hineinschauen, erblicken wir Alle mit der Noth
und Plage desselben beschäftigt, alle Kräfte anstrengend, die endlosen
Bedürfnisse zu befriedigen und das vielgestaltete Leiden abzuwehren, ohne
jedoch etwas Anderes dafür hoffen zu dürfen, als eben die Erhaltung dieses
geplagten, individuellen Daseyns, eine kurze Spanne Zeit hindurch. Dazwischen
aber, mitten in dem Getümmel, sehn wir die Blicke zweier Liebenden sich
sehnsüchtig begegnen; – jedoch warum so heimlich, furchtsam und verstohlen? –
Weil diese Liebenden die Verräther sind, welche heimlich danach trachten, die
ganze Noth und Plackerei zu perpetuiren, die sonst ein baldiges Ende erreichen
würde, welches sie vereiteln wollen, wie ihres Gleichen es früher vereitelt
haben. – Diese Betrachtung greift nun schon in das folgende Kapitel
hinüber.[656]
Anhang zum vorstehenden Kapitel.
Houtôs
anaidôs exekinêsas tode
to rhêma;
kai pou touto pheuxesthai dokeis;
Pepheuga; t' alêthes gar ischyron trephô.
»So schamlos hast du auszusprechen dich erkühnt
Ein solches Wort und glaubst der Strafe zu entgehn?«
– »Entgangen bin ich; denn die Wahrheit zeugt für mich.«
Soph.
Auf Seite 618 habe ich der Päderastie beiläufig erwähnt und
sie als einen irre geleiteten Instinkt bezeichnet. Dies schien mir, als ich die
zweite Auflage bearbeitete, genügend. Seitdem hat weiteres Nachdenken über
diese Verirrung mich in derselben ein merkwürdiges Problem, jedoch auch dessen
Lösung entdecken lassen. Diese setzt das vorstehende Kapitel voraus, wirft aber
auch wieder Licht auf dasselbe zurück, gehört also zur Vervollständigung, wie
zum Beleg der dort dargelegten Grundansicht.
An sich selbst betrachtet nämlich stellt die Päderastie sich
dar als eine nicht bloß widernatürliche, sondern auch im höchsten Grade
widerwärtige und Abscheu erregende Monstrosität, eine Handlung, auf welche
allein eine völlig perverse, verschrobene und entartete Menschennatur irgend
ein Mal hätte gerathen können, und die sich höchstens in ganz vereinzelten
Fällen wiederholt hätte. Wenden wir nun aber uns an die Erfahrung; so finden
wir das Gegentheil hievon: wir sehn nämlich dieses Laster, trotz seiner
Abscheulichkeit, zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt, völlig im
Schwange und in häufiger Ausübung. Allbekannt ist, daß dasselbe bei Griechen
und Römern allgemein verbreitet war, und ohne Scheu und Schaam öffentlich
eingestanden und getrieben wurde. Hievon zeugen alle alten Schriftsteller, mehr
als zur Genüge. Zumal sind die Dichter sammt und sonders voll davon: nicht ein
Mal der keusche Virgil ist auszunehmen (Ecl. 2). Sogar den Dichtern der Urzeit,
dem Orpheus (den deshalb die Mänaden zerrissen) und dem Thamyris, ja, den
Göttern selbst, wird es angedichtet. Ebenfalls reden die Philosophen viel mehr
von dieser, als von der Weiberliebe: besonders scheint Plato fast keine andere
zu kennen, und eben so die Stoiker, welche sie als des Weisen würdig erwähnen
(Stob.[657] ecl. eth., L. II, c. 7). Sogar dem Sokrates rühmt Plato, im
Symposion, es als eine beispiellose Heldenthat nach, daß er den, sich ihm dazu
anbietenden Alkibiades verschmäht habe. In Xenophons Memorabilien spricht
Sokrates von der Päderastie als einer untadelhaften, sogar lobenswerthen Sache.
