Der Schatten: Da ich dich so lange nicht reden hörte, so möchte ich dir
eine Gelegenheit geben.
Der Wanderer: Es redet: - wo? und wer? Fast ist es
mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme als die
meine ist.
Der Schatten (nach einer Weile): Freut es dich
nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben?
Der Wanderer: Bei Gott und allen Dingen, an die
ich nicht glaube, mein Schatten redet; ich höre es, aber glaube es nicht.
Der Schatten: Nehmen wir es hin und denken wir
nicht weiter darüber nach, in einer Stunde ist alles vorbei.
Der Wanderer: Ganz so dachte ich, als ich in einem
Walde bei Pisa erst zwei und dann fünf Kamele sah.
Der Schatten: Es ist gut, daß wir beide auf
gleiche Weise nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere Vernunft stille
steht: so werden wir uns auch im Gespräche nicht ärgerlich werden und nicht
gleich dem andern Daumenschrauben anlegen, falls sein Wort uns einmal
unverständlich klingt. Weiß man gerade nicht zu antworten, so genügt es schon,
etwas zu sagen: das ist die billige Bedingung, unter der ich mich mit jemandem
unterrede. Bei einem längeren Gespräche wird auch der Weiseste einmal zum
Narren Und dreimal zum Tropf.
Der Wanderer: Deine Genügsamkeit ist nicht
schmeichelhaft für den, welchem du sie eingestehst.
Der Schatten: Soll ich denn schmeicheln?
Der Wanderer: Ich dachte, der menschliche Schatten
sei seine Eitelkeit; diese aber würde nie fragen: "soll ich denn
schmeicheln?"
Der Schatten: Die menschliche Eitelkeit, soweit
ich sie kenne, fragt auch nicht an, wie ich schon zweimal tat, ob sie reden
dürfe: sie redet immer.
Der Wanderer: Ich merke erst, wie unartig ich
gegen dich bin, mein geliebter Schatten: ich habe noch mit keinem Worte gesagt,
wie sehr ich mich freue, dich zu hören und nicht bloß zu
sehen. Du wirst es wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe.
Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des
Charakters gebe, ist der Schatten so nötig wie das Licht. Es sind nicht Gegner:
sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht
verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach.
Der Schatten: Und ich hasse dasselbe, was du
hassest, die Nacht; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind und freue
mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die
unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge
zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntnis auf sie fällt, - jener Schatten
bin ich auch.
Der Wanderer: Ich glaube dich zu verstehen, ob du
dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast. Aber du hattest recht: gute
Freunde geben einander hier und da ein dunkles Wort als Zeichen des
Einverständnisses, welches für jeden dritten ein Rätsel sein soll. Und wir sind
gute Freunde. Deshalb genug des Vorredens! Ein paar hundert Fragen drücken auf
meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur
kurz. Sehen wir zu, worüber wir in aller Eile und Friedfertigkeit miteinander
zusammenkommen.
Der Schatten: Aber die Schatten sind schüchterner
als die Menschen: du wirst niemandem mitteilen, wie wir zusammen gesprochen
haben!
Der Wanderer: Wie wir zusammen gesprochen haben?
Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen, schriftlichen Gesprächen! Wenn
Plato weniger Lust am Spinnen gehabt hätte, würden seine Leser mehr Lust an
Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit ergötzt, ist, in Schrift
verwandelt und gelesen, ein Gemälde mit lauter falschen Perspektiven: Alles ist
zu lang oder zu kurz. - Doch werde ich vielleicht mitteilen dürfen, worüber wir übereingekommen sind?
Der Schatten: Damit bin ich zufrieden; denn alle
werden darin nur deine Ansichten wiedererkennen: des Schattens wird niemand
gedenken.
Der Wanderer: Vielleicht irrst du, Freund! Bis
jetzt hat man in meinen Ansichten mehr den Schatten wahrgenommen als mich.
Der Schatten: Mehr den Schatten als das Licht? Ist
es möglich?
Der Wanderer: Sei ernsthaft, lieber Narr! Gleich
meine erste Frage verlangt Ernst. -
Vom Baum der
Erkenntnis. - Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit:
Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, - diese beiden Früchte sind es,
derentwegen der Baum der Erkenntnis nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt
werden kann.
Die Vernunft der
Welt. - Daß die Welt nicht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit
ist, läßt sich endgültig dadurch beweisen, daß jenes Stück Welt, welches wir kennen - ich meine unsre
menschliche Vernunft -, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn sie nicht allezeit und vollständig weise und
rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein; hier gilt der Schluß a
minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft.
"Am Anfang
war." - Die Entstehung verherrlichen - das ist der
metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie
wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das
Wertvollste und Wesentlichste.
Maß für den Wert
der Wahrheit. - Für die Höhe der Berge ist die Mühsal
ihrer Besteigung durchaus kein Maßstab. Und in der Wissenschaft soll es anders
sein! - sagen uns einige, die für eingeweiht gelten wollen -, die Mühsal um die
Wahrheit soll gerade über den Wert der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral
geht von dem Gedanken aus, daß die "Wahrheiten" eigentlich nichts
weiter seien, als Turngerätschaften, an denen wir uns wacker müde zu arbeiten
hätten, - eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.
Sprachgebrauch
und Wirklichkeit. - Es gibt eine erheuchelte Mißachtung aller
der Dinge, welche tatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, aller nächsten Dinge. Man sagt zum Beispiel "man ißt nur, um
zu leben," - eine verfluchte Lüge, wie jene, welche von der Kindererzeugung als
der eigentlichen Absicht aller Wollust redet. Umgekehrt ist die Hochschätzung
der "wichtigsten Dinge" fast niemals ganz echt: die Priester und
Metaphysiker haben uns zwar auf diesen Gebieten durchaus an einen heuchlerisch
übertreibenden Sprachgebrauch gewöhnt, aber das Gefühl doch nicht
umgestimmt, welches diese wichtigsten Dinge nicht so wichtig nimmt wie jene
verachteten nächsten Dinge. - Eine leidige Folge dieser doppelten Heuchelei
aber ist immerhin, daß man die nächsten Dinge, zum Beispiel Essen, Wohnen,
Sich-Kleiden, Verkehren, nicht zum Objekt des stetigen unbefangenen und allgemeinen Nachdenkens und Umbildens macht, sondern,
weil dies für herabwürdigend gilt, seinen intellektuellen und künstlerischen
Ernst davon abwendet; so daß hier die Gewohnheit und die Frivolität über die
Unbedachtsamen, namentlich über die unerfahrene Jugend, leichten Sieg haben:
während andererseits unsere fortwährenden Verstöße gegen die einfachsten
Gesetze des Körpers und Geistes uns alle, Jüngere und Ältere, in eine
beschämende Abhängigkeit und Unfreiheit bringen, - ich meine in jene im Grunde
überflüssige Abhängigkeit von Ärzten, Lehrern und Seelsorgern, deren Druck
jetzt immer noch auf der ganzen Gesellschaft liegt.
Die irdische Gebrechlichkeit
und ihre Hauptursache. - Man trifft, wenn man sich umsieht, immer auf
Menschen, welche ihr Lebenlang Eier gegessen haben, ohne zu bemerken, daß die
länglichten die wohlschmeckendsten sind, welche nicht wissen, daß ein Gewitter
dem Unterleib förderlich ist, daß Wohlgerüche in kalter, klarer Luft am
stärksten riechen, daß unser Geschmackssinn an verschiedenen Stellen des Mundes
ungleich ist, daß jede Mahlzeit, bei der man gut spricht oder gut hört, dem
Magen Nachteil bringt. Man mag mit diesen Beispielen für den Mangel an
Beobachtungssinn nicht zufrieden sein, um so mehr möge man zugestehen, daß die allernächsten Dinge von den meisten sehr schlecht gesehen, sehr
selten beachtet werden. Und ist dies gleichgültig? - Man erwäge doch, daß aus
diesem Mangel sich fast alle
leiblichen und seelischen Gebrechen der einzelnen ableiten: nicht zu wissen, was uns
förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise,
Verteilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Muße,
Befehlen und Gehorchen, Natur- und Kunstempfinden, Essen, Schlafen und
Nachdenken; im Kleinsten und
Alltäglichsten unwissend zu sein und keine scharfen Augen zu haben - das ist es,
was die Erde für so viele zu einer "Wiese des Unheils" macht. Man
sage nicht, es liege hier wie überall an der menschlichen Unvernunft: vielmehr - Vernunft genug und übergenug ist
da, aber sie wird falsch gerichtet und künstlich von jenen kleinen und allernächsten Dingen abgelenkt. Priester und Lehrer, und die sublime
Herrschsucht der Idealisten jeder Art, der gröberen und feineren, reden schon
dem Kinde ein, es komme auf etwas ganz anderes an: auf das Heil der Seele den
Staatsdienst, die Förderung der Wissenschaft oder auf Ansehen und Besitz, als
die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, während das Bedürfnis
des einzelnen, seine große und kleine Not innerhalb der vierundzwanzig
Tagesstunden etwas Verächtliches oder Gleichgültiges sei. - Sokrates schon
wehrte sich mit allen Kräften gegen diese hochmütige Vernachlässigung des
Menschlichen zugunsten des Menschen und liebte es, mit einem Worte Homers, an
den wirklichen Umkreis und Inbegriff alles Sorgens und Nachdenkens zu mahnen:
das ist es und nur das, sagte er, "was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem
begegnet".
3)
Zwei Trostmittel. - Epikur, der Seelen-Beschwichtiger des
späteren Altertums, hatte jene wundervolle Einsicht, die heutzutage immer noch
so selten zu finden ist, daß zur Beruhigung des Gemüts die Lösung der letzten
und äußersten theoretischen Fragen gar nicht nötig sei. So genügte es ihm,
solchen, welche "die Götterangst" quälte, zu sagen: "wenn es
Götter gibt, so bekümmern sie sich nicht um uns", - anstatt über die
letzte Frage, ob es Götter überhaupt gebe, unfruchtbar und aus der Ferne zu
disputieren. Jene Position ist viel günstiger und mächtiger: man gibt dem
andern einige Schritte vor und macht ihn so zum Hören und Beherzigen
gutwilliger. Sobald er sich aber anschickt das Gegenteil zu beweisen - daß die
Götter sich um uns bekümmern -, in welche Irrsale und Dorngebüsche muß der Arme
geraten, ganz von selber, ohne die List des Unterredners, der nur genug
Humanität und Feinheit haben muß, um sein Mitleiden an diesem Schauspiele zu
verbergen. Zuletzt kommt jener andere zum Ekel, dem stärksten Argument gegen jeden
Satz, zum Ekel an seiner eigenen Behauptung; er wird kalt und geht fort mit
derselben Stimmung, wie sie auch der reine Atheist hat: "was gehen mich
eigentlich die Götter an! hole sie der Teufel!" - In anderen Fällen,
namentlich wenn eine halb physische, halb moralische Hypothese das Gemüt
verdüstert hatte, widerlegte er nicht diese Hypothese, sondern gestand ein, daß
es wohl so sein könne: aber es gebe noch eine zweite Hypothese, um dieselbe Erscheinung zu
erklären; vielleicht könne es sich auch noch anders verhalten. Die Mehrheit der Hypothesen genügt auch in unserer Zeit
noch, zum Beispiel über die Herkunft der Gewissensbisse, um jenen Schatten von
der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein
sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht. -
Wer also Trost zu spenden wünscht, an Unglückliche, Übeltäter, Hypochonder,
Sterbende, möge sich der beiden beruhigenden Wendungen Epikurs erinnern, welche
auf sehr viele Fragen sich anwenden lassen. In der einfachsten Form würden sie
etwa lauten: erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns nichts an;
zweitens: es kann so sein, es kann aber auch anders sein.
In der Nacht. - Sobald die Nacht hereinbricht, verändert
sich unsere Empfindung über die nächsten Dinge. Da ist der Wind, der wie auf
verbotenen Wegen umgeht, flüsternd, wie etwas suchend, verdrossen, weil er's
nicht findet. Da ist das Lampenlicht, mit trübem rötlichem Scheine, ermüdet
blickend, der Nacht ungern widerstrebend, ein ungeduldiger Sklave des wachen
Menschen. Da sind die Atemzüge des Schlafenden, ihr schauerlicher Takt, zu der
eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie zu blasen scheint, - wir hören sie
nicht, aber wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fühlen wir uns
geschnürten Herzens, und wenn der Atem sinkt und fast ins Totenstille erstirbt,
sagen wir uns "ruhe ein wenig, du armer gequälter Geist!" - wir
wünschen allem Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige Ruhe; die Nacht
überredet zum Tode. - Wenn die Menschen der Sonne entbehrten und mit Mondlicht
und Öl den Kampf gegen die Nacht führten, welche Philosophie würde um sie ihren
Schleier hüllen! Man merkt es ja dem geistigen und seelischen Wesen des
Menschen schon zu sehr an, wie es durch die Hälfte Dunkelheit und Sonnen-Entbehrung,
von der das Leben umflort wird, im ganzen verdüstert ist.
Wo die Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist. - Über dem einen steht die Notwendigkeit in der Gestalt seiner Leidenschaften, über dem andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem dritten als logisches Gewissen, über dem vierten als Laune und mutwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen vieren wird aber gerade da die Freiheit ihres Willens gesucht, wo jeder von ihnen am festesten gebunden ist: es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt dies? Ersichtlich daher, daß jeder sich dort am meisten für frei hält, wo sein Lebensgefühl am größten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntnis, bald im Mutwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein: er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als notwendige Paare zusammen. - Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen: dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freude und Leid, Höhe des Hoffens, Kühnheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene, der Sklave, gedrückt und stumpf lebt. - Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfindung herrschender Stände.
4)
Keine neuen
Ketten fühlen. - So lange wir nicht fühlen, daß wir irgend wovon abhängen, halten wir uns
für unabhängig: ein Fehlschluß, welcher zeigt, wie stolz und herrschsüchtig der
Mensch ist. Denn er nimmt hier an, daß er unter allen Umständen die
Abhängigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der
Voraussetzung, daß er in der Unabhängigkeit für gewöhnlich lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise
verliere, einen Gegensatz der Empfindung spüren werde. - Wie aber, wenn das
Umgekehrte wahr wäre: daß er immer in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber für frei hält, wo er den Druck der Kette aus langer
Gewohnheit nicht mehr spürt? Nur an den neuen Ketten leidet er noch: - "Freiheit des
Willens" heißt eigentlich nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen.
Die Freiheit des
Willens und die Isolation der Fakta. - Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt
eine Gruppe von Erscheinungen als eins und nennt sie ein Faktum: zwischen ihm
und einem andern Faktum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie isoliert jedes Faktum. In Wahrheit aber ist all unser
Handeln und Erkennen keine Folge von Fakten und leeren Zwischenräumen, sondern
ein beständiger Fluß. Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit
der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungeteilten, unteilbaren
Fließens unverträglich: er setzt voraus, daß jede einzelne Handlung
isoliert und unteilbar ist; er ist eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens. -
Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den
Fakten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Fakten: beide gibt es nicht. Nun loben und tadeln wir aber nur unter
dieser falschen Voraussetzung, daß es gleiche Fakta gebe, daß eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Fakten vorhanden sei, welcher eine
abgestufte Wertordnung entspreche: also wir isolieren nicht nur das einzelne Faktum, sondern auch
wiederum die Gruppen von angeblich kleinen Fakten (gute, böse, mitleidige,
(neidische Handlungen usw.) - beide Male irrtümlich. - Das Wort und der Begriff
sind der sichtbarste Grund, weshalb wir an diese Isolation von
Handlungen-Gruppen glauben: mit ihnen bezeichnen wir nicht nur die Dinge, wir meinen
ursprünglich durch sie das Wahre derselben zu erfassen. Durch Worte und
Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu
denken, als sie sind, getrennt voneinander, unteilbar, jedes an und für sich
seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder
herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit
des Willens, das heißt der gleichen Fakten und der isolierten Fakten, - hat in der Sprache seinen
beständigen Evangelisten und Anwalt.
Die
Grundirrtümer. - Damit der Mensch irgend eine seelische
Lust oder Unlust empfinde, muß er von einer dieser beiden Illusionen beherrscht
sein: entweder glaubt er an die Gleichheit gewisser Fakta, gewisser Empfindungen: dann
hat er durch die Vergleichung jetziger Zustände mit früheren und durch Gleich-
oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung stattfindet) eine
seelische Lust oder Unlust; oder er glaubt an die Willens-Freiheit, etwa wenn er denkt "dies hätte ich
nicht tun müssen", "dies hätte anders auslaufen können", und
gewinnt daraus ebenfalls Lust oder Unlust. Ohne die Irrtümer, welche bei jeder
seelischen Lust und Unlust tätig sind, würde niemals ein Menschentum entstanden
sein - dessen Grundempfindung ist und bleibt, daß der Mensch der Freie in der
Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wundertäter, sei es, daß er gut oder böse handelt, die
erstaunliche Ausnahme, das Übertier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der
Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des kosmischen Rätsels, der große
Herrscher über die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltgeschichte nennt! - Vanitas
vanitatum homo.
Zweimal sagen. - Es ist gut, eine Sache sofort doppelt
auszudrücken und ihr einen rechten und einen linken Fuß zu geben. Auf einem
Bein kann die Wahrheit zwar stehen; mit zweien aber wird sie gehen und
herumkommen.
Der Mensch der Komödiant der
Welt. - Es müßte geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen
sind, bloß um den Humor ganz auszukosten, der darin liegt, daß der Mensch sich
für den Zweck des ganzen Weltendaseins ansieht und die Menschheit sich
ernstlich nur mit Aussicht auf eine Welt-Mission zufrieden gibt. Hat ein Gott
die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlaß zur Erheiterung in
seinen allzulangen Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann
wohl das Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum. Mit dem
Schmerz kitzelt jener gelangweilte Unsterbliche sein Lieblingstier, um an den
tragisch-stolzen Gebärden und Auslegungen seiner Leiden, überhaupt an der
geistigen Erfindsamkeit des eitelsten Geschöpfes seine Freude zu haben - als
Erfinder dieses Erfinders. Denn wer den Menschen zum Spaße ersann, hatte mehr
Geist als dieser, und auch mehr Freude am Geist. - Selbst hier noch, wo sich
unser Menschentum einmal freiwillig demütigen will, spielt uns die Eitelkeit
einen Streich, indem wir Menschen wenigstens in dieser Eitelkeit etwas ganz Unvergleichliches und
Wunderhaftes sein möchten. Unsere Einzigkeit in der Welt! ach, es ist eine gar
zu unwahrscheinliche Sache! Die Astronomen, denen mitunter wirklich ein
erdentrückter Gesichtskreis zuteil wird, geben zu verstehen, daß der Tropfen Leben in der Welt für den gesamten Charakter des
ungeheuren Ozeans von Werden und Vergehen ohne Bedeutung ist: daß ungezählte
Gestirne ähnliche Bedingungen zur Erzeugung des Lebens haben wie die Erde, sehr
viele also, - freilich kaum eine Handvoll im Vergleich zu den unendlich vielen,
welche den lebenden Ausschlag nie gehabt haben oder von ihm längst genesen
sind: daß das Leben auf jedem dieser Gestirne, gemessen an der Zeitdauer seiner
Existenz, ein Augenblick, - ein Aufflackern gewesen ist, mit langen, langen
Zeiträumen hinterdrein, - also keineswegs das Ziel und die letzte Absicht ihrer
Existenz. Vielleicht bildet sich die Ameise im Walde ebenso stark ein, daß sie
Ziel und Absicht der Existenz des Waldes ist, wie wir dies tun, wenn wir an den
Untergang der Menschheit in unserer Phantasie fast unwillkürlich den
Erduntergang anknüpfen: ja wir sind noch bescheiden, wenn wir dabei
stehnbleiben und zur Leichenfeier des letzten Menschen nicht eine allgemeine
Welt- und Götterdämmerung veranstalten. Der unbefangenste Astronom selber kann
die Erde ohne Leben kaum anders empfinden als wie den leuchtenden und
schwebenden Grabhügel der Menschheit.
5)
Bescheidenheit
des Menschen. - Wie wenig Lust genügt den meisten, um das
Leben gut zu finden, wie bescheiden ist der Mensch!
Worin
Gleichgültigkeit not tut. - Nichts wäre verkehrter, als abwarten
wollen, was die Wissenschaft über die ersten und letzten Dinge einmal endgültig
feststellen wird, und bis dahin auf die herkömmliche Weise denken (und namentlich glauben!) - wie
dies so oft angeraten wird. Der Trieb, auf diesem Gebiete durchaus nur Sicherheiten haben zu wollen, ist ein religiöser Nachtrieb, nichts Besseres, - eine versteckte und nur
scheinbar skeptische Art des "metaphysischen Bedürfnisses", mit dem
Hintergedanken verkuppelt, daß noch lange Zeit keine Aussicht auf diese letzten
Sicherheiten vorhanden und bis dahin der "Gläubige" im Recht ist,
sich um das ganze Gebiet nicht zu kümmern. Wir haben diese Sicherheiten um die
alleräußersten Horizonte gar nicht nötig, um ein volles und tüchtiges Menschentum zu
leben: ebensowenig als die Ameise sie nötig hat, um eine gute Ameise zu sein.
Vielmehr müssen wir uns darüber ins Klare bringen, woher eigentlich jene fatale
Wichtigkeit kommt, die wir jenen Dingen so lange beigelegt haben: und dazu
brauchen wir die Historie der ethischen und religiösen Empfindungen.
Denn nur unter dem Einfluß dieser Empfindungen sind uns jene allerspitzesten
Fragen der Erkenntnis so erheblich und furchtbar geworden: man hat in die
äußersten Bereiche, wohin noch das geistige Auge dringt, ohne in sie einzudringen, solche Begriffe wie Schuld und
Strafe (und zwar ewige Strafe!) hineinverschleppt: und dies um so
unvorsichtiger, je dunkler diese Bereiche waren. Man hat seit alters mit
Verwegenheit dort phantasiert, wo man nichts feststellen konnte, und seine
Nachkommen überredet, diese Phantasien für Ernst und Wahrheit zu nehmen,
zuletzt mit dem abscheulichen Trumpfe: daß Glauben mehr wert sei, als Wissen.
Jetzt nun tut in Hinsicht auf jene letzten Dinge nicht Wissen gegen Glauben
not, sondern Gleichgültigkeit
gegen Glauben und angebliches Wissen auf jenen Gebieten! - Alles andere muß uns näherstehen als das, was man
uns bisher als das Wichtigste vorgepredigt hat - ich meine jene Fragen: wozu
der Mensch? Welches Los hat er nach dem Tode? Wie versöhnt er sich mit Gott?
und wie diese Kuriosa lauten mögen. Ebensowenig wie diese Fragen der Religiösen
gehen uns die Fragen der philosophischen Dogmatiker an, mögen sie nun
Idealisten oder Materialisten oder Realisten sein. Sie allesamt sind darauf
aus, uns zu einer Entscheidung auf Gebieten zu drängen, wo weder Glauben noch
Wissen not tut; selbst für die größten Liebhaber der Erkenntnis ist es
nützlicher, wenn um alles Erforschbare und der Vernunft Zugängliche ein
umnebelter trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des
Undurchdringlichen, Ewig - Flüssigen und Unbestimmbaren. Gerade durch die
Vergleichung mit dem Reich des Dunkels am Rande der Wissens-Erde steigt die helle und nahe, nächste Welt des Wissens
stets im Werte. - Wir müssen wieder gute Nachbarn
der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher
über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken. In Wäldern und
Höhlen, in sumpfigen Strichen und unter bedeckten Himmeln - da hat der Mensch,
als auf den Kulturstufen ganzer Jahrtausende, allzulange gelebt, und dürftig
gelebt. Dort hat er die Gegenwart und die Nachbarschaft und das Leben und sich
selbst verachten gelernt - und wir, wir Bewohner der lichteren Gefilde der Natur und des Geistes, bekommen
jetzt noch, durch Erbschaft, etwas von diesem Gift der Verachtung gegen das
Nächste in unser Blut mit.
Tiefe Erklärungen. - Wer die Stelle eines Autors "tiefer
erklärt", als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern verdunkelt. So stehen unsre Metaphysiker zum Texte der
Natur; ja noch schlimmer. Denn um ihre tiefen Erklärungen anzubringen, richten
sie sich häufig den Text erst daraufhin zu: das heißt, sie verderben ihn. Um ein kurioses Beispiel für
Textverderbnis und Verdunkelung des Autors zu geben, so mögen hier
Schopenhauers Gedanken über die Schwangerschaft der Weiber stehen. Das
Anzeichen des steten Daseins des Willens zum Leben in der Zeit, sagt er, ist
der Koitus; das Anzeichen des diesem Willen aufs Neue zugesellten, die
Möglichkeit der Erlösung offenhaltenden Lichtes der Erkenntnis, und zwar im
höchsten Grade der Klarheit, ist die erneuerte Menschwerdung des Willens zum
Leben. Das Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche daher frank und frei,
ja stolz einhergeht, während der Koitus sich verkriecht wie ein Verbrecher. Er
behauptet, daß jedes Weib, wenn beim Generationsakt überrascht, vor
Scham vergehn möchte, aber "ihre
Schwangerschaft, ohne eine Spur von Scham, ja mit einer Art Stolz, zur Schau
trägt." Vor allem läßt sich dieser Zustand nicht so
leicht mehr zur Schau tragen, als er sich selber zur
Schau trägt; indem Schopenhauer aber gerade nur die Absichtlichkeit des Zur-Schau-Tragens
hervorhebt, bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu der bereitgehaltenen
"Erklärung" passe. Sodann ist das, was er über die Allgemeinheit des
zu erklärenden Phänomens sagt, nicht wahr: er spricht von "jedem
Weibe"; viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem
Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft eine peinliche
Verschämtheit; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus
dem niederen Volke, in der Tat sich auf jenen Zustand etwas zugute tun sollten,
so geben sie wohl damit zu verstehen, daß sie noch von ihren Männern begehrt werden. Daß bei
ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorübergehender Fremder
sagt oder denkt: "sollte es möglich sein -", dieses Almosen wird von
der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen.
Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauers Sätzen zu folgern wäre, gerade die
klügsten und geistigsten Weiber am meisten über ihren Zustand öffentlich
frohlocken: sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellekts zu
gebären, in welchem "der Wille" sich zum allgemeinen Besten wieder
einmal "verneinen" kann; die dummen Weiber hätten dagegen allen
Grund, ihre Schwangerschaft noch schamhafter zu verbergen als alles, was sie
verbergen. - Man kann nicht sagen, daß diese Dinge aus der Wirklichkeit
genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hätte ganz im allgemeinen darin
recht, daß die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit
mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung näher zur Hand
als die seinige. Man könnte sich ein Gakkern der Henne auch vor dem Legen des
Eies denken, des Inhaltes: Seht! Seht! Ich werde ein Ei legen! Ich werde ein Ei
legen!
6)
Der moderne
Diogenes. - Bevor man den Menschen sucht, muß man die Laterne
gefunden haben. - Wird es die Laterne des Zynikers sein müssen?
Immoralisten. - Die Moralisten müssen es sich jetzt
gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral
sezieren. Wer aber sezieren will, muß töten: jedoch nur, damit besser gewußt,
besser geurteilt, besser gelebt werde; nicht, damit alle Welt seziere. Leider
aber meinen die Menschen immer noch, daß jeder Moralist auch durch sein
gesamtes Handeln ein Musterbild sein müsse, welches die anderen nachzuahmen
hätten: sie verwechseln ihn mit dem Prediger der Moral. Die älteren Moralisten
sezierten nicht genug und predigten allzuhäufig: daher rührt jene Verwechslung
und jene unangenehme Folge für die jetzigen Moralisten.
Nicht zu
verwechseln. - Die Moralisten, welche die großartige,
mächtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarchs, oder den reinen,
erleuchteten, wärmeleitenden Seelenzustand der eigentlich guten Männer und
Frauen als schwere Probleme der Erkenntnis behandeln und der Herkunft derselben
nachspüren, indem sie das Komplizierte in der anscheinenden Einfachheit
aufzeigen und das Auge auf die Verflechtung der Motive, auf die eingewobenen
zarten Begriffs-Täuschungen und die von alters her vererbten, langsam
gesteigerten Einzel- und Gruppen-Empfindungen richten, - diese Moralisten sind
am meisten gerade von denen verschieden, mit denen sie doch am meisten verwechselt werden: von den kleinlichen Geistern, die an
jene Denkweisen und Seelenzustände überhaupt nicht glauben und ihre eigne
Armseligkeit hinter dem Glanze von Größe und Reinheit versteckt wähnen. Die
Moralisten sagen: "hier sind Probleme", und die Erbärmlichen sagen:
"hier sind Betrüger und Betrügereien"; sie leugnen also die Existenz gerade dessen, was jene zu erklären beflissen sind.
Der Mensch als
der Messende. - Vielleicht hatte alle Moralität der
Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die
Urmenschen ergriff, als sie das Maß und das Messen, die Waage und das Wägen
entdeckten (das Wort "Mensch" bedeutet ja den Messenden, er hat sich
nach seiner größten Entdeckung benennen wollen!). Mit diesen Vorstellungen stiegen
sie in Bereiche hinauf, die ganz unmeßbar und unwägbar sind, aber es
ursprünglich nicht zu sein schienen.
Prinzip des Gleichgewichts. - Der Räuber und der Mächtige, welcher einer
Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im
Grunde ganz ähnliche Wesen, nur daß der zweite seinen Vorteil anders als der
erste erreicht: nämlich durch regelmäßige Abgaben, welche die Gemeinde an ihn
entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältnis
wie zwischen Handelsmann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und dieselbe
Person sind: wo ihr die eine Funktion nicht rätlich scheint, da übt sie die
andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Verklügerung der Seeräuber-Moral: so wohlfeil wie möglich
kaufen - womöglich für Nichts als die Unternehmungskosten -, so teuer wie
möglich verkaufen). Das Wesentliche ist: jener Mächtige verspricht, gegen den
Räuber Gleichgewicht zu halten; darin sehen die Schwachen eine
Möglichkeit zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einer gleichwiegenden Macht zusammentun oder sich einem
Gleichwiegenden unterwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem
letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde zwei gefährliche Wesen in Schach hält: das erste
durch das zweite und das zweite durch den Gesichtspunkt des Vorteils; letzteres
hat nämlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnädig oder leidlich zu
behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernähren
können. Tatsächlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen,
aber verglichen mit der früher immer möglichen völligen Vernichtung atmen die Menschen schon in diesem Zustande
auf. - Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten. Eine
Organisation zum Übergewicht wäre rätlicher, wenn man dabei so stark würde, um
die Gegenmacht auf einmal zu vernichten: und handelt es sich um einen einzelnen
mächtigen Schadentuer, so wird dies gewiß versucht. Ist aber der eine ein Stammhaupt oder hat er
großen Anhang, so ist die schnelle entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich
und die dauernde lange Fehde zu gewärtigen: diese aber bringt der
Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die
Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nötigen Regelmäßigkeit zu
sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Deshalb
zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Verteidigung und Angriff genau auf die
Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu
verstehen zu geben, daß in ihrer Wagschale jetzt gleich viel Erz liege: warum
wolle man nicht gut Freund miteinander sein? - Gleichgewicht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die
älteste Rechts- und Morallehre; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit.
Wenn diese in roheren Zeiten sagt: "Auge um Auge, Zahn um Zahn", so
setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser
Vergeltung erhalten: so daß, wenn jetzt der eine sich gegen den
andern vergeht, der andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt.
Sondern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten
Machtverhältnisse wiederhergestellt: denn ein Auge, ein Arm mehr ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht,
ein Gewicht mehr. - Innerhalb einer Gemeinde, in der alle sich
als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heißt gegen
Durchbrechungen des Prinzips des Gleichgewichts, Schande und Strafe da: Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen
den übergreifenden einzelnen, der durch den Übergriff sich Vorteile verschafft
hat, durch die Schande nun wieder Nachteile erfährt, die den früheren Vorteil
aufheben und überwiegen. Ebenso steht es mit der Strafe: sie stellt
gegen das Übergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel größeres
Gegengewicht auf, gegen Gewalttat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den
Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler erinnert, daß er mit seiner Handlung aus der Gemeinde und deren Moral - Vorteilen ausschied: sie behandelt ihn wie einen
Ungleichen, Schwachen, außer ihr Stehenden; deshalb ist Strafe nicht nur
Wiedervergeltung, sondern hat ein Mehr, ein Etwas von der Härte des Naturzustandes; an diesen will sie eben erinnern.
Ob die Anhänger
der Lehre vom freien Willen strafen dürfen? - Die Menschen, welche von Berufswegen
richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Übeltäter
überhaupt für seine Tat verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden konnte, ob er aus Gründen handelte und nicht
unbewußt oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, daß er die schlechteren
Gründe den besseren vorzog: welche er also gekannt haben muß. Wo diese Kenntnis fehlt, ist der
Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich: es sei
denn, daß seine Unkenntnis, zum Beispiel seine ignorantia
legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des
Erlernens ist; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was er
sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen und muß jetzt die Folge
seiner schlechten Wahl büßen. Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen
hat, etwa aus Stumpf- und Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen: es hat ihm,
wie man sagt, die Wahl gefehlt, er handelte als Tier. Die absichtliche
Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim
strafwürdigen Verbrecher macht. Wie kann aber jemand absichtlich unvernünftiger
sein, als er sein muß? Woher die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten
und schlechten Motiven belastet sind? Also nicht vom Irrtum, von der Blindheit
her, nicht von einem äußeren, auch von keinem inneren Zwange her? (Man erwäge
übrigens, daß jeder sogenannte "äußere Zwang" nichts weiter ist, als
der innere Zwang der Furcht und des Schmerzes.) Woher? fragt man immer wieder.