(Stob. Flor., Vol. 1, p. 57.) Eben
so in den Memorabilien (Lib. I, cap. 3, § 8), woselbst Sokrates vor den
Gefahren der Liebe warnt, spricht er so ausschließlich von der Knabenliebe, daß
man denken sollte, es gäbe gar keine Weiber. Auch Aristoteles (Pol. II, 9)
spricht von der Päderastie als etwas Gewöhnlichem, ohne sie zu tadeln, führt
an, daß sie bei den Kelten in öffentlichen Ehren gestanden habe, und bei den
Kretern die Gesetze sie begünstigt hätten, als Mittel gegen Uebervölkerung,
erzählt (c. 10) die Männerliebschaft des Gesetzgebers Philolaos u.s.w. Cicero
sagt sogar: Apud Graecos opprobrio fuit adolescentibus, si amatores non
haberent. Für gelehrte Leser bedarf es hier überhaupt keiner Belege: sie
erinnern sich deren zu Hunderten: denn bei den Alten ist Alles voll davon. Aber
selbst bei den roheren Völkern, namentlich bei den Galliern, war das Laster
sehr im Schwange. Wenden wir uns nach Asien, so sehn wir alle Länder dieses
Welttheils, und zwar von den frühesten Zeiten an, bis zur gegenwärtigen herab,
von dem Laster erfüllt, und zwar ebenfalls ohne es sonderlich zu verhehlen:
Hindu und Chinesen nicht weniger, als die Islamitischen Völker, deren Dichter
wir ebenfalls viel mehr mit der Knaben-, als mit der Weiberliebe beschäftigt
finden; wie denn z.B. im Gulistan des Sadi das Buch »von der Liebe«
ausschließlich von jener redet. Auch den Hebräern war dies Laster nicht
unbekannt; da Altes und Neues Testament desselben als strafbar erwähnen. Im
Christlichen Europa endlich hat Religion, Gesetzgebung und öffentliche Meinung
ihm mit aller Macht entgegenarbeiten müssen: im Mittelalter stand überall
Todesstrafe darauf, in Frankreich noch im 16. Jahrhundert der Feuertod, und in
England wurde noch während des ersten Drittels dieses Jahrhunderts die
Todesstrafe dafür unnachläßlich vollzogen; jetzt ist es Deportation auf
Lebenszeit. So gewaltiger Maaßregeln also bedurfte es, um dem Laster Einhalt zu
thun; was denn zwar in bedeutendem Maaße gelungen ist, jedoch keineswegs bis
zur Ausrottung desselben; sondern es schleicht, unter dem[658] Schleier des
tiefsten Geheimnisses, allezeit und überall umher, in allen Ländern und unter
allen Ständen, und kommt, oft wo man es am wenigsten erwartet, plötzlich zu
Tage. Auch ist es in den früheren Jahrhunderten, trotz allen Todesstrafen,
nicht anders damit gewesen: dies bezeugen die Erwähnungen desselben und
Anspielungen darauf in den Schriften aus allen jenen Zeiten. – Wenn wir nun
alles Dieses uns vergegenwärtigen und wohl erwägen; so sehn wir die Päderastie
zu allen Zeiten und in allen Ländern auf eine Weise auftreten, die gar weit
entfernt ist von der, welche wir zuerst, als wir sie bloß an sich selbst
betrachteten, also a priori, vorausgesetzt hatten. Nämlich die gänzliche
Allgemeinheit und beharrliche Unausrottbarkeit der Sache beweist, daß sie
irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht; da sie nur aus diesem
Grunde jederzeit und überall unausbleiblich auftreten kann als ein Beleg zu dem
Naturam expellas furca, tamen usque recurret.