Die Vernunft soll also nicht die Ursache sein, weil sie
sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte? Hier nun ruft man den
"freien Willen" zur Hilfe: es soll das vollendete Belieben entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein
Motiv wirkt, wo die Tat als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft
diese angebliche Beliebigkeit, in einem Falle, wo kein Belieben herrschen
sollte: die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar
keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken
sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom "freien
Willen" Gebrauch macht: das heißt, weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er
nach Gründen hätte handeln sollen. Aber warum tat er dies? Dies eben darf nicht einmal
mehr gefragt werden: es war eine Tat ohne
"darum?" ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und
Vernunftloses. - Eine solche Tat
dürfte man aber, nach der ersten oben vorangeschickten
Bedingung aller Strafbarkeit, auch nicht
strafen! Auch jene Art der Strafbarkeit darf nicht geltend
gemacht werden, als wenn hier etwas nicht getan, etwas unterlassen, von der Vernunft nicht Gebrauch gemacht sei: denn unter allen
Umständen geschah die Unterlassung ohne Absicht! und nur die absichtliche Unterlassung des
Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechteren Gründe
den besseren vorgezogen, aber ohne Grund und Absicht: er hat zwar seine
Vernunft nicht angewendet, aber nicht, um sie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung,
die man beim strafwürdigen Verbrechen macht, daß er seine Vernunft absichtlich
verleugnet habe, - gerade sie ist bei der Annahme des "freien
Willens" aufgehoben. Ihr dürft nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom
"freien Willen", nach euern eigenen Grundsätzen nicht! - Diese sind
aber im Grunde nichts, als eine sehr wunderliche Begriffs-Mythologie; und das
Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf
seinen Eiern gesessen.
Zur Beurteilung
des Verbrechers und seines Richters. - Der Verbrecher, der den ganzen Fluß der
Umstände kennt, findet seine Tat nicht so außer der Ordnung und
Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler: seine Strafe aber wird ihm
gerade nach dem Grad von Erstaunen zugemessen, welches jene beim Anblick der
Tat als einer Unbegreiflichkeit befällt. - Wenn die Kenntnis, welche der
Verteidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit
genug reicht, so müssen die sogenannten Milderungsgründe, welche er
der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch
deutlicher: der Verteidiger wird schrittweise jenes verurteilende und
strafzumessende Erstaunen mildern und zuletzt ganz aufheben, indem er jeden
ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständnis nötigt: "er mußte so handeln,
wie er gehandelt hat; wir würden, wenn wir straften, die ewige Notwendigkeit
bestrafen." - Den Grad der Strafe abmessen nach dem Grad der Kenntnis, welchen man von der Historie eines
Verbrechens hat oder überhaupt
gewinnen kann, - streitet dies nicht wider alle Billigkeit?
Der Tausch und die Billigkeit. - Bei einem Tausche würde es nur dann
ehrlich und rechtlich zugehen, wenn jeder der beiden so viel verlangte, als ihm
seine Sache wert scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die
aufgewendete Zeit usw. in Anschlag gebracht, nebst dem Affektionswerte. Sobald
er den Preis in Hinsicht auf
das Bedürfnis des andern macht, ist er ein feinerer Räuber und
Erpresser. - Ist Geld das eine Tauschobjekt, so ist zu erwägen, daß ein
Frankentaler in der Hand eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines
Kaufmannes, eines Studenten ganz verschiedene Dinge sind: jeder wird, je
nachdem er fast nichts oder viel tat, ihn zu erwerben, wenig oder viel dafür
empfangen dürfen - so wäre es billig: in Wahrheit steht es bekanntlich
umgekehrt. In der großen Geldwelt ist der Taler des faulsten Reichen
gewinnbringender als der des Armen und Arbeitsamen.
8)
Rechtszustände
als Mittel. - Recht, auf Verträgen zwischen Gleichen beruhend, besteht, solange die Macht derer,
die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist; die Klugheit hat das
Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein
Ende zu machen. Dieser aber ist ebenso endgültig ein Ende gemacht, wenn der eine Teil
entschieden schwächer als der andere geworden ist: dann tritt Unterwerfung ein, und das
Recht hört auf, aber der Erfolg ist derselbe wie der,
welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt ist es die Klugheit des Überwiegenden, welche die Kraft des
Unterworfenen zu schonen und nicht nutzlos zu vergeuden anrät: und
oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war.
- Rechtszustände sind also zeitweilige Mittel welche die Klugheit anrät, keine Ziele.
Erklärung der
Schadenfreude. - Die Schadenfreude entsteht daher, daß ein
jeder in mancher ihm wohl bewußten Hinsicht sich schlecht befindet, Sorge oder
Neid oder Schmerz hat: der Schaden, der den andern betrifft, stellt diesen ihm
gleich, er versöhnt seinen Neid. - Befindet er gerade sich selber gut, so
sammelt er doch das Unglück des nächsten als ein Kapital in seinem Bewußtsein
auf, um es bei einbrechendem eigenen Unglück gegen dasselbe einzusetzen: auch
so hat er "Schadenfreude". Die auf Gleichheit gerichtete Gesinnung
wirft also ihren Maßstab aus auf das Gebiet des Glücks und des Zufalls:
Schadenfreude ist der gemeinste Ausdruck über den Sieg und die
Wiederherstellung der Gleichheit, auch innerhalb der höheren Weltordnung. Erst
seitdem der Mensch gelernt hat, in anderen Menschen seinesgleichen zu sehen,
also erst seit Begründung der Gesellschaft gibt es Schadenfreude.
Das Willkürliche
im Zumessen der Strafen. - Die meisten Verbrecher kommen zu ihren
Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und hundertmal
dasselbe getan, ohne üble Folgen zu spüren: plötzlich kommt eine Entdeckung und
hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der Tat,
derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen: es
ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen
wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmäßigen Verbrechens vorliegt, härter
gestraft, die Gewohnheit wird als Grund gegen alle Milderung geltend gemacht.
Umgekehrt: eine musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um so
fürcherlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen lassen!
Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird alles nicht nach dem Verbrecher
bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr: frühere
Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit
eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addiert, und
demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt die
Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (dies im ersten Fall,
wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist) so sollte man noch weiter zurückgehn
und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und belohnen,
ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft usw.: in vielen Fällen wird man
dann die Richter irgendwie bei der Schuld beteiligt finden.
Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehen zu bleiben, wenn man die
Vergangenheit straft: man sollte, falls man die absolute Entschuldbarkeit jeder
Schuld nicht zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehnbleiben und nicht
weiter zurückblicken: also die Schuld isolieren und sie gar nicht mit der
Vergangenheit in Verknüpfung bringen, - sonst wird man zum Sünder gegen die
Logik. Zieht vielmehr, ihr Willens-Freien, den notwendigen Schluß aus eurer
Lehre von der "Freiheit des Willens" und dekretiert kühnlich: "keine Tat hat eine
Vergangenheit."
Der Neid und sein edlerer
Bruder. - Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd
begründet ist, entsteht jener, im ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im
Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Neid. Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des
anderen über das gemeinsame Maß und will ihn bis dahin herabdrücken - oder sich
bis dorthin erheben: woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben,
welche Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im
Zustande der Gleichheit die Indignation darüber, daß es einem anderen unter seiner Würde und Gleichheit schlecht ergeht,
einem zweiten über seiner Gleichheit gut: es sind dies Affekte edlerer Naturen. Sie vermissen in den Dingen, welche
von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und Billigkeit, das
heißt: sie verlangen, daß jene Gleichheit, die der Mensch anerkennt, nun auch
von der Natur und dem Zufall anerkannt werde; sie zürnen darüber, daß es den
Gleichen nicht gleich ergeht.
9)
Neid der Götter. - Der "Neid der Götter" entsteht,
wenn der niedriger Geachtete sich irgend worin dem Höheren gleichsetzt (wie
Ajax) oder durch Gunst des Schicksals ihm gleichgesetzt wird (wie Niobe als
überreich gesegnete Mutter). Innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung stellt dieser Neid die Forderung
auf, daß ein jeder kein Verdienst über seinem Stande habe, auch daß sein Glück
diesem gemäß sei und namentlich daß sein Selbstbewußtsein jenen Schranken nicht
entwachse. Oft erfährt der siegreiche General den "Neid der Götter",
ebenso der Schüler, der ein meisterliches Werk schuf.
Eitelkeit als
Nachtrieb des ungesellschaftlichen Zustandes. - Da die Menschen ihrer Sicherheit wegen
sich selber als gleich gesetzt haben, zur Gründung der Gemeinde,
diese Auffassung, aber im Grunde wider die Natur des einzelnen geht und etwas
Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine Sicherheit
gewährleistet ist, neue Schößlinge des alten Triebes nach Übergewicht geltend:
in der Abgrenzung der Stände, in dem Anspruch auf Berufs-Würden und -Vorrechte,
überhaupt in der Eitelkeit (Manieren, Tracht, Sprache usw.). Sobald einmal die
Gefahr des Gemeinwesens wieder fühlbar wird, drücken die Zahlreicheren, welche
ihr Übergewicht nicht im Zustande der allgemeinen Ruhe durchsetzen konnten,
wieder den Zustand der Gleichheit hervor: die absurden Sonderrechte und Eitelkeiten
verschwinden auf einige Zeit. Stürzt aber das Gemeinwesen ganz zusammen, gerät
alles in Anarchie, so bricht sofort der Naturzustand, die unbekümmerte,
rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie dies auf Korkyra geschah, nach dem
Berichte des Thukydides. Es gibt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht.
Billigkeit. - Eine Fortbildung der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, entstehend unter solchen, welche nicht gegen die Gemeinde-Gleichheit verstoßen: es wird auf Fälle, wo das Gesetz nichts vorschreibt, jene feinere Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und rückwärts blickt und deren Maxime ist "wie du mir, so ich dir". Aequum heißt eben "es ist gemäß unserer Gleichheit; diese mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, daß wir manches uns nachsehen, was wir nicht müßten".
Elemente der Rache. - Das Wort "Rache" ist so schnell
gesprochen: fast scheint es, als ob es gar nicht mehr enthalten könne, als eine
Begriffs- und Empfindungs-Wurzel. Und so bemüht man sich immer noch dieselbe zu
finden: wie unsere Nationalökonomen noch nicht müde geworden sind, im Worte
"Wert" eine solche Einheit zu wittern und nach dem ursprünglichen
Wurzelbegriff des Wertes zu suchen. Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in
welche bald dies, bald jenes, bald mehreres auf einmal gesteckt worden ist! So
ist auch "Rache" bald dies, bald jenes, bald etwas mehr
Zusammengesetztes. Man unterscheide einmal jenen abwehrenden Zurückschlag, den
man fast unwillkürlich auch gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben
(wie gegen bewegte Maschinen), ausführt: der Sinn unserer Gegenbewegung ist,
dem Beschädigten Einhalt zu tun dadurch, daß wir die Maschine zum Stillstand
bringen. Die Stärke des Gegenschlags muß mitunter, um dies zu erreichen, so
stark sein, daß er die Maschine zertrümmert; wenn dieselbe aber zu stark ist,
um vom einzelnen sofort zerstört werden zu können, wird dieser doch immer noch
den heftigsten Schlag ausführen, dessen er fähig ist, - gleichsam als einen
letzten Versuch. So benimmt man sich auch gegen schädigende Personen bei der
unmittelbaren Empfindung des Schadens selber; will man diesen Akt einen
Rache-Akt nennen, so mag es sein; nur erwäge man, daß hier allein die Selbst-Erhaltung ihr Vernunft-Räderwerk in Bewegung gesetzt
hat, und daß man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei
denkt: wir handeln so, ohne wieder schaden zu wollen, sondern nur um
noch mit Leib und Leben davonzukommen. - Man braucht Zeit, wenn man von sich mit seinen Gedanken zum
Gegner übergeht und sich fragt, auf welche Weise er am empfindlichsten zu
treffen ist. Dies geschieht bei der zweiten Art von Rache: ein Nachdenken über
die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des andern ist ihre Voraussetzung: man
will wehetun. Dagegen sich selber gegen weiteren Schaden sichern, liegt hier so
wenig im Gesichtskreis des Rache-Nehmenden, daß er fast regelmäßig den weiteren
eigenen Schaden zuwege bringt und ihm sehr oft kaltblütig vorher entgegensieht.
War es bei der ersten Art von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche
den Gegenschlag so stark wie möglich machte: so ist hier fast völlige
Gleichgültigkeit gegen das, was der Gegner tun wird; die Stärke des
Gegenschlags wird nur durch das, was er uns getan hat, bestimmt. Was hat er denn getan? Und was
nützt es uns, wenn er nun leidet, nachdem wir durch ihn gelitten haben? Es
handelt sich um eine Wiederherstellung: während der Rache-Akt erster Art nur der Selbst-Erhaltung dient. Vielleicht verloren wir durch den
Gegner Besitz, Rang, Freunde, Kinder - diese Verluste werden durch die Rache
nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen Nebenverlust bei allen den erwähnten Verlusten. Die Rache
der Wiederherstellung bewahrt nicht vor weiterem Schaden, sie macht den
erlittenen Schaden nicht wieder gut, - außer in einem Falle. Wenn unsere Ehre durch den Gegner gelitten hat, so vermag die
Rache sie wiederherzustellen. Sie hat aber in jedem Falle einen Schaden
erlitten, wenn man uns absichtlich ein Leid zufügte: denn der Gegner bewies
damit, daß er uns nicht fürchtete. Durch die Rache beweisen wir, daß wir auch
ihn nicht fürchten: darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung. (Die
Absicht, den völligen Mangel an Furcht zu zeigen, geht bei einigen Personen so
weit, daß ihnen die Gefährlichkeit der Rache für sie selbst - Einbuße der
Gesundheit oder des Lebens oder sonstige Verluste - als eine unerläßliche
Bedingung jeder Rache gilt. Deshalb gehen sie den Weg des Duells, obschon die
Gerichte ihnen den Arm bieten, um auch so Genugtuung für die Beleidigung zu
erhalten: sie nehmen aber die gefahrlose Wiederherstellung ihrer Ehre nicht als
genügend an, weil sie ihren Mangel an Furcht nicht beweisen kann.) - Bei der
ersterwähnten Art der Rache ist es gerade die Furcht, die den Gegenschlag
ausführt: hier dagegen ist es die Abwesenheit der Furcht, welche, wie gesagt,
durch den Gegenschlag sich beweisen will. - Nichts scheint also verschiedener als die
innere Motivierung der beiden Handlungsweisen, die mit einem Wort
"Rache" benannt werden: und trotzdem kommt es sehr häufig vor, daß
der Rache-Übende in Unklarheit ist, was ihn eigentlich zur Tat bestimmt hat;
vielleicht, daß er aus Furcht und um sich zu erhalten den Gegenschlag führte,
hinterher aber, als er Zeit hatte, über den Gesichtspunkt der verletzten Ehre
nachzudenken, selber sich einredet, seiner Ehre halber sich gerächt zu haben: -
dieses Motiv ist ja jedenfalls vornehmer als das andere! Dabei ist noch wesentlich,
ob er seine Ehre in den Augen der anderen (der Welt) beschädigt sieht oder nur
in den Augen des Beleidigers: im letzteren Falle wird er die geheime Rache
vorziehen, im ersteren aber die öffentliche. Je nachdem er sich stark oder
schwach in die Seele des Täters und der Zuschauer hineindenkt, wird seine Rache
erbitterter oder zahmer sein; fehlt ihm diese Art Phantasie ganz, so wird er
gar nicht an Rache denken, denn das Gefühl der "Ehre" ist dann bei
ihm nicht vorhanden, also auch nicht zu verletzen. Ebenso wird er nicht an
Rache denken, wenn er den Täter und die Zuschauer der Tat verachtet: weil sie ihm keine Ehre geben können, als
Verachtete, und demnach auch keine Ehre nehmen können. Endlich wird er auf
Rache in dem nicht ungewöhnlichen Falle verzichten, daß er den Täter liebt:
freilich büßt er so in dessen Augen an Ehre ein und wird vielleicht der
Gegenliebe dadurch weniger würdig. Aber auch auf alle Gegenliebe Verzicht
leisten ist ein Opfer, welches die Liebe zu bringen bereit ist, wenn sie dem
geliebten Wesen nur nicht wehetun muß: dies hieße sich selber mehr wehetun, als
jenes Opfer wehetut. - Also: jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos
oder voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und Beleidiger. Auch
wenn er sich an die Gerichte wendet, so will er die Rache als private Person: nebenbei aber noch, als weiterdenkender,
vorsorglicher Mensch der Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an einem, der
sie nicht ehrt. So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl
die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre wiederhergestellt: das heißt - Strafe ist Rache. - Es gibt in
ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere zuerst beschriebene Element der Rache,
insofern durch sie die Gesellschaft ihrer Selbst-Erhaltung dient und der Notwehr halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe
will das weitere Schädigen verhüten, sie will abschrecken. Auf diese Weise sind wirklich in der Strafe
beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft, und dies mag vielleicht am meisten dahin
wirken, jene erwähnte Begriffsverwirrung zu unterhalten, vermöge deren der
einzelne, der sich rächt, gewöhnlich nicht weiß, was er eigentlich will.
10)
Die Tugenden der Einbuße. - Als Mitglieder von Gesellschaften
glauben wir gewisse Tugenden nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die
größte Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade und Nachsicht
gegen Verfehlende aller Art - überhaupt jede Handlungsweise, bei welcher der
Vorteil der Gesellschaft durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Kollegium
darf sich vor seinem Gewissen erlauben, gnädig zu sein dem König als einem einzelnen hat man dies Vorrecht aufbehalten;
man freut sich, wenn er Gebrauch davon macht, zum Beweise, daß man gern gnädig
sein möchte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese erkennt somit nur die
ihr vorteilhaften oder mindestens unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbuße
oder gar mit Zinsen geübt werden, zum Beispiel Gerechtigkeit). Jene Tugenden
der Einbuße können demnach in der
Gesellschaft nicht entstanden sein, da noch jetzt,
innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der Widerspruch gegen sie
sich erhebt. Es sind also Tugenden unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von
dem Überlegenen, einzelnen, es sind Herrscher-Tugenden, mit dem Hintergedanken: "ich bin
mächtig genug, um mir eine ersichtliche Einbuße gefallen zu lassen, dies ist
ein Beweis meiner Macht" - also mit Stolz verwandte Tugenden.
Kasuistik des
Vorteils. - Es gäbe keine Kasuistik der Moral, wenn es keine
Kasuistik des Vorteils gäbe. Der freieste und feinste Verstand reicht oft nicht
aus, zwischen zwei Dingen so zu wählen, daß der größere Vorteil notwendig bei
seiner Wahl ist. In solchen Fällen wählt man, weil man wählen muß, und hat
hinterdrein eine Art Seekrankheit der Empfindung.
Zum Heuchler
werden. - Jeder Bettler wird zum Heuchler; wie jeder, der aus
einem Mangel, aus einem Notstand (sei dies ein persönlicher oder ein
öffentlicher) seinen Beruf macht. - Der Bettler empfindet den Mangel lange
nicht so, als er ihn empfinden machen muß, wenn er vom Betteln leben will.
Eine Art Kultus
der Leidenschaften. - Ihr Düsterlinge und philosophischen
Blindschleichen redet, um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen, von
dem furchtbaren
Charakter der menschlichen Leidenschaften. Als ob überall, wo es
Leidenschaft gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte! Als ob es
immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit geben müßte! - Durch eine
Vernachlässigung im kleinen, durch Mangel an Selbst-Beobachtung und
Beobachtung derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr selber erst die
Leidenschaften zu solchen Untieren anwachsen lassen, daß euch jetzt schon beim
Worte "Leidenschaft" Furcht befällt! Es stand bei euch und steht bei
uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu nehmen und dermaßen vorzubeugen, daß sie nicht zu
verheerenden Wildwassern werden. - Man soll seine Versehen nicht zu ewigen
Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten,
die Leidenschaften der Menschheit allesamt in Freudenschaften umzuwandeln.
Gewissensbiß. - Der Gewissensbiß ist, wie der Biß des
Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.
Ursprung der Rechte. - Die Rechte gehen zunächst auf Herkommen zurück, das Herkommen auf ein einmaliges Abkommen. Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen müsse. Das Herkommen war jetzt Zwang, auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte. - Die Schwachen haben hier ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden: sie neigen dahin, das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung zu verewigen.
Die Bedeutung des Vergessens
in der moralischen Empfindung. - Dieselben Handlungen, welche innerhalb der
ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen Nutzen eingab, sind später von anderen Generationen
auf andere Motive hin getan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor denen, die
sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit
an um sich hatte tun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall
Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt
wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, vergessen worden ist, heißen dann moralische: nicht etwa weil sie aus jenen anderen Motiven, sondern weil sie nicht aus bewußter Nützlichkeit getan werden. -
Woher dieser Haß gegen den Nutzen, der hier sichtbar wird, wo sich alles lobenswerte
Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschließt? - Offenbar
hat die Gesellschaft, der Herd aller Moral und aller Lobsprüche des moralischen
Handelns, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne des einzelnen
zu kämpfen gehabt, um nicht zuletzt jedes andere Motiv sittlich höher zu taxieren als den
Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral nicht aus dem Nutzen herausgewachsen sei; während
sie ursprünglich der Gesellschafts-Nutzen ist, der große Mühe hatte, sich gegen
alle die Privat-Nützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen.
11)
Die Erbreichen
der Moralität. - Es gibt auch im Moralischen einen Erb-Reichtum: ihn besitzen die Sanften, Gutmütigen,
Mitleidigen, Mildtätigen, welche alle die gute Handlungsweise, aber nicht die Vernunft (die Quelle
derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem
Reichtum ist, daß man von ihm fortwährend darreichen und mitteilen muß, wenn er
überhaupt empfunden werden soll, und daß er so unwillkürlich daran arbeitet,
die Abstände zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen: und zwar,
was das merkwürdigste und beste ist, nicht zugunsten eines dereinstigen Mittelmaßes
zwischen arm und reich, sondern zugunsten eines allgemeinen Reich- und Überreich-werdens. - So wie hier
geschehen ist, läßt sich etwa die herrschende Ansicht über den moralischen
Erbreichtum zusammenfassen: aber es scheint mir, daß dieselbe mehr in
majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der Wahrheit
aufrechterhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher,
wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener
Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand, so sagt die
Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen starken Hang zum Maßhalten werden die Moralisch-Erbreichen zu Verschwendern der Moralität: indem sie haltlos sich ihren
mitleidigen, mildtätigen, versöhnenden, beschwichtigenden Trieben überlassen,
machen sie alle Welt um sich nachlässiger, begehrlicher und sentimentaler. Die
Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht und, wie
leider zu sagen ist, bestenfalls - angenehme schwächliche Taugenichtse.
Der Richter und
die Milderungsgründe. - "Man soll auch gegen den Teufel
honett sein und seine Schulden bezahlen", sagte ein alter Soldat, als man
ihm die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte, "Faust gehört in
die Hölle!" - "O ihr schrecklichen Männer!" rief seine Gattin
aus, "wie ist das nur möglich! Er hat ja nichts getan, als keine Tinte im
Tintenfaß gehabt! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber deshalb soll
ein so schöner Mann doch nicht brennen?"
Problem der
Pflicht zur Wahrheit. - Pflicht ist ein zwingendes, zur Tat
drängendes Gefühl, das wir gut nennen und für undiskutierbar halten (- über
Ursprung, Grenze und Berechtigung desselben wollen wir nicht reden und nicht
geredet haben). Der Denker hält aber alles für geworden und alles Gewordene für
diskutierbar, ist also der Mann ohne Pflicht, - solange er eben nur Denker ist.
Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen,
nicht anerkennen und dies Gefühl nicht fühlen, er fragt: woher kommt sie? wohin
will sie? aber dies Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. Hätte
dies aber nicht zur Folge, daß die Maschine des Denkers nicht mehr recht
arbeitet, wenn er sich beim Akte des Erkennens wirklich unverpflichtet fühlen könnte? Insofern scheint hier zur Heizung dasselbe Element nötig zu sein, das
vermittelst der Maschine untersucht werden soll. - Die Formel würde vielleicht
sein: angenommen es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu
erkennen, wie lautet die Wahrheit dann in bezug auf jede andere Art von
Pflicht? - Aber ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht ein Widersinn?
Stufen der Moral. - Moral ist zunächst ein Mittel, die
Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren; sodann ist
sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer gewissen Höhe und in einer gewissen Güte
zu erhalten. Ihre Motive sind Furcht und Hoffnung: und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere,
als der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch sehr stark ist. Die
entsetzlichsten Angstmittel müssen hier Dienste tun, solange noch keine
milderen wirken wollen und jene doppelte Art der Erhaltung sich nicht anders
erreichen läßt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfindung eines Jenseits mit
einer ewigen Hölle). Weitere Stufen der Moral und also Mittel zum bezeichneten
Zwecke sind die Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz); noch weitere
und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem "du
sollst", - alles noch ziemlich grob zugehauene, aber breite Stufen, weil die Menschen auf die feineren,
schmäleren ihren Fuß noch nicht zu setzen wissen. Dann kommt eine Moral der Neigung, des Geschmacks, endlich die der Einsicht - welche über alle illusionären Motive der
Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten
hindurch keine anderen haben durfte.
Moral des Mitleidens im Munde
der Unmäßigen. - Alle die, welche sich selber nicht genug
in der Gewalt haben und die Moralität nicht als fortwährende im großen und
kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung kennen, werden
unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen,
jener instinktiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und
hilfreichen Händen zu bestehen scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine
Moralität der Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu
machen.
12)
Kloaken der
Seele. - Auch die Seele muß ihre bestimmten Kloaken haben,
wohin sie ihren Unrat abfließen läßt: dazu dienen Personen, Verhältnisse,
Stände oder das Vaterland oder die Welt oder endlich - für die ganz Hoffärtigen
(ich meine unsere lieben modernen "Pessimisten") - der liebe Gott.
Eine Art von
Ruhe und Beschaulichkeit. - Hüte dich, daß deine Ruhe und
Beschaulichkeit nicht der des Hundes vor einem Fleischerladen gleicht, den die
Furcht nicht vorwärts und die Begierde nicht rückwärts gehen läßt: und der die
Augen aufsperrt, als ob sie Münder wären.
Das Verbot ohne
Gründe. - Ein Verbot, dessen Gründe wir nicht verstehen oder
zugeben, ist nicht nur für den Trotzkopf, sondern auch für den
Erkenntnisdurstigen fast ein Geheiß: man läßt es auf den Versuch ankommen, um
so zu erfahren, weshalb das Verbot gegeben ist. Moralische Verbote,
wie die des Dekalogs, passen nur für Zeitalter der unterworfenen Vernunft:
jetzt würde ein Verbot "du sollst nicht töten", "du sollst nicht
ehebrechen", ohne Gründe hingestellt, eher eine schädliche als eine
nützliche Wirkung haben.
Charakterbild. - Was ist das für ein Mensch, der von sich
sagen kann: "ich verachte sehr leicht, aber hasse nie. An jedem Menschen
finde ich sofort etwas heraus, das zu ehren ist und dessentwegen ich ihn ehre;
die sogenannten liebenswürdigen Eigenschaften ziehen mich wenig an".
Mitleiden und Verachtung. - Mitleiden äußern wird als ein Zeichen der Verachtung empfunden, weil man ersichtlich aufgehört hat, ein Gegenstand der Furcht zu sein, sobald einem Mitleiden erwiesen wird. Man ist unter das Niveau des Gleichgewichts hinabgesunken, während schon jenes der menschlichen Eitelkeit nicht genugtut, sondern erst das Hervorragen und Furchteinflößen der Seele das erwünschteste aller Gefühle gibt. Deshalb ist es ein Problem, wie die Schätzung des Mitleids aufgekommen ist, ebenso wie erklärt werden muß, warum jetzt der Uneigennützige gelobt wird: ursprünglich wird er verachtet oder als tückisch gefürchtet.
Klein sein
können. - Man muß den Blumen, Gräsern und Schmetterlingen auch
noch so nah sein wie ein Kind, das nicht viel über sie hinweg reicht. Wir
Älteren dagegen sind über sie hinausgewachsen und müssen uns zu ihnen
herablassen; ich meine, die Gräser hassen uns, wenn wir unsere Liebe für sie bekennen.
- Wer an allem Guten teilhaben will, muß auch zu Stunden klein zu sein verstehen.
Inhalt des
Gewissens. - Der Inhalt unseres Gewissens ist alles,
was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmäßig gefordert wurde durch Personen, die wir verehrten oder
fürchteten. Vom Gewissen aus wird also jenes Gefühl des Müssens erregt
("dieses muß ich tun, dieses lassen"), welches nicht fragt: warum muß ich? - In allen Fällen, wo eine Sache
mit "weil" und "warum" getan wird, handelt der Mensch ohne Gewissen; deshalb aber noch nicht wider
dasselbe. - Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens: es ist also
nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger
Menschen im Menschen.
Überwindung der
Leidenschaften. - Der Mensch, der seine Leidenschaften
überwunden hat, ist in den Besitz des fruchtbarsten Erdreiches getreten: wie
der Kolonist, der über die Wälder und Sümpfe Herr geworden ist. Auf dem Boden
der bezwungenen Leidenschaften den Samen der guten geistigen Werke säen, ist dann die dringende nächste Aufgabe. Die
Überwindung selber ist nur ein Mittel, kein Ziel; wenn sie nicht so angesehen wird,
so wächst schnell allerlei Unkraut und Teufelszeug auf dem leer gewordenen
fetten Boden auf, und bald geht es auf ihm voller und toller zu als je vorher.
Geschick zum Dienen. - Alle sogenannten praktischen Menschen
haben ein Geschick zum Dienen: das eben macht sie praktisch, sei es für andere
oder für sich selber. Robinson besaß noch einen besseren Diener, als Freitag
war: das war Crusoe.
13)
Gefahr der
Sprache für die geistige Freiheit. - Jedes Wort ist ein Vorurteil.
Geist und
Langeweile. - Das Sprichwort: "Der Magyar ist viel
zu faul, um sich zu langweilen" gibt zu denken. Die feinsten und tätigsten
Tiere erst sind der Langeweile fähig. - Ein Vorwurf für einen großen Dichter
wäre die Langeweile Gottes am siebenten Tage der Schöpfung.
Im Verkehr mit
den Tieren. - Man kann das Entstehen der Moral in
unserem Verhalten gegen die Tiere noch beobachten. Wo nutzen und Schaden nicht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der
völligen Unverantwortlichkeit; wir töten und verwunden zum Beispiel Insekten
oder lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar nichts dabei. Wir sind so
plump, daß schon unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Tiere fast immer
mörderisch sind: was unser Vergüngen an ihnen gar nicht beeinträchtigt. - Es
ist heute das Fest der kleinen Tiere, der schwülste Tage des Jahres: es wimmelt
und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu wollen, aber auch ohne acht zu geben, bald hier, bald dort ein
Würmchen und gefiedertes Käferchen. - Bringen die Tiere uns Schaden, so erstreben
wir auf jede Weise ihre Vernichtung, die Mittel sind oft grausam genug, ohne daß
wir dies eigentlich wollen: es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit.
Nützen sie, so beuten wir sie aus: bis eine feinere Klugheit uns lehrt, daß
gewisse Tiere für eine andere Behandlung, nämlich für die der Pflege und Zucht,
reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit. Gegen das Haustier wird
die Quälerei gemieden; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer
unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemäßheit der primitiven
Gemeinde-Moral, welche den gemeinsamen Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein einzelner
sich vergeht. Wer in der Gemeinde ein Vergehen wahrnimmt, fürchtet den
indirekten Schaden für sich: und wir fürchten für die Güte des Fleisches, des
Landbaues und der Verkehrsmittel, wenn wir die Haustiere nicht gut behandelt
sehen. Zudem erweckt der, welcher roh gegen Tiere ist, den Argwohn, auch roh
gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein; er gilt als
unedel, des feineren Stolzes ermangelnd. So entsteht ein Ansatz von moralischem
Urteilen und Empfinden: das beste tut nun der Aberglaube hinzu. Manche Tiere
reizen durch Blicke, Töne und Gebärden den Menschen an, sich in sie hineinzudichten, und manche Religionen lehren im Tiere unter
Umständen den Wohnsitz von Menschen- und Götterseelen sehen: weshalb sie
überhaupt edlere Vorsicht, ja ehrfürchtige Scheu im Umgange mit den Tieren
anempfehlen. Auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens wirken die von ihm
erweckten Empfindungen fort und reifen und blühen aus. - Das Christentum hat
sich bekanntlich in diesem Punkte als arme und zurückbildende Religion bewährt.
Neue
Schauspieler. - Es gibt unter den Menschen keine größere
Banalität als den Tod; zu zweit im Range steht die Geburt, weil nicht alle
geboren werden, welche doch sterben; dann folgt die Heirat. Aber diese kleinen
abgespielten Tragikomödien werden bei jeder ihrer ungezählten und unzählbaren
Aufführungen immer wieder von neuen Schauspielern dargestellt und hören deshalb
nicht auf, interessierte Zuschauer zu haben: während man glauben sollte, daß
die gesamte Zuschauerschaft des Erdentheaters sich längst aus Überdruß daran an
allen Bäumen aufgehängt hätte. Soviel liegt an neuen Schauspielern, sowenig am
Stück.
Was ist
"obstinat"? - Der kürzeste Weg ist nicht der möglichst
gerade, sondern der, bei welchem die günstigsten Winde unsere Segel schwellen:
so sagt die Lehre der Schiffahrer. Ihr nicht zu folgen, das heißt obstinat
sein: die Festigkeit des Charakters ist da durch Dummheit verunreinigt.
Das Wort
"Eitelkeit". - Es ist lästig, daß einzelne Worte, deren
wir Moralisten schlechterdings nicht entraten können, schon eine Art
Sittenzensur in sich tragen aus jenen Zeiten her, in denen die nächsten und
natürlichsten Regungen des Menschen verketzert wurden. So wird jene Grundüberzeugung,
daß wir auf den Wellen der Gesellschaft viel mehr durch das, was wir gelten, als durch das, was wir sind, gutes Fahrwasser haben oder Schiffbruch
leiden - eine Überzeugung, die für alles Handeln in bezug auf die Gesellschaft
das Steuerruder sein muß - mit dem allgemeinsten Worte "Eitelkeit", "vanitas" gebrandmarkt: eines der vollsten und
inhaltreichsten Dinge mit einem Ausdruck, welcher dasselbe als das eigentlich
Leere und Nichtige bezeichnet, etwas Großes mit einem Diminutivum, ja mit den
Federstrichen der Karikatur. Es hilft nichts, wir müssen solche Worte
gebrauchen, aber dabei unser Ohr den Einflüsterungen alter Gewohnheit
verschließen.