Dieser Folgerung können wir daher uns schlechterdings nicht
entziehn, wenn wir redlich verfahren wollen. Ueber diesen Thatbestand aber
hinwegzugehn und es beim Schelten und Schimpfen auf das Laster bewenden zu
lassen, wäre freilich leicht, ist jedoch nicht meine Art mit den Problemen
fertig zu werden; sondern, meinem angeborenen Beruf, überall der Wahrheit
nachzuforschen und den Dingen auf den Grund zu kommen, auch hier getreu,
erkenne ich zunächst das sich darstellende und zu erklärende Phänomen, nebst
der unvermeidlichen Folgerung daraus, an. Daß nun aber etwas so von Grund aus
Naturwidriges, ja, der Natur gerade in ihrem wichtigsten und angelegensten
Zweck Entgegentretendes aus der Natur selbst hervorgehn sollte, ist ein so
unerhörtes Paradoxon, daß dessen Erklärung sich als ein schweres Problem
darstellt, welches ich jedoch jetzt, durch Aufdeckung des ihm zum Grunde
liegenden Naturgeheimnisses lösen werde.
Zum Ausgangspunkt diene mir eine Stelle des Aristoteles in
Polit., VII, 16. – Daselbst setzt er auseinander, erstlich: daß zu junge Leute
schlechte, schwache, mangelhafte und klein bleibende[659] Kinder zeugen; und
weiterhin, daß das Selbe von den Erzeugnissen der zu alten gilt: ta gar tôn
presbyterôn ekgona, kathaper ta tôn neôterôn, atelê gignetai, kai tois sômasi,
kai tais dianoiais, ta de tôn gegêrakotôn asthenê (nam, ut juniorum, ita et
grandiorum natu foetus inchoatis atque imperfectis corporibus mentibusque
nascuntur: eorum vero, qui senio confecti sunt, suboles infirma et imbecilla
est). Was nun dieserhalb Aristoteles als Regel für den Einzelnen, das stellt
Stobäos als Gesetz für die Gemeinschaft auf, am Schlusse seiner Darlegung der
peripatetischen Philosophie (Ecl. eth., L. II, c. 7 in fine): pros tên rômên
tôn sômatôn kai teleiotêta dein mête neôterôn agan, mête presbyterôn tous
gamous poieisthai, atelê gar gignesthai, kat' amphoteras tas hêlikias, kai
teleiôs asthenê ta ekgona (oportet, corporum roboris et perfectionis causa, nec
juniores justo, nec seniores matrimonio jungi, quia circa utramque aetatem
proles fieret imbecillis et imperfecta). Aristoteles schreibt daher vor, daß,
wer 54 Jahre alt ist, keine Kinder mehr in die Welt setzen soll; wiewohl er den
Beischlaf noch immer, seiner Gesundheit, oder sonst einer Ursache halber,
ausüben mag. Wie Dies zu bewerkstelligen sei, sagt er nicht: seine Meinung geht
aber offenbar dahin, daß die in solchem Alter erzeugten Kinder durch Abortus
wegzuschaffen sind; da er diesen, wenige Zeilen vorher, anempfohlen hat. – Die
Natur nun ihrerseits kann die der Vorschrift des Aristoteles zum Grunde
liegende Thatsache nicht leugnen, aber auch nicht aufheben. Denn, ihrem
Grundsatz natura non facit saltus zufolge, konnte sie die Saamenabsonderung des
Mannes nicht plötzlich einstellen; sondern auch hier, wie bei jedem Absterben,
mußte eine allmälige Deterioration vorhergehn. Die Zeugung während dieser nun
aber würde schwache, stumpfe, sieche, elende und kurzlebende Menschen in die
Welt setzen. Ja, sie thut es nur zu oft: die in späterm Alter gezeugten Kinder
sterben meistens früh weg, erreichen wenigstens nie das hohe Alter, sind, mehr
oder weniger,[660] hinfällig, kränklich, schwach, und die von ihnen Erzeugten
sind von ähnlicher Beschaffenheit. Was hier von der Zeugung im deklinirenden