14)
Türkenfatalismus. - Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler,
daß er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander
gegenüberstellt: der Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu
vereiteln suchen, aber schließlich behalte es immer den Sieg, weshalb das
vernünftigste sei, zu resignieren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist
jeder Mensch selber ein Stück Fatum; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum
zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das Fatum; der Kampf
ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das Fatum; alle diese
Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. - Die Angst, welche die meisten vor
der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist die Angst vor dem
Türkenfatalismus: sie meinen, der Mensch werde schwächlich resigniert und mit
gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr nichts zu ändern
vermöge: oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit die Zügel schießen
lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne.
Die Torheiten des Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten:
auch jene Angst vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer
Ängstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für alles,
was da kommt; du bist Segen oder Fluch und jedenfalls die Fessel, in welcher
der Stärkste gebunden liegt; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt
vorherbestimmt, es hilft dir nichts, wenn dir vor dir selber graut.
Advokat des
Teufels. - "Nur durch eigenen Schaden wird man klug, nur durch fremden Schaden wird man gut" so lautet jene seltsame Philosophie, welche
alle Moralität aus dem Mitleiden und alle Intellektualität aus der Isolation
des Menschen ableitet: damit ist sie unbewußt die Sachwalterin aller irdischen
Schadhaftigkeit. Denn das Mitleiden hat das Leiden nötig und die Isolation die
Verachtung der anderen.
Die moralischen
Charaktermasken. - In den Zeiten, da die Charaktermasken der
Stände für endgültig fest, gleich den Ständen selber gelten, werden die
Moralisten verführt sein, auch die moralischen Charaktermasken für absolut zu halten und
sie so zu zeichnen. So ist Molière als Zeitgenosse der Gesellschaft Ludwigs
XIV. verständlich; in unserer Gesellschaft der Übergänge und Mittelstufen würde
er als ein genialer Pedant erscheinen.
Die vornehmste
Tugend. - In der ersten Ära des höheren Menschentums gilt die
Tapferkeit als die vornehmste der Tugenden, in der zweiten die Gerechtigkeit,
in der dritten die Mäßigung, in der vierten die Weisheit. In welcher Ära leben wir? In welcher lebst du?
Was vorher nötig
ist. - Ein Mensch, der über seinen Jähzorn, seine Gall- und
Rachsucht, seine Wollust nicht Meister werden will und es versucht, irgendworin
sonst Meister zu werden, ist so dumm wie der Ackermann, der neben einem
Wildbach seine Äcker anlegt, ohne sich gegen ihn zu schützen.
Was ist
Wahrheit? - Schwarzert (Melanchthon): "Man predigt oft seinen
Glauben, wenn man ihn gerade verloren hat und auf allen Gassen sucht, - und man
predigt ihn dann nicht am schlechtesten!" -
Luther: Du redest heut' wahr wie ein Engel, Bruder!
Schwarzert: "Aber es ist der Gedanke deiner Feinde,
und sie machen auf dich die Nutzanwendung." -
Luther: So wär's eine Lüge aus des Teufels Hinterm.
Gewohnheit der
Gegensätze. - Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht
in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. "warm und kalt"), wo keine
Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte Gewohnheit
hat uns verleitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sittliche Welt,
nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel
Schmerzhaftigkeit, Anmaßung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die
menschliche Empfindung hineingekommen dadurch, daß man Gegensätze an Stelle der
Übergänge zu sehen meinte.
Ob man vergeben könne?--Wie
kann man ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen,
was sie tun! Man hat gar nichts zu vergeben. --Aber weiß ein Mensch jemals völlig, was er tut? Und wenn dies immer mindestens fraglich bleibt, so haben also die Menschen einander
nie etwas zu vergeben, und Gnadeüben ist für den Vernünftigsten ein unmögliches
Ding. Zu allerletzt: wenn die Übeltäter wirklich gewußt hätten, was
sie taten - so würden wir doch nur dann ein Recht zur Vergebung haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung
und zur Strafe hätten. Dies aber haben wir nicht.
15)
Habituelle Scham. - Warum empfinden wir Scham, wenn uns etwas
Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, "nicht
verdient haben"? Es scheint uns dabei, daß wir uns in ein Gebiet
eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten,
gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuß
unbetretbar ist. Durch den Irrtum anderer sind wir doch hineingelangt: und nun
überwältigt uns teils Furcht, teils Ehrfurcht, teils Überraschung, wir wissen
nicht, ob wir fliehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und seiner
Gnaden-Vorteile genießen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches
durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle Gnade erzeugt Scham. - Erwägt man aber, daß wir
überhaupt niemals etwas "verdient haben", so wird, im Fall man dieser
Ansicht innerhalb einer christlichen Gesamt-Betrachtung der Dinge sich hingibt,
das Gefühl der Scham habituell: weil einem Solchen Gott fortwährend zu segnen und Gnade zu üben scheint.
Abgesehen von dieser christlichen Auslegung wäre aber auch für den völlig
gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und
Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der habituellen Scham möglich: wenn man ihn behandelt, als ob er dies und jenes verdient habe, so scheint
er sich in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt
etwas verdienen, welche frei sind und ihres eigenen Wollens
und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt "du
hast es verdient", scheint ihm zuzurufen "du bist kein Mensch,
sondern ein Gott".
Der
ungeschickteste Erzieher. - Bei diesem sind auf dem Boden seines
Widerspruchsgeistes alle seine wirklichen Tugenden angepflanzt, bei jenem auf
seiner Unfähigkeit, nein zu sagen, also auf seinem Zustimmungsgeiste; ein
dritter hat alle seine Moralität aus seinem einsamen Stolze, ein vierter die
seine aus seinem starken Geselligkeitstriebe aufwachsen lassen. Gesetzt nun,
durch ungeschickte Erzieher und Zufälle wären bei diesen vieren die Samenkörner
der Tugenden nicht auf den Boden ihrer Natur ausgesäet worden, welcher bei
ihnen die meiste und fetteste Erdkrume hat: so wären sie ohne Moralität und
schwache unerfreuliche Menschen. Und wer würde gerade der ungeschickteste aller
Erzieher und das böse Verhängnis dieser vier Menschen gewesen sein? Der
moralische Fanatiker, welcher meint, daß das Gute nur aus dem Guten, auf dem
Guten wachsen könne.
Schreibart der
Vorsicht. -
A: Aber, wenn alle dies wüßten, so würde es den meisten schädlich sein! Du selber nennst diese
Meinungen gefährlich für die Gefährdeten, und doch teilst du sie öffentlich mit?
B: Ich schreibe so, daß weder der Pöbel, noch die populi, noch die Parteien aller Art mich lesen mögen.
Folglich werden diese Meinungen nie öffentliche sein. A.: Aber wie schreibst du
denn?
B.: Weder nützlich noch angenehm - für die
genannten drei.
Göttliche
Missionäre. - Auch Sokrates fühlt sich als göttlicher
Missionär: aber ich weiß nicht, was für ein Anflug von attischer Ironie und
Lust am Spaßen auch selbst hierbei noch zu spüren ist, wodurch jener fatale und
anmaßende Begriff gemildert wird. Er redet ohne Salbung davon: seine Bilder,
von der Bremse und dem Pferd, sind schlicht und unpriesterlich, und die
eigentlich religiöse Aufgabe, wie er sie sich gestellt fühlt, den Gott auf
hunderterlei Weise auf die Probe zu
stellen, ob er die Wahrheit geredet habe, läßt auf eine
kühne und freimütige Gebärde schließen, mit der hier der Missionär seinem Gotte
an die Seite tritt. Jenes Auf-die-Probe-Stellen des Gottes ist einer der
feinsten Kompromisse zwischen Frömmigkeit und Freiheit des Geistes, welche je
erdacht worden sind. - Jetzt haben wir auch diesen Kompromiß nicht mehr nötig.
Ehrliches
Malertum. - Raffael, dem viel an der Kirche (sofern sie
zahlungsfähig war), aber wenig, gleich den Besten seiner Zeit, an den
Gegenständen des kirchlichen Glaubens gelegen war, ist der anspruchsvollen
ekstatischen Frömmigkeit mancher seiner Besteller nicht einen Schritt weit
nachgegangen: er hat seine Ehrlichkeit bewahrt, selbst in jenem Ausnahme-Bild,
das ursprünglich für eine Prozessions-Fahne bestimmt war, in der Sixtinischen
Madonna. Hier wollte er einmal eine Vision malen: aber eine solche, wie sie
edle junge Männer ohne "Glauben" auch haben dürfen und haben werden,
die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelisch-vornehmen,
schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt.
Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem
ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Übermenschliches verehren: wir Jüngeren
wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur
Rechten halten, welche mit ihrem auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke
den Betrachtern des Bildes sagt: "Nicht wahr? Diese Mutter und ihr Kind -
das ist ein angenehmer einladender Anblick?" Dies Gesicht und dieser Blick
strahlt von der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder; der Künstler,
der dies alles erfand, genießt sich auf diese Weise selber und gibt seine
eigene Freude zur Freude der Kunst-Empfangenden hinzu. - In betreff des
"heilandhaften" Ausdrucks im Kopfe eines Kindes hat Raffael, der
Ehrliche, der keinen Seelenzustand malen wollte, an dessen Existenz er nicht
glaubte, seine gläubigen Betrachter auf eine artige Weise überlistet;
er malte jenes Naturspiel, das nicht selten vorkommt, das Männerauge im
Kindskopfe, und zwar das Auge des wackeren, hilfereichen Mannes, der einen
Notstand sieht. Zu diesem Auge gehört ein Bart; daß dieser fehlt und daß zwei
verschiedene Lebensalter hier aus einem Gesichte sprechen, dies ist die angenehme
Paradoxie, welche die Gläubigen sich im Sinne ihres Wunderglaubens gedeutet
haben: so wie es der Künstler von ihrer Kunst des Deutens und Hineinlegens auch
erwarten durfte.
16)
Das Gebet. - Nur unter zwei Voraussetzungen hatte alles
Beten - jene noch nicht völlig erloschene Sitte älterer Zeiten - einen Sinn: es
müßte möglich sein, die Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen, und der Betende
müßte selber am besten wissen, was ihm not tue, was für ihn wahrhaft
wünschenswert sei. Beide Voraussetzungen, in allen anderen Religionen
angenommen und hergebracht, wurden aber gerade vom Christentum geleugnet; wenn
es trotzdem das Gebet beibehielt, bei seinem Glauben an eine allweise und
allvorsorgliche Vernunft in Gott, durch welche eben dies Gebet im Grunde
sinnlos, ja gotteslästerlich wird, - so zeigte es auch darin wieder seine
bewunderungswürdige Schlangen-Klugheit; denn ein klares Gebot "du sollst
nicht beten" hätte die Christen durch die Langeweile zum Unchristentum geführt. Im christlichen ora
et labora vertritt nämlich das ora die Stelle des Vergnügens: und was hätten ohne das ora jene Unglücklichen beginnen sollen, die sich
das labora versagten, die Heiligen! - aber mit Gott sich unterhalten, ihm
allerlei angenehme Dinge abverlangen, sich selber ein wenig darüber lustig
machen, wie man so töricht sein könne, noch Wünsche zu haben, trotz einem so
vortrefflichen Vater, - das war für Heilige eine sehr gute Erfindung.
Eine heilige
Lüge. - Die Lüge, mit der auf den Lippen Arria starb (Paete,
non dolet), verdunkelt alle Wahrheiten, die je von
Sterbenden gesprochen wurden. Es ist die einzige heilige Lüge, die berühmt geworden ist; während der Geruch
der Heiligkeit sonst nur an Irrtümern haften blieb.
Der nötigste
Apostel. - Unter zwölf Aposteln muß immer einer hart wie Stein
sein, damit auf ihm die neue Kirche gebaut werden könne.
Was ist das
Vergänglichere, der Geist oder der Körper? - In den rechtlichen, moralischen und
religiösen Dingen hat das Äußerlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die
Gebärde, die Zeremonie, am meisten Dauer: sie ist der Leib, zu dem immer eine neue Seele hinzukommt. Der Kultus wird wie ein fester
Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das
Flüssige, die Sitten das Harte.
Der Glaube an
die Krankheit, als Krankheit. - Erst das Christentum hat den Teufel an die
Wand der Welt gemalt; erst das Christentum hat die Sünde in die Welt gebracht.
Der Glaube an die Heilmittel, welche es dagegen anbot, ist nun allmählich bis
in die tiefsten Wurzeln hinein erschüttert: aber immer noch besteht der Glaube an die Krankheit, welchen es gelehrt und verbreitet hat.
Rede und Schrift
der Religiösen. - Wenn der Stil und Gesamtausdruck des
Priesters, des redenden und schreibenden, nicht schon den religiösen Menschen ankündigt, so braucht man seine
Meinungen über Religion und zugunsten derselben nicht mehr ernst zu nehmen. Sie
sind für ihren Besitzer selber kraftlos gewesen, wenn er, wie sein Stil verrät,
Ironie, Anmaßung, Bosheit, Haß und alle Wirbel und Wechsel der Stimmungen
besitzt, ganz wie der unreligiöseste Mensch; - um wieviel kraftloser werden sie
erst für seine Hörer und Leser sein! Kurz, er wird dienen, dieselben
unreligiöser zu machen.
Gefahr in der
Person. - Je mehr Gott als Person für sich galt, um so weniger
ist man ihm treu gewesen. Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel
anhänglicher als ihren geliebtesten Geliebten: deshalb opfern sie sich für den
Staat, die Kirche und auch für Gott - sofern er eben ihr Erzeugnis, ihr Gedanke bleibt und nicht gar zu persönlich genommen
wird. Im letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm: selbst dem Frömmsten
entfuhr ja die bittere Rede "mein Gott, warum hast du mich verlassen!"
Die weltliche
Gerechtigkeit. - Es ist möglich, die weltliche
Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben - mit der Lehre von der völligen
Unverantwortlichkeit und Unschuld jedermanns: und es ist schon ein Versuch in
gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre
von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung jedermanns. Der Stifter
des Christentums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das
Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld
als "Sünde", das heißt als Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt
er jedermann im größten Maßstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder.
Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen sein: so urteilte
seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in
seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurteilten, und ihre Miene der
Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies sah er auf
die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für die
Beurteilung der Motive nur einen einzigen für scharfsichtig genug: sich selber
(oder wie er sich ausdrückte: Gott).
17)
Eine Affektation beim Abschiede. - Wer sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es sei nun für ihn nötig, sie zu widerlegen. Aber dies ist sehr hochmütig gedacht. Nötig ist nur, daß er klar einsieht, welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion anhielten und daß sie es nicht mehr tun, was für Absichten ihn dahin getrieben haben und daß sie jetzt anderswohin treiben. Wir sind nicht aus strengen Erkenntnisgründen auf die Seite jener Partei oder Religion getreten: wir sollen dies, wenn wir von ihr scheiden, auch nicht affektieren.
Heiland und Arzt. - Der Stifter des Christentums war, wie es
sich von selber versteht, als Kenner der menschlichen Seele nicht ohne die
größten Mängel und Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so
anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedizin ergeben. Er gleicht
in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz durch Ausreißen
des Zahnes heilen will; so zum Beispiel, indem er gegen die Sinnlichkeit mit
dem Ratschlage ankämpft: "Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es
aus." - Aber es bleibt doch noch der Unterschied, daß jener Zahnarzt
wenigstens sein Ziel erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten; freilich auf
so plumpe Art, daß er lächerlich wird: während der Christ, der jenem Ratschlage
folgt und seine Sinnlichkeit ertötet zu haben glaubt, sich täuscht: sie lebt
auf eine unheimliche, vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen
Vermummungen.
Die Gefangenen. - Eines Morgens traten die Gefangenen in den
Arbeitshof: der Wärter fehlte. Die einen von ihnen gingen, wie es ihre Art war,
sofort an die Arbeit, andere standen müßig und blickten trotzig umher. Da trat
einer vor und sagte laut: "Arbeitet so viel ihr wollt oder tut nichts: es
ist alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind ans Licht gekommen, der
Gefängniswärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein
fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und
nachträgerischen Sinnes. Nun aber merkt auf: ihr habt mich bisher verkannt: ich
bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr: ich bin der Sohn des
Gefängniswärters und gelte alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch
retten; aber, wohlgemerkt, nur diejenigen von euch, welche mir glauben, daß ich der Sohn des Gefängniswärters bin;
die übrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten." "Nun",
sagte nach einigem Schweigen ein älterer Gefangener, "was kann dir daran
gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben? Bist du wirklich der
Sohn und vermagst du das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns alle
ein: es wäre wirklich recht gutmütig von dir. Das Gerede von Glauben und
Unglauben aber laß beiseite!" "Und", rief ein jüngerer Mann
dazwischen, "ich glaub' es ihm auch nicht: er hat sich nur etwas in den Kopf
gesetzt. Ich wette, in acht Tagen befinden wir uns gerade noch so hier wie
heute, und der Gefängniswärter weiß nichts." "Und wenn er etwas gewußt hat, so weiß
er's nicht mehr", sagte der letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den
Hof hinabkam, "der Gefängniswärter ist eben plötzlich gestorben." -
"Holla", schrien mehrere durcheinander, "holla! Herr Sohn, Herr
Sohn, wie steht es mit der Erbschaft? Sind wir vielleicht jetzt deine Gefangenen?" - "Ich habe es euch
gesagt", entgegnete der Angeredete mild, "ich werde jeden freilassen,
der an mich glaubt, so gewiß als mein Vater noch lebt." - Die Gefangenen
lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und ließen ihn stehen.
Der Verfolger Gottes. - Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, daß Unzähligen seit Ewigkeiten die Verdammnis zuerkannt ist und daß dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare: Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, - um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen! Welche grausame und unersättliche Eitelkeit muß in der Seele dessen geflackert haben, der so etwas sich zuerst oder zu zweit ausdachte! - Paulus ist also doch Saulus geblieben - der Verfolger Gottes.
Sokrates. - Wenn alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständnis des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die Straßen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Temperamente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesamt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben und am eignen Selbst gerichtet; woraus man schließen möchte, daß das Eigentümlichste an Sokrates ein Anteilhaben an allen Temperamenten gewesen ist. - Vor dem Stifter des Christentums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene Weisheit voller Schelmenstreiche voraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Überdies hatte er den größeren Verstand.
18)
Gut schreiben
lernen. - Die Zeit des Gutredens ist vorbei, weil die Zeit der
Stadt-Kulturen vorbei ist. Die letzte Grenze, welche Aristoteles der großen
Stadt erlaubte - es müsse der Herold noch imstande sein, sich der ganzen
versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen -, diese Grenze kümmert uns so
wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über
die Völker hinweg verstanden werden wollen. Deshalb muß jetzt ein jeder, der
gut europäisch gesinnt ist, gut und immer
besser schreiben lernen: es hilft nichts, und wenn er selbst
in Deutschland geboren ist, wo man das Schlecht-schreiben als nationales
Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heißt zugleich auch besser denken;
immer Mitteilenswerteres erfinden und es wirklich mitteilen können; übersetzbar
werden für die Sprachen der Nachbarn; zugänglich sich dem Verständnisse jener
Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen; dahin wirken, daß alles Gute
Gemeingut werde und den Freien alles frei stehe; endlich, jenen jetzt noch so
fernen Zustand der Dinge vorbereiten, wo den guten Europäern ihre große Aufgabe in
die Hände fällt: die Leitung und Überwachung der gesamten Erdkultur. - Wer das
Gegenteil predigt, sich nicht um das Gutschreiben und Gutlesen zu kümmern -
beide Tugenden wachsen miteinander und nehmen miteinander ab -, der zeigt in
der Tat den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr national werden können: er vermehrt die Krankheit
dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien
Geister.
Die Lehre vom
besten Stile. - Die Lehre vom Stil kann einmal die Lehre
sein, den Ausdruck zu finden, vermöge dessen man jede Stimmung auf den Leser
und Hörer überträgt; sodann die Lehre, den Ausdruck für die wünschenswerteste Stimmung eines Menschen zu finden, deren
Mitteilung und Übertragung also auch am meisten zu wünschen ist: für die
Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und
aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Dies wird die
Lehre vom besten Stile sein: er entspricht dem guten Menschen.
Auf den Gang
acht geben. - Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor
ermüdet ist; der einzelne Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und
gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde: damals als der Gedanke
dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der zu oft
diktierte, wenn er müde war.
Schon und noch. -
A: Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe
meint, daß Wieland ihr Vater sei.
B: So jung und schon so häßlich!
C: Aber - soviel mir bekannt, schrieb schon der
Bischof Ulfilas deutsche Prosa; sie ist also gegen 1500 Jahre alt.
B: So alt und noch so häßlich!
Original-deutsch. - Die deutsche Prosa, welche in der Tat
nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales Erzeugnis des
deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer
zukünftigen, originalen, deutschen Kultur einen Fingerzeig geben, wie etwa,
ohne Nachahmung von Mustern, eine wirklich deutsche Tracht, eine deutsche
Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen
aussehen werde. - Jemand, der längere Zeit über diese Aussichten nachgedacht
hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus: "Aber, um des Himmels willen,
vielleicht haben wir schon diese originale Kultur - man
spricht nur nicht gerne davon!"
Verbotene Bücher. - Nie etwas lesen, was jene arroganten
Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste Unart, die der
logischen Paradoxie haben: sie wenden die logischen Formen gerade dort an, wo alles im Grunde
frech improvisiert und in die Luft gebaut ist. ("Also" soll bei ihnen
heißen "du Esel von Leser, für dich gib es dies `also' nicht - wohl aber für
mich" - worauf die Antwort lautet: "du Esel von Schreiber, wozu
schreibst du denn?")
Geist zeigen. - Jeder, der seinen Geist zeigen will, läßt merken, daß er auch reichlich vom
Gegenteil hat. Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen
Zug von dédain beizugeben, hat ihren Ursprung in der
Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind: sie wollen lässig schenken,
gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern.
19)
Deutsche und
französische Literatur. - Das Unglück der deutschen und
französischen Literatur der letzten hundert Jahre liegt darin, daß die
Deutschen zu zeitig aus der Schule der Franzosen gelaufen sind - und
die Franzosen, späterhin, zu zeitig in die Schule der Deutschen.
Unsere Prosa. - Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine
so schlechte Prosa wie das deutsche; und wenn geistreiche und verwöhnte
Franzosen sagen: es gibt keine deutsche Prosa - so dürfte man
eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir's verdienen.
Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebnis, daß der Deutsche nur die
improvisierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen Begriff
hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiener sagt, daß Prosa
gerade um so viel schwerer sei als Poesie, um wie viel die Darstellung der
nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der bekleideten
Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen -
das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreif-Dichtung
einen besonders hohen Wert zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer
Bildsäule arbeiten? - es ist ihm, also ob man ihm etwas aus dem Fabelland
vorerzählte.
Der große Stil. - Der große Stil entsteht, wenn das Schöne
den Sieg über das Ungeheure davonträgt.
Ausweichen. - Man weiß nicht eher, worin bei
ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn
man nicht sagen kann, auf welches Wort jeder mittelmäßige Schriftsteller beim
Ausdrücken derselben Sache unvermeidlich geraten sein würde. Alle großen
Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen
geneigt - doch nicht zum Umfallen.
Etwas wie Brot. - Brot neutralisiert den Geschmack anderer
Speisen, wischt ihn weg; deshalb gehört es zu jeder längeren Mahlzeit. In allen
Kunstwerken muß es etwas wie Brot geben, damit es verschiedene Wirkungen in
ihnen geben könne: welche, unmittelbar und ohne ein solches zeitweiliges Ausruhen
und Pausieren aufeinanderfolgend, schnell erschöpfen und Widerwillen machen
würden, so daß eine längere Mahlzeit der Kunst unmöglich wäre.
Jean Paul. - Jean Paul wußte sehr viel, aber hatte
keine Wissenschaft, verstand sich auf allerlei Kunstgriffe in den Künsten, aber
hatte keine Kunst, fand beinahe nichts ungenießbar, aber hatte keinen
Geschmack, besaß Gefühl und Ernst, goß aber, wenn er davon zu kosten gab, eine
widerliche Tränenbrühe darüber, ja er hatte Witz, - aber leider für seinen
Heißhunger danach viel zu wenig: weshalb er den Leser gerade durch seine
Witzlosigkeit zur Verzweiflung treibt. Im ganzen war er das bunte,
starkriechende Unkraut, welches über Nacht auf den zarten Fruchtfeldern
Schillers und Goethes aufschoß; er war ein bequemer, guter Mensch, und doch ein
Verhängnis, - ein Verhängnis im Schlafrock.
Auch den
Gegensatz zu schmecken wissen. - Um ein Werk der Vergangenheit so zu
genießen, wie es seine Zeitgenossen empfanden, muß man den damals herrschenden
Geschmack, gegen den es sich abhob, auf der Zunge haben.
Weingeist-Autoren. - Manche Schriftsteller sind weder Geist
noch Wein, aber Weingeist: sie können in Flammen geraten und geben dann Wärme.
Der Mittler-Sinn. - Der Sinn des Geschmacks, als der wahre
Mittler-Sinn, hat die anderen Sinne oft zu seinen Ansichten der Dinge überredet
und ihnen seine Gesetze und Gewohnheiten eingegeben. Man
kann bei Tische über die feinsten Geheimnisse der Künste Aufschlüsse erhalten:
man beachte, was schmeckt, wann es schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt.
Lessing. - Lessing hat eine echt französische Tugend
und ist überhaupt als Schriftsteller bei den Franzosen am fleißigsten in die
Schule gegangen: er versteht seine Dinge im Schauladen gut zu ordnen und
aufzustellen. Ohne diese wirkliche Kunst würden seine Gedanken sowie deren
Gegenstände ziemlich im Dunkel geblieben sein, und ohne daß die allgemeine
Einbuße groß wäre. An seiner Kunst haben aber viele gelernt (namentlich die
letzten Generationen deutscher Gelehrten) und Unzählige sich erfreut. Freilich
hätten jene Lernenden nicht nötig gehabt, wie so oft geschehen ist, ihm auch
seine unangenehme Ton-Manier, in ihrer Mischung von Zankteufelei und
Biederkeit, abzulernen. - Über den "Lyriker" Lessing ist man jetzt
einmütig: über den Dramatiker wird man es werden.
20)
Unerwünschte
Leser. - Wie quälen den Autor jene braven Leser mit den
dicklichten, ungeschickten Seelen, welche immer, wenn sie woran anstoßen, auch
umfallen und sich jedesmal dabei wehe tun!
Dichter-Gedanken. - Die wirklichen Gedanken gehen bei
wirklichen Dichtern alle verschleiert einher wie die Ägypterinnen: nur das
tiefe Auge des Gedankens blickt frei über den Schleier
hinweg. - Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt nicht so viel wert, als sie
gelten: man bezahlt eben für den Schleier und die eigene Neugierde mit.
Schreibt einfach
und nützlich. - Übergänge, Ausführungen, Farbenspiele des
Affekts, - alles das schenken wir dem Autor, weil wir dies mitbringen und
seinem Buche zugute kommen lassen, falls er selber uns etwas zugute tut.
Wieland. - Wieland hat besser als irgend jemand
deutsch geschrieben und dabei sein rechtes meisterliches Genügen und Ungenügen
gehabt (seine Übersetzungen der Briefe Ciceros und des Lucian sind die besten
deutschen Übersetzungen); aber seine Gedanken geben uns nichts mehr zu denken.
Wir vertragen seine heiteren Moralitäten ebensowenig wie seine heiteren
Immoralitäten: beide gehören so gut zu einander. Die Menschen, die an ihnen
ihre Freude hatten, waren doch wohl im Grunde bessere Menschen als wir, - aber
auch um ein gut Teil schwerfälligere, denen ein solcher Schriftsteller eben not tat. - Goethe tat den Deutschen nicht not, daher sie auch
von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich die Besten unserer
Staatsmänner und Künstler daraufhin an: sie alle haben Goethe nicht zum
Erzieher gehabt - nicht haben können.
Seltene Feste. - Körnige Gedrängtheit, Ruhe und Reife - wo
du diese Eigenschaften bei einem Autor findest, da mache Halt und feiere ein
langes Fest mitten in der Wüste: es wird dir lange nicht wieder so wohl werden.
Der Schatz der
deutschen Prosa. - Wenn man von Goethes Schriften absieht und
namentlich von Goethes Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen
Buche, das es gibt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur
übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenbergs
Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert
Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla, - und damit wird
es einstweilen am Ende sein.
Schreibstil und
Sprechstil. - Die Kunst zu schreiben verlangt vor allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, welche nur der
Redende hat: also für Gebärden, Akzente, Töne, Blicke. Deshalb ist der
Schreibstil ein ganz anderer als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres:
- er will mit wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes
hielt seine Reden anders als wir sie lesen: er hat sie zum Gelesenwerden erst
überarbeitet. - Ciceros Reden sollten zum gleichen Zwecke erst demosthenisiert werden:
jetzt ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.
Vorsicht im
Zitieren. - Die jungen Autoren wissen nicht, daß der gute
Ausdruck, der gute Gedanke sich nur unter seinesgleichen gut ausnimmt, daß ein
vorzügliches Zitat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es
den Leser warnt und ihm zuzurufen scheint: "Gib acht, ich bin der
Edelstein und rings um mich ist Blei, bleiches, schmähliches Blei!" Jedes
Wort, jeder Gedanke will nur in seiner
Gesellschaft leben: das ist die Moral des gewählten Stils.
Wie soll man
Irrtümer sagen? - Man kann streiten, ob es schädlicher sei,
wenn Irrtümer schlecht gesagt werden oder gut wie die besten Wahrheiten. Gewiß
ist, daß sie im ersteren Fall auf doppelte Weise dem Kopfe schaden und schwerer
aus ihm zu entfernen sind; aber freilich wirken sie nicht so sicher wie im
zweiten Falle: sie sind weniger ansteckend.
21)
Beschränken und
vergrößern. - Homer hat den Umfang des Stoffes
beschränkt, verkleinert, aber die einzelnen Szenen aus sich wachsen lassen und
vergrößert - und so machen es später die Tragiker immer von neuem: jeder nimmt
den Stoff in noch kleineren Stücken als sein Vorgänger, jeder aber
erzielt eine reichere Blütenfülle innerhalb dieser abgegrenzten,
umfriedeten Gartenhecken.
Literatur und
Moralität sich erklärend. - Man kann an der griechischen Literatur
zeigen, durch welche Kräfte der griechische Geist sich entfaltete, wie er in
verschiedene Bahnen geriet und woran er schwach wurde. Alles das gibt ein Bild
davon ab, wie es im Grunde auch mit der griechischen Moralität zugegangen ist und wie es mit jeder
Moralität zugehen wird: wie sie erst Zwang war, erst Härte zeigte, dann
allmählich milder wurde, wie endlich Lust an gewissen Handlungen, an gewissen Konventionen
und Formen entstand, und daraus wieder ein Hang zur alleinigen Ausübung, zum
Alleinbesitz derselben: wie die Bahn sich mit Wettbewerbenden füllt und
überfüllt, wie Übersättigung eintritt, neue Gegenstände des Kampfes und
Ehrgeizes aufgesucht, veraltete ins Leben erweckt werden, wie das Schauspiel
sich wiederholt und die Zuschauer des Zuschauens überhaupt müde werden, weil
nun der ganze Kreis durchlaufen scheint - - und dann kommt ein Stillstehen, ein
Ausatmen: die Bäche verlieren sich im Sande. Es ist das Ende da, wenigstens ein Ende.
Welche Gegenden
dauernd erfreuen. - Diese Gegend hat bedeutende Züge zu einem
Gemälde, aber ich kann die Formel für sie nicht finden, als Ganzes bleibt sie
mir unfaßbar. Ich bemerke, daß alle Landschaften, die mir dauernd zusagen,
unter aller Mannigfaltigkeit ein einfaches geometrisches Linien-Schema haben.
Ohne ein solches mathematisches Substrat wird keine Gegend etwas künstlerisch
Erfreuendes. Und vielleicht gestattet diese Regel eine gleichnishafte Anwendung
auf den Menschen.
Vorlesen. - Vorlesen können setzt voraus, daß man vortragen könne: man hat überall blasse Farben
anzuwenden, aber die Grade der Blässe in genauen Proportionen zu dem immer
vorschwebenden und dirigierenden, voll und tief gefärbten Grundgemälde, das
heißt nach dem Vortrage derselben Partie zu bestimmen. Also muß man
dieses letzteren mächtig sein.
Der dramatische
Sinn. - Wer die feineren vier Sinne der Kunst nicht hat,
sucht alles mit dem gröbsten, dem fünften zu verstehen: dies ist der
dramatische Sinn.
Herder. - Herder ist alles das nicht, was er von
sich wähnen machte (und selber zu wähnen wünschte): kein großer Denker und
Erfinder, kein neuer treibender Fruchtboden mit einer urwaldfrischen
unausgenutzten Kraft. Aber er besaß im höchsten Maße den Sinn der Witterung, er
sah und pflückte die Erstlinge der Jahreszeit früher als alle anderen, welche
dann glauben konnten, er habe sie wachsen lassen: sein Geist war zwischen
Hellem und Dunklem, Altem und Jungem und überall dort wie ein Jäger auf der
Lauer, wo es Übergänge, Senkungen, Erschütterungen, die Anzeichen inneren
Quellens und Werdens gab: die Unruhe des Frühlings trieb ihn umher, aber er
selber war der Frühling nicht! - Das ahnte er wohl zuzeiten, und wollte es doch
sich selber nicht glauben, er, der ehrgeizige Priester, der so gern der
Geister-Papst seiner Zeit gewesen wäre! Dies ist sein Leiden: er scheint lange
als Prätendent mehrerer Königtümer, ja eines Universalreiches gelebt zu haben
und hatte seinen Anhang, welcher an ihn glaubte: der junge Goethe war unter
ihm. Aber überall, wo zuletzt Kronen wirklich vergeben wurden, ging er leer
aus: Kant, Goethe, sodann die wirklichen ersten deutschen Historiker und
Philologen nahmen ihm weg, was er sich vorbehalten wähnte, - oft aber auch im
stillsten und geheimsten nicht wähnte. Gerade wenn er an sich zweifelte,
warf er sich gern die Würde und die Begeisterung um: dies waren bei ihm
allzuoft Gewänder, die viel verbergen, ihn selber täuschen und trösten mußten.