Alter gesagt ist, gilt eben so von der im unreifen. Nun aber liegt der Natur
nichts so sehr am Herzen, wie die Erhaltung der Species und ihres ächten Typus;
wozu wohlbeschaffene, tüchtige, kräftige Individuen das Mittel sind: nur solche
will sie. Ja, sie betrachtet und behandelt (wie Kapitel 41 gezeigt worden) im
Grunde die Individuen nur als Mittel; als Zweck bloß die Species. Demnach sehn
wir hier die Natur, in Folge ihrer eigenen Gesetze und Zwecke, auf einen
mißlichen Punkt gerathen und wirklich in der Bedrängniß. Auf gewaltsame und von
fremder Willkür abhängige Auskunftsmittel, wie das von Aristoteles angedeutete,
konnte sie, ihrem Wesen zufolge, unmöglich rechnen, und eben so wenig darauf,
daß die Menschen, durch Erfahrung belehrt, die Nachtheile zu früher und zu
später Zeugung erkennen und demgemäß ihre Gelüste zügeln würden, in Folge
vernünftiger, kalter Ueberlegung. Auf Beides also konnte, in einer so wichtigen
Sache, die Natur es nicht ankommen lassen. Jetzt blieb ihr nichts Anderes
übrig, als von zwei Uebeln das kleinere zu wählen. Zu diesem Zweck nun aber
mußte sie ihr beliebtes Werkzeug, den Instinkt, welcher, wie in vorstehendem
Kapitel gezeigt, das so wichtige Geschäft der Zeugung überall leitet und dabei
so seltsame Illusionen schafft, auch hier in ihr Interesse ziehn; welches nun
aber hier nur dadurch geschehn konnte, daß sie ihn irre leitete (lui donna le
change). Die Natur kennt nämlich nur das Physische, nicht das Moralische: sogar
ist zwischen ihr und der Moral entschiedener Antagonismus. Erhaltung des
Individui, besonders aber der Species, in möglichster Vollkommenheit, ist ihr
alleiniger Zweck. Zwar ist nun auch physisch die Päderastie den dazu verführten
Jünglingen nachtheilig; jedoch nicht in so hohem Grade, daß es nicht von zweien
Uebeln das kleinere wäre, welches sie demnach wählt, um dem sehr viel größern,
der Depravation der Species, schon von Weitem auszuweichen und so das bleibende
und zunehmende Unglück zu verhüten.
Dieser Vorsicht der Natur zufolge stellt, ungefähr in dem
von Aristoteles angegebenen Alter, in der Regel, eine päderastische Neigung
sich leise und allmälig ein, wird immer deutlicher und entschiedener, in dem
Maaße, wie die Fähigkeit, starke und gesunde Kinder zu zeugen, abnimmt. So
veranstaltet es die[661] Natur. Wohl zu merken jedoch, daß von diesem
eintretenden Hange bis zum Laster selbst noch ein sehr weiter Weg ist. Zwar
wenn, wie im alten Griechenland und Rom, oder zu allen Zeiten in Asien, ihm
kein Damm entgegengesetzt ist, kann er, vom Beispiel ermuthigt, leicht zum
Laster führen, welches dann, in Folge hievon, große Verbreitung erhält. In
Europa hingegen stehn demselben so überaus mächtige Motive der Religion, der
Moral, der Gesetze und der Ehre entgegen, daß fast Jeder schon vor dem bloßen
Gedanken zurückbebt, und wir demgemäß annehmen dürfen, daß unter etwan drei
Hundert, welche jenen Hang spüren, höchstens Einer so schwach und hirnlos seyn
wird, ihm nachzugeben; um so gewisser, als dieser Hang erst in dem Alter
eintritt, wo das Blut abgekühlt und der Geschlechtstrieb überhaupt gesunken
ist, und er andererseits an der gereiften Vernunft, an der durch Erfahrung
erlangten Umsicht und der vielfach geübten Festigkeit so starke Gegner findet,
daß nur eine von Haus aus schlechte Natur ihm unterliegen wird.