Er hatte wirklich Begeisterung und Feuer, aber sein Ehrgeiz war viel größer!
Dieser blies ungeduldig in das Feuer, daß es flackerte, knisterte und rauchte -
sein Stil flackert, knistert und raucht - aber er
wünschte die große Flamme, und diese brach nie hervor! Er saß
nicht an der Tafel der eigentlich Schaffenden: und sein Ehrgeiz ließ nicht zu,
daß er sich bescheiden unter die eigentlich Genießenden setzte. So war er ein
unruhiger Gast, der Vorkoster aller geistigen Gerichte, die sich die Deutschen
in einem halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreichen zusammenholten. Nie
wirklich satt und froh, war Herder überdies allzu häufig krank: da setzte sich
bisweilen der Neid an sein Bett, auch die Heuchelei machte ihren Besuch. Etwas
Wundes und Unfreies blieb an ihm haften: und mehr als irgend einem unserer
sogenannten "Klassiker" geht ihm die einfältige wackere
Mannhaftigkeit ab.
22)
Geruch der Worte. - Jedes Wort hat seinen Geruch: es gibt eine
Harmonie und Disharmonie der Gerüche und also der Worte.
Der gesuchte
Stil. - Der gefundene Stil ist eine Beleidigung für den
Freund des gesuchten Stils.
Gelöbnis. - Ich will keinen Autor mehr lesen, dem man
anmerkt, er wollte ein Buch machen: sondern nur jene, deren Gedanken unversehens
ein Buch wurden.
Die
künstlerische Konvention. - Dreiviertel Homer ist Konvention; und
ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen
Originalitätswut keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der
Konvention; durch diese hingen sie ja mit ihrem Publikum zusammen. Konventionen
sind nämlich die für das Verständnis der Zuhörer eroberten Kunstmittel, die mühevoll erlernte
gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich mitteilen kann. Zumal wenn er, wie der griechische
Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke sofort siegen will - da er öffentlich mit einem
oder zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist -, so ist die erste Bedingung,
daß er sofort auch verstanden werde: was aber nur durch die Konvention
möglich ist. Das, was der Künstler über die Konvention hinaus erfindet, das
gibt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten
Fall mit dem Erfolge, daß er eine neue Konvention schafft. Für gewöhnlich wird das Originale
angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Konvention
hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also
die moderne Originalitätswut hin?
Affektation der
Wissenschaftlichkeit bei Künstlern. - Schiller glaubte, gleich anderen deutschen
Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände
auch wohl mit der Feder
improvisieren. Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze da - in
jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Ästhetik und
Moral nicht angreifen dürfe - und eine Gefahr für junge
Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Mut haben,
vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken. - Die Versuchung, welche
den Künstler so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal über die
gerade ihm verbotene Wiese zu gehen und in der Wissenschaft ein Wort mitzusprechen - der Tüchtigste
nämlich findet zeitweilig sein Handwerk und seine Werkstätte unausstehlich -,
diese Versuchung bringt den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar
nicht zu sehen braucht, nämlich daß es in seinem Denkzimmerchen eng und
unordentlich aussieht - warum auch nicht? er wohnt ja nicht darin! -, daß die
Vorratsspeicher seines Wissens teils leer, teils mit Krimskrams gefüllt sind -
warum auch nicht? es steht dies sogar im Grunde dem Künstler-Kinde nicht übel
an -, namentlich aber, daß selbst für die leichtesten Handgriffe der
wissenschaftlichen Methode, die selbst Anfängern geläufig sind, seine Gelenke
zu ungeübt und schwerfällig sind - und auch dessen braucht er sich wahrlich
nicht zu schämen! - Da gegen entfaltet er oftmals keine geringe Kunst darin,
alle die Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten, wie sie in der
wissenschaftlichen Zunft vorkommen, nachzuahmen, im Glauben, dies eben gehöre, wenn nicht zur
Sache, so doch zum Schein der Sache; und dies gerade ist das Lustige an solchen
Künstler-Schriften, daß hier der Künstler, ohne es zu wollen, doch tut, was
seines Amtes ist: die wissenschaftlichen und unkünstlerischen Naturen zu parodieren. Eine andere Stellung zur Wissenschaft als
die parodische sollte er nämlich nicht haben, soweit er eben der Künstler und
nur der Künstler ist.
Die Faust-Idee. - Eine kleine Nähterin wird verführt und
unglücklich gemacht; ein großer Gelehrter aller vier Fakultäten ist der
Übeltäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein? Nein, gewiß
nicht! Ohne die Beihilfe des leibhaftigen Teufels hätte es der große Gelehrte nicht
zustande gebracht. - Sollte dies wirklich der größte deutsche "tragische
Gedanke" sein, wie man unter Deutschen sagen hört? - Für Goethe war aber
auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich; sein mildes Herz konnte nicht umhin,
die kleine Nähterin, "die gute Seele, die nur einmal sich vergessen",
nach ihrem unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu versetzen; ja selbst
den großen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im
entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel,
ihn, "den guten Menschen" mit dem "dunklen Drange": - dort
im Himmel finden sich die Liebenden wieder. - Goethe sagt einmal, für das
eigentlich Tragische sei seine Natur zu konziliant gewesen.
23)
Gibt es
"deutsche Klassiker"? - Sainte-Beuve bemerkt einmal, daß zu der
Art einiger Literaturen das Wort "Klassiker" durchaus nicht klingen
wolle: wer werde zum Beispiel so leicht von "deutschen Klassikern"
reden! - Was sagen unsre deutschen Buchhändler dazu welche auf dem Wege sind,
die fünfzig deutschen Klassiker, an die wir schon glauben sollen, noch um
weitere fünfzig zu vermehren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur 30
Jahre lang tot zu sein und als erlaubte Beute öffentlich dazuliegen brauche, um
unversehens plötzlich als Klassiker die Trompete der Auferstehung zu hören! Und
dies in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst von den sechs großen
Stammvätern der Literatur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, - ohne daß diese Zeit und dieses Volk sich gerade dessen zu schämen hätten! Denn jene sind vor den Stärken dieser Zeit zurückgewichen - man überlege es
sich nur mit aller Billigkeit! - Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab, er
gehört in eine höhere Gattung von Literaturen, als
"National-Literaturen" sind: deshalb steht er auch zu seiner Nation weder im Verhältnis des Lebens, noch des
Neuseins, noch des Veraltens. Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch:
für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von
Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter
und großer Mensch, sondern eine Kultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen
ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen Politik der
letzten 70 Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen! (während jedenfalls
darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing tätig
gewesen ist). Aber jene andern fünf! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten
auf eine sehr ehrwürdige Weise; und so gründlich, daß das nachdenkliche Buch
seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von
niemandem ernst genommen worden ist. Herder hatte das Unglück, daß seine
Schriften immer entweder neu oder veraltet waren; für die feineren und
stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herders
Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen
etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam
als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor.
Lessing lebt vielleicht heute noch, - aber unter jungen und immer jüngeren
Gelehrten! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der
Knaben, aller deutschen Knaben geraten! Es ist ja eine bekannte Art des
Veraltens, daß ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt. - Und was
hat diese fünf zurückgedrängt, so daß gut unterrichtete und arbeitsame Männer
sie nicht mehr lesen? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere
Achtung vor dem Wahren und Wirklichen: also lauter Tugenden, welche gerade
durch jene fünf (und durch zehn und zwanzig andere weniger lauten Namens) erst
wieder in Deutschland angepflanzt worden sind, und welche jetzt als hoher Wald
über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch etwas vom Schatten der
Vergessenheit breiten. - Aber Klassiker sind nicht Anpflanzer von intellektuellen und literarischen
Tugenden, sondern Vollender und höchste Lichtspitzen derselben, welche
über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zugrundegehen: denn sie sind
leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit
möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber
noch in dreißig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt: in den Klassikern.
Interessant,
aber nicht schön. - Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie
hat einen, den man erraten möchte: wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu
Worten aber ich weiß nicht, wo der Satz beginnt, der das Rätsel aller dieser
Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder
von dort aus zu lesen ist.
Gegen die
Sprach-Neuerer. - In der Sprache neuern oder altertümeln,
das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichtum des Wortschatzes statt auf
Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten
Geschmacks. Eine edle Armut, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine
meisterliche Freiheit zeichnet die griechischen Künstler der Rede aus: sie
wollen weniger haben, als das Volk hat - denn dieses ist am
reichsten in Altem und Neuem - aber sie wollen dies Weniger besser haben. Man ist schnell mit dem Aufzählen
ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im
Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem
Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein
gutes Auge hat.
24)
Die traurigen
und die ernsten Autoren. - Wer zu Papier bringt, was er leidet, wird ein trauriger Autor: aber ein ernster, wenn er uns sagt, was er litt und weshalb er jetzt in der Freude ausruht.
Gesundheit des
Geschmacks. - Wie kommt es, daß die Gesundheiten nicht
so ansteckend sind wie die Krankheiten - überhaupt, und namentlich im
Geschmack? Oder gibt es Epidemien der Gesundheit? -
Vorsatz. - Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit
geboren und (mit Tinte) getauft wurde.
Den Gedanken
verbessern. - Den Stil verbessern - das heißt den
Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! - Wer dies nicht sofort zugibt, ist
auch nie davon zu überzeugen.
Klassische
Bücher. - Die schwächste Seite jedes klassischen Buches ist
die, daß es zu sehr in der Muttersprache seines Autors geschrieben ist.
Schlechte Bücher. - Das Buch soll nach Feder, Tinte und
Schreibtisch verlangen: aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch
nach dem Buche. Deshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern.
Sinnesgegenwart. - Das Publikum wird, wenn es über Gemälde
nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum
Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am rechten Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an
der Sinnesgegenwart.
Gewählte
Gedanken. - Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht
nur die Worte, sondern auch die Gedanken aus, - und zwar beide aus dem Üblichen und Herrschenden: die gewagten und allzufrisch riechenden
Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider als die neuen
tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht beides - der gewählte Gedanke
und das gewählte Wort - leicht nach Mittelmäßigkeit, weil der Geruch des
Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Übliche und
Alltägliche daran geschmeckt wird.
Hauptgrund der
Verderbnis des Stils. - Mehr Empfindung für eine Sache zeigen wollen, als man wirklich hat, verdirbt den Stil, in der Sprache und in allen Künsten.
Vielmehr hat alle große Kunst die umgekehrte Neigung: sie liebt es, gleich
jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und
nicht ganz ans Ende laufen zu lassen. Diese Scham der
halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu
beobachten; und es scheint die Züge der Empfindung zu verklären, wenn diese
sich selber nüchterner gibt, als sie ist.
Zur
Entschuldigung der schwerfälligen Stilisten. - Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer
ins Gehör, als die Sache wirklich wiegt - das liegt aber an den schlecht
geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch das, was man bisher Musik
nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heißt der Rede, übergehen müssen.
Vogelperspektive. - Hier stürzen Wildwasser von mehreren
Seiten einem Schlunde zu: ihre Bewegung ist so stürmisch und reißt das Auge so
mit sich fort, daß die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht
abzusinken, sondern wie hinabzufliehen scheinen. Man wird beim Anblick angstvoll
gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem
alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese
Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, daß man wie ein Vogel in der freien
Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspektive nicht
eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit.
25)
Gewagte
Vergleichungen. - Wenn die gewagten Vergleichungen nicht
Beweise vom Mutwillen des Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner
ermüdeten Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines schlechten
Geschmackes.
In Ketten tanzen. - Bei jedem griechischen Künstler, Dichter
und Schriftsteller ist zu fragen: welches ist der neue Zwang, den er sich auferlegt und den er seinen
Zeitgenossen reizvoll macht (so daß er Nachahmer findet)? Denn was man
"Erfindung" (im Metrischen zum Beispiel) nennt, ist immer eine solche
selbstgelegte Fessel. "In Ketten tanzen", es sich schwer machen und
dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, - das ist das Kunststück,
welches sie uns zeigen wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten
Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen innerhalb deren er tanzen mußte: und er selber schuf
neue Konventionen für die Kommenden hinzu. Dies war die Erziehungs-Schule der
griechischen Dichter: zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen
lassen durch die früheren Dichter; sodann einen neuen Zwang hinzuerfinden, ihn
sich auferlegen und ihn anmutig besiegen: so daß Zwang und Sieg bemerkt und
bewundert werden.
Fülle der
Autoren. - Das Letzte, was ein guter Autor bekommt, ist Fülle;
wer sie mitbringt, wird nie ein guter Autor werden. Die edelsten Rennpferde
sind mager, bis sie von ihren Siegen ausruhen dürfen.
Keuchende Helden. - Dichter und Künstler, die an
Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden am meisten keuchen: sie
verstehen sich auf das leichte Atmen nicht.
Der Halb-Blinde. - Der Halb-Blinde ist der Todfeind aller
Autoren, welche sich gehen lassen. Diese sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem
er ein Buch zuschlägt, aus welchem er merkt, daß sein Verfasser fünfzig Seiten
braucht, um fünf Gedanken mitzuteilen; jenen Ingrimm darüber, den Rest seiner
Augen fast ohne Entgelt in Gefahr gebracht zu haben. - Ein Halb-Blinder sagte: alle Autoren haben sich gehen lassen. -
"Auch der heilige Geist?" - Auch der heilige Geist. Aber der durfte
es; er schrieb für, die Ganz-Blinden.
Der Stil der
Unsterblichkeit. - Thukydides sowohl wie Tacitus - beide
haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben
gedacht: dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile zu
erraten sein. Der eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der andere
durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben; und beide, scheint es, haben sich
nicht verrechnet.
Gegen Bilder und
Gleichnisse. - Mit Bildern, und Gleichnissen überzeugt
man, aber beweist nicht. Deshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche
Scheu vor Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Überzeugende, das Glaublich-Machende nicht und fordert vielmehr das kälteste Mißtrauen
auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das
Mißtrauen der Prüfstein für das Gold der Gewißheit ist.
Vorsicht. - Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der
mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da
nicht: "er ist unwissend", sondern: "er ist von zweifelhaftem
Charakter". - Dieser übereilte Schluß macht übrigens den Deutschen alle
Ehre.
Bemalte Gerippe. - Bemalte Gerippe: das sind jene Autoren,
welche das, was ihnen an Fleisch abgeht, durch
künstliche Farben ersetzen möchten.
Der großartige
Stil und das Höhere. - an lernt es schneller, großartig
schreiben, als leicht und schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich
ins Moralische.
26)
Sebastian Bach. - Sofern man Bachs Musik nicht als vollkommener und gewitzigter Kenner des
Kontrapunktes und aller Arten des fugierten Stiles hört und demgemäß des
eigentlichen artistischen Genusses entraten muß, wird es uns als Hörern seiner
Musik zumute sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei
wären, wie Gott die
Welt schuf. Das heißt: wir fühlen, daß hier etwas Großes
im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere große moderne Musik. Sie hat schon die Welt
überwunden, dadurch daß sie die Kirche, die Nationalitäten und den Kontrapunkt
überwand. In Bach ist noch zuviel krude Christlichkeit, krudes Deutschtum,
krude Scholastik; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik,
aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um.
Händel. - Händel, im Erfinden seiner Musik kühn,
neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen zugewandt und verwandt,
dessen ein Volk fähig ist, - wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt,
ja an sich selber müde; da wendete er einige erprobte Methoden der Durchführung
an, schrieb schnell und viel und war froh, wenn er fertig war, - aber nicht in
der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktages gewesen
sind.
Haydn. - Soweit sich Genialität mit einem
schlechthin guten Menschen verbinden kann, hat Haydn sie gehabt.
Er geht gerade bis an die Grenze, welche die Moralität dem Intellekt zieht; er
macht lauter Musik, die "keine Vergangenheit" hat.
Beethoven und
Mozart. - Beethovens Musik erscheint häufig wie eine
tiefbewegte Betrachtung beim unerwarteten Wiederhören eines längst
verloren geglaubten Stückes "Unschuld in Tönen": es ist Musik über Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf
der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiener, beim Tanze in der
Dorfschenke oder in den Nächten des Karnevals, - da entdeckt er seine
"Melodien": er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier
bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärte Erinnerungen aus der "besseren Welt": ähnlich
wie Plato es sich von den Ideen dachte. - Mozart steht ganz anders zu seinen
Melodien: er findet seine Inspirationen nicht beim Hören von Musik, sondern im
Schauen des Lebens, des bewegtesten südländischen Lebens: er träumte immer von Italien, wenn
er nicht dort war.
Rezitativ. - Ehemals war das Rezitativ trocken; jetzt
leben wir in der Zeit des nassen
Rezitativs: es ist ins Wasser gefallen, und die Wellen
reißen es, wohin sie wollen.