Inzwischen wird der Zweck, den die Natur dabei hat, dadurch
erreicht, daß jene Neigung Gleichgültigkeit gegen die Weiber mit sich führt,
welche mehr und mehr zunimmt, zur Abneigung wird und endlich bis zum
Widerwillen anwächst. Hierin erreicht die Natur ihren eigentlichen Zweck um so
sicherer, als, je mehr im Manne die Zeugungskraft abnimmt, desto entschiedener
ihre widernatürliche Richtung wird. – Diesem entsprechend finden wir die
Päderastie durchgängig als ein Laster alter Männer. Nur solche sind es, welche
dann und wann, zum öffentlichen Skandal, darauf betroffen werden. Dem
eigentlich männlichen Alter ist sie fremd, ja, unbegreiflich. Wenn ein Mal eine
Ausnahme hievon vorkommt; so glaube ich, daß es nur in Folge einer zufälligen
und vorzeitigen Depravation der Zeugungskraft seyn kann, welche nur schlechte
Zeugungen liefern könnte, denen vorzubeugen, die Natur sie ablenkt. Daher auch
richten die in großen Städten leider nicht seltenen Kinäden ihre Winke und
Anträge stets an ältere Herren, niemals an die im Alter der Kraft stehenden,
oder gar an junge Leute. Auch bei den Griechen, wo Beispiel und Gewohnheit hin
und wieder eine Ausnahme von dieser Regel herbeigeführt haben mag, finden wir
von den Schriftstellern, zumal den Philosophen, namentlich Plato und
Aristoteles, in der Regel, den Liebhaber ausdrücklich als ältlich dargestellt.
Insbesondere ist in[662] dieser Hinsicht eine Stelle des Plutarch
bemerkenswerth im Liber amatorius, c. 5: Ho paidikos erôs, opse gegonôs, kai
par' hôran tô biô, nothos kai skotios, exelaunei ton gnêsion erôta kai
presbyteron. (Puerorum amor, qui,
quum tarde in vita et intempestive, quasi spurius et occultus, exstitisset,
germanum et natu majorem amorem expellit.) Sogar unter den Göttern
finden wir nur die ältlichen, den Zeus und den Herakles, mit männlichen Geliebten
versehn, nicht den Mars, Apollo, Bakchus, Merkur. – Inzwischen kann im Orient
der in Folge der Polygamie entstehende Mangel an Weibern hin und wieder
gezwungene Ausnahmen zu dieser Regel veranlassen: eben so in noch neuen und
daher weiberlosen Kolonien, wie Kalifornien u.s.w. – Dem entsprechend nun
ferner, daß das unreife Sperma, eben so wohl wie das durch Alter depravirte,
nur schwache, schlechte und unglückliche Zeugungen liefern kann, ist, wie im
Alter, so auch in der Jugend eine erotische Neigung solcher Art zwischen
Jünglingen oft vorhanden, führt aber wohl nur höchst selten zum wirklichen
Laster, indem ihr, außer den oben genannten Motiven, die Unschuld, Reinheit,
Gewissenhaftigkeit und Verschämtheit des jugendlichen Alters entgegensteht.
Aus dieser Darstellung ergiebt sich, daß, während das in
Betracht genommene Laster den Zwecken der Natur, und zwar im Allerwichtigsten
und ihr Angelegensten, gerade entgegenzuarbeiten scheint, es in Wahrheit eben
diesen Zwecken, wiewohl nur mittelbar, dienen muß, als Abwendungsmittel
größerer Uebel. Es ist nämlich ein Phänomen der absterbenden und dann wieder
der unreifen Zeugungskraft, welche der Species Gefahr drohen: und wiewohl sie
alle Beide aus moralischen Gründen pausiren sollten; so war hierauf doch nicht
zu rechnen; da überhaupt die Natur das eigentlich Moralische bei ihrem Treiben
nicht in Anschlag bringt. Demnach griff die, in Folge ihrer eigenen Gesetze, in
die Enge getriebene Natur, mittelst Verkehrung des Instinkts, zu einem
Nothbehelf, einem Stratagem, ja, man möchte sagen, sie bauete sich eine
Eselsbrücke, um, wie oben dargelegt, von zweien Uebeln dem größern zu entgehn.
Sie hat nämlich den wichtigen Zweck im Auge, unglücklichen Zeugungen
vorzubeugen, welche allmälig die ganze Species depraviren könnten, und da ist
sie, wie wir gesehn haben, nicht[663] skrupulös in der Wahl der Mittel. Der
Geist, in welchem sie hier verfährt, ist der selbe, in welchem sie, wie oben,
Kapitel 27, angeführt, die Wespen antreibt, ihre Jungen zu erstechen: denn in
beiden Fällen greift sie zum Schlimmen, um Schlimmerem zu entgehn: sie führt
den Geschlechtstrieb irre, um seine verderblichsten Folgen zu vereiteln.
Meine Absicht bei dieser Darstellung ist zunächst die Lösung
des oben dargelegten auffallenden Problems gewesen; sodann aber auch die
Bestätigung meiner, im vorstehenden Kapitel ausgeführten Lehre, daß bei aller
Geschlechtsliebe der Instinkt die Zügel führt und Illusionen schafft, weil der
Natur das Interesse der Gattung allen andern vorgeht, und daß Dies sogar bei der
hier in Rede stehenden, widerwärtigen Verirrung und Ausartung des
Geschlechtstriebes gültig bleibt; indem auch hier, als letzter Grund, die
Zwecke der Gattung sich ergeben, wiewohl sie, in diesem Fall, bloß negativer
Art sind, indem die Natur dabei prophylaktisch verfährt. Diese Betrachtung
wirft daher auf meine gesammte Metaphysik der Geschlechtsliebe Licht zurück.
Ueberhaupt aber ist durch diese Darstellung eine bisher verborgene Wahrheit zu
Tage gebracht, welche, bei aller ihrer Seltsamkeit, doch neues Licht auf das
innere Wesen, den Geist und das Treiben der Natur wirft. Demgemäß hat es sich
dabei nicht um moralische Verwarnung gegen das Laster, sondern um das
Verständniß des Wesens der Sache gehandelt. Uebrigens ist der wahre, letzte,
tief metaphysische Grund der Verwerflichkeit der Päderastie dieser, daß,
während der Wille zum Leben sich darin bejaht, die Folge solcher Bejahung,
welche den Weg zur Erlösung offen hält, also die Erneuerung des Lebens,
gänzlich abgeschnitten ist. – Endlich habe ich auch, durch Darlegung dieser
paradoxen Gedanken, den durch das immer weitere Bekanntwerden meiner von ihnen
so sorgfältig verhehlten Philosophie jetzt sehr deconcertirten
Philosophieprofessoren eine kleine Wohlthat zufließen lassen wollen, indem ich
ihnen Gelegenheit eröffnete zu der Verläumdung, daß ich die Päderastie in
Schutz genommen und anempfohlen hätte.[664]
63
Ich habe mich hier nicht eigentlich ausdrücken dürfen: der
geneigte Leser hat daher die Phrase in eine Aristophanische Sprache zu
übersetzen.
64
Das Ausführlichere hierüber findet man in Parerga, Bd. 2, §
92 der ersten Auflage.
65
Wer liebte je, der nicht beim ersten Anblick liebte?
66
Himmel! also Du liebst mich?! Dafür würde ich hunderttausend
Siege aufgeben, würde umkehren, u.s.w.
67
Ich frag' nicht, ich sorg' nicht,
Ob Schuld in dir ist:
Ich lieb' dich, das weiß ich,
Was immer du bist.
68
Ich liebe und hasse sie.