"Heitere"
Musik. - Hat man lange die Musik entbehrt, so geht sie nachher
wie ein schwerer Südwein allzuschnell ins Blut und hinterläßt eine narkotisch
betäubte, halbwache, schlaf-sehnsüchtige Seele; namentlich tut dies gerade die heitere Musik, welche zusammen Bitterkeit und
Verwundung, Überdruß und Heimweh gibt und alles wie in einem verzuckerten
Giftgetränk wieder und wieder zu schlürfen nötigt. Dabei scheint der Saal der
heiter rauschenden Freude sich zu verengern, das Licht an Helle zu verlieren
und bräuner zu werden: zuletzt ist es einem zu Mute, als ob die Musik wie in
ein Gefängnis hineinklinge, wo ein armer Mensch vor Heimweh nicht schlafen kann.
Franz Schubert. - Franz Schubert, ein geringerer Artist als
die anderen großen Musiker, hatte doch von allen den größten Erbreichtum an Musik. Er verschwendete ihn mit voller
Hand und aus gütigem Herzen: so daß die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an
seinen Gedanken und Einfällen zu zehren haben werden. In seinen Werken haben wir
einen Schatz von unverbrauchten Erfindungen; andere werden ihre Größe im
Verbrauchen haben. - Dürfte man Beethoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes
nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu
heißen.
Modernster
Vortrag der Musik. - Der große tragisch dramatische Vortrag in
der Musik bekommt seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des großen Sünders, wie ihn das Christentum sich denkt und
wünscht: des langsam Schreitenden, leidenschaftlich Grübelnden, des von
Gewissensqual Hin- und Hergeworfenen, des entsetzt Fliehenden, des entzückt
Haschenden, des verzweifelt Stillestehenden - und was sonst alles die Merkmale
des großen Sündertums sind. Nur unter der Voraussetzung des Christen, daß alle
Menschen große Sünder sind und gar nichts tun, als sündigen, ließe es sich
rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf alle Musik anzuwenden: insofern die Musik das
Abbild alles menschlichen Tun und Treibens wäre, und als solches die
Gebärdensprache des großen Sünders fortwährend zu sprechen hätte. Ein Zuhörer,
der nicht genug Christ wäre, um diese Logik zu verstehen, dürfte freilich bei
einem solchen Vortrage erschreckt ausrufen: "Um des Himmels willen, wie
ist denn die Sünde in die Musik gekommen!"
27)
Felix
Mendelssohn. - Felix Mendelssohns Musik ist die Musik des
guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist: sie weist immer hinter
sich. Wie könnte sie viel "Vor-sich", viel Zukunft haben! - Aber hat
er sie denn haben wollen? Er besaß eine Tugend, die unter Künstlern
selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken: auch diese Tugend weist
immer hinter sich.
Eine Mutter der
Künste. - In unserem skeptischen Zeitalter gehört zur
eigentlichen Devotion fast ein brutaler Heroismus des Ehrgeizes; das fanatische Augenschließen und Kniebeugen
genügt nicht mehr. Wäre es nicht möglich, daß der Ehrgeiz, in der Devotion der
Letzte für alle Zeiten zu sein, der Vater einer letzten katholischen
Kirchenmusik würde, wie er schon der Vater des letzten kirchlichen Baustils
gewesen ist? (Man nennt ihn Jesuitenstil.)
Freiheit in
Fesseln - eine fürstliche Freiheit. - Der letzte der neueren Musiker, der die
Schönheit geschaut und angebetet hat gleich Leopardi, der Pole Chopin, der
Unnachahmliche - alle vor und nach ihm Gekommenen haben auf dies Beiwort kein
Anrecht - Chopin hatte dieselbe fürstliche Vornehmheit der Konvention, welche
Raffael im Gebrauche der herkömmlichsten einfachsten Farben zeigt, - aber nicht
in bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen
Herkömmlichkeiten. Diese ließ er gelten, als geboren in der Etiquette, aber wie der freieste und anmutigste Geist
in diesen Fesseln spielend und tanzend - und zwar ohne sie zu verhöhnen.
Chopins
Barcarole. - Fast alle Zustände und Lebensweisen haben
einen seligen Moment. Den wissen die guten Künstler herauszufischen.
So hat einen solchen selbst das Leben am Strande, das so langweilige,
schmutzige, ungesunde, in der Nähe des lärmendsten und habgierigsten Gesindels
sich abspinnende; - diesen seligen Moment hat Chopin in der Barcarole so zum
Ertönen gebracht, daß selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange Sommerabende
in einem Kahne zu liegen.
Robert Schumann. - Der "Jüngling", wie ihn die
romantischen Liederdichter Deutschlands und Frankreichs um das erste Drittel
dieses Jahrhunderts träumten, - dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton
übersetzt worden - durch Robert Schumann, den ewigen Jüngling, so lange er sich
in voller eigner Kraft fühlte: es gibt freilich Momente, in denen seine Musik
an die ewige "alte Jungfer" erinnert.
Die dramatischen
Sänger. - "Warum singt dieser Bettler?" - Er versteht
wahrscheinlich nicht zu jammern. - "Dann tut er Recht: aber unsere
dramatischen Sänger, welche jammern, weil sie nicht zu singen verstehen - tun
sie auch das Rechte?"
Dramatische
Musik. - Für den, welcher nicht sieht, was auf der Bühne
vorgeht, ist die dramatische Musik ein Unding; so gut der fortlaufende
Kommentar zu einem verloren gegangenen Texte ein Unding ist. Sie verlangt ganz
eigentlich, daß man auch die Ohren dort habe, wo die Augen stehen; damit ist
aber an Euterpe Gewalt geübt: diese arme Muse will, daß man ihre Augen und
Ohren dort stehen lasse, wo alle anderen Musen sie auch haben.
Sieg und
Vernünftigkeit. - Leider entscheidet auch bei den
ästhetischen Kriegen, welche Künstler mit ihren Werken und deren Schutzreden
erregen, zuletzt die Kraft und nicht die Vernunft. Jetzt nimmt alle Welt als
historische Tatsache an, daß Gluck im Kampfe mit Piccini Recht gehabt habe: jedenfalls hat er gesiegt; die Kraft stand auf seiner Seite.
Vom Prinzipe des
Vortrags in der Musik. - Glauben denn wirklich die jetzigen
Künstler des musikalischen Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, jedem
Stück so viel Hochrelief zu geben, als nur möglich ist, und es um
jeden Preis eine dramatische Sprache reden zu lassen? Ist dies, zum
Beispiel auf Mozart angewendet, nicht ganz eigentlich eine Sünde wider den
Geist, den heiteren, sonnigen, zärtlichen, leichtsinnigen Geist Mozarts, dessen
Ernst ein gütiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus
der Wand herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen und Flucht zu
jagen. Oder meint ihr, Mozartische Musik sei gleichbedeutend mit "Musik des
steinernen Gastes"? Und nicht nur Mozartische, sondern alle Musik? - Aber
ihr entgegnet, die größere Wirkung spreche zugunsten eures Prinzips - und ihr
hättet recht, wofern nicht die Gegenfrage übrig bliebe, auf wen da gewirkt worden sei, und auf wen ein
vornehmer Künstler überhaupt nur wirken wollen dürfe! Niemals auf das Volk! Niemals auf die
Unreifen! Niemals auf die Empfindsamen! Niemals auf die Krankhaften! Vor allem
aber: niemals auf die Abgestumpften!
28)
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Musik von heute. - Diese modernste Musik, mit ihren starken
Lungen und schwachen Nerven, erschrickt immer zuerst vor sich selber.
Wo die Musik
heimisch ist. - Die Musik erlangt ihre große Macht nur
unter Menschen, welche nicht diskutieren können oder dürfen. Ihre Förderer
ersten Ranges sind deshalb Fürsten, welche wollen, daß in ihrer Nähe nicht viel
kritisiert, ja nicht einmal viel gedacht werde; sodann Gesellschaften, welche
unter irgend einem Drucke (einem fürstlichen oder religiösen) sich an das
Schweigen gewöhnen müssen, aber um so stärkere Zaubermittel gegen die
Langeweile des Gefühls suchen (gewöhnlich die ewige Verliebtheit und die ewige
Musik); drittens ganze Völker, in denen es keine "Gesellschaft" gibt,
aber um so mehr einzelne mit einem Hang zur Einsamkeit, zu halbdunklen Gedanken
und zur Verehrung alles Unaussprechlichen: es sind die eigentlichen
Musikseelen. - Die Griechen, als ein red- und streitlustiges Volk, haben
deshalb die Musik nur als Zukost zu Künsten vertragen, über welche sich
wirklich streiten und reden läßt: während über die Musik sich kaum reinlich denken läßt. Die Pythagoreer, jene
Ausnahme-Griechen in vielen Stücken, waren, wie verlautet, auch große Musiker:
dieselben, welche das fünfjährige Schweigen, aber nicht die Dialektik erfunden haben.
Sentimentalität
in der Musik. - Man sei der ernsten und reichen Musik noch
so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem
Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen; ich
meine: von jenen allereinfachsten italienischen Opern-Melismen, welche, trotz
aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie
die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr
Pharisäer des guten Geschmacks: es ist so, und mir liegt jetzt daran, dieses
Rätsel, daß es so ist, zum Raten aufzugeben und selber ein wenig daran
herumzuraten. - Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge
zum erstenmal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er
verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings,
der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals -
es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens - hörten wir die erste
Musik, und das war die, welche wir zuerst verstanden, die einfachste und kindlichste also, welche
nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise
war. (Man muß nämlich auch für die geringsten "Offenbarungen" der
Kunst erst vorbereitet und eingelernt werden: es gibt durchaus keine
"unmittelbare" Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon
gefabelt haben.) An jene ersten musikalischen Entzückungen - die stärksten
unseres Lebens - knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italienischen
Melismen hören: die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl
des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes - das rührt dabei die
Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart
der Kunst allein nicht vermag. - Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem
moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt "Sentimentalität" zu
nennen pflegt, etwas gar zu hoffärtig, wie mir scheint - es ist die Stimmung
Faustens am Schlusse der ersten Szene - diese "Sentimentalität" der
Hörenden kommt der italienischen Musik zugute, welche sonst die erfahrenen
Feinschmecker der Kunst, die reinen "Ästhetiker", zu ignorieren
lieben. - Übrigens wirkt fast jede Musik erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören: und insofern scheint dem Laien
alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben
geborene nur wenig wert zu sein: denn sie erregt noch keine
"Sentimentalität", welche, wie gesagt, das wesentlichste
Glücks-Element der Musik für jeden ist, der nicht rein als Artist sich an
dieser Kunst zu freuen vermag.
Als Freunde der
Musik. - Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir
dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, - sie
wollen nur, so gut sie es können, unsere Nächte erhellen. Aber nicht wahr? scherzen und
lachen dürfen wir trotzdem über sie? Ein wenig wenigstens? Und von Zeit zu
Zeit! Über den Mann im Monde! Über das Weib in der Musik!
Die Kunst in der
Zeit der Arbeit. - Wir haben das Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters: dies erlaubt uns nicht, die
besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber
die größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Muße, der Erholung:
wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unserer Kräfte. - Dies ist die
allgemeinste Tatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert
ist: sie hat, wenn sie ihre großen Zeit- und Kraft-Ansprüche an die
Kunst-Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen gegen sich, sie ist auf die Gewissenlosen und
Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der großen Kunst nicht zugetan sind und ihre Ansprüche
als Anmaßungen empfinden. Es dürfte deshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die
Luft und der freie Atem fehlt: oder - die große Kunst versucht, in einer Art
Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden
(mindestens es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur für die kleine Kunst, für die Kunst der Erholung, der
ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist. Dies geschieht jetzt
allerwärts; auch die Künstler der großen Kunst versprechen Erholung und
Zerstreuung, auch sie wenden sich an den Ermüdeten, auch sie bitten ihn um die
Abendstunden seines Arbeitstages, - ganz wie die unterhaltenden Künstler,
welche zufrieden sind, gegen den schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der
Augen einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff ihrer
größeren Genossen? Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten
Erregungsmittel, bei denen selbst der Halbtote noch zusammenschrecken muß; sie
haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Tränenkrämpfe: mit diesen
überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige
Überlebendigkeit, in ein Außer-sich-sein des Entzückens und des Schreckens. Dürfte
man, wegen der Gefährlichkeit ihrer Mittel, der großen Kunst, wie sie jetzt,
als Oper, Tragödie und Musik, lebt, - dürfte man ihr als einer arglistigen
Sünderin zürnen? Gewiß nicht, sie lebte ja selber hundertmal lieber in dem
reinen Element der morgendlichen Stille und wendete sich an die erwartenden,
unverbrauchten, kraftgefüllten Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer. Danken
wir ihr, daß sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufliehen: aber gestehen
wir uns auch ein, daß für ein Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle
Fest- und Freudentage in das Leben einführt, unsere große Kunst unbrauchbar sein wird.
29)
file:///I:/proj-gutenb/gutbg.spiegel/nietzsch/wanderer/wande029.htm
Die Angestellten
der Wissenschaft und die anderen. - Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen
Gelehrten könnte man insgesamt als "Angestellte" bezeichnen. Wenn, in
jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr Gedächtnis gefüllt ist,
wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren
Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften
Nutzen bringen können: späterhin, nachdem sie selber den Blick für die
lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen
sie sich von selber dorthin, wo sie not tun. Diese Naturen allesamt sind um der
Wissenschaft willen da: aber es gibt seltnere, selten gelingende und völlig
ausreifende Naturen, "um derentwillen die Wissenschaft da ist" -
wenigstens scheint es ihnen selber so -: oft unangenehme, oft eingebildete, oft
querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind
nicht Angestellte und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von
jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften
Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe: gleichsam als ob jene einer
niedrigeren Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die
gleichen Eigenschaften, wodurch diese anderen sich auszeichnen, und diese
mitunter sogar ungenügender entwickelt: obendrein ist ihnen eine Beschränktheit eigentümlich, die jenen fehlt, um
derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen
nützliche Werkzeuge zu sehen, - sie können nur in ihrer eigenen Luft, auf eigenem Boden leben. Diese
Beschränktheit gibt ihnen ein, was alles von einer Wissenschaft "zu ihnen
gehöre", das heißt, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können;
sie wähnen immer ihr zerstreutes "Eigentum" zu sammeln. Verhindert
man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel
zugrunde; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden
der Wissenschaft in der Art jener anderen, so sind es doch immer nur solche, wo
gerade die ihnen nötigen Früchte und Samen gedeihen; was geht es sie an, ob die
Wissenschaft, im ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden
hat? Es fehlt ihnen jede unpersönliche Teilnahme an einem Problem der Erkenntnis;
wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre
Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen
Vielfachen, dessen einzelne Teile voneinander abhängen, ineinander greifen,
gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen
Geruch hat. - Solche Naturen bringen, mit diesen ihren personenhaften Erkenntnis-Gebilden, jene Täuschung hervor, daß eine Wissenschaft (oder gar die
ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe; das Leben in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus: als
welcher zuzeiten sehr verhängnisvoll für die Wissenschaft und irreführend für
jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen
ist, zu andern Zeiten wiederum, als die Dürre und die Ermattung herrschten, wie
ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen, erquicklichen Raststätte
gewirkt hat. - Gewöhnlich nennt man solche Menschen Philosophen.
Anerkennung des
Talents. - Als ich durch das Dorf S. ging, fing ein Knabe aus
Leibeskräften an, mit der Peitsche zu knallen, - er hatte es schon weit in
dieser Kunst gebracht und wußte es. Ich warf ihm einen Blick der Anerkennung
zu, - im Grunde tat mir's bitter wehe. - So machen wir es bei der Anerkennung
vieler Talente. Wir tun ihnen wohl, wenn sie uns wehe tun.
Lachen und
Lächeln. - Je freudiger und sicherer der Geist wird, um so mehr
verlernt der Mensch das laute Gelächter; dagegen quillt ihm ein geistiges
Lächeln fortwährend auf, ein Zeichen seines Verwunderns über die zahllosen
versteckten Annehmlichkeiten des guten Daseins.
Unterhaltung der
Kranken. - Wie man bei seelischem Kummer sich die Haare rauft,
sich vor die Stirn schlägt, die Wange zerfleischt oder gar wie Ödipus die Augen
ausbohrt: so ruft man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige
bittere Empfindung zu Hilfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger,
durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten und Dolchstiche, welche man
im Geiste gegen Abwesende schleudert. Und es ist bisweilen dabei wahr: daß ein
Teufel den andern austreibt, - aber man hat dann den andern. - Darum sei den Kranken
jene andere Unterhaltung anempfohlen, bei der sich die Schmerzen zu mildern
scheinen: über Wohltaten und Artigkeiten nachzudenken, welche man Freund und
Feind erweisen kann.
30)
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Mediokrität als
Maske. - Die Mediokrität ist die glücklichste Maske, die der
überlegene Geist tragen kann, weil sie die große Menge, das heißt die
Mediokren, nicht an Maskierung denken läßt -: und doch nimmt er sie gerade
ihretwegen vor, - um sie nicht zu reizen, ja nicht selten aus Mitleid und Güte.
Die Geduldigen. - Die Pinie scheint zu horchen, die Tanne zu
warten: und beide ohne Ungeduld: - sie denken nicht an den kleinen Menschen
unter sich, den seine Ungeduld und seine Neugierde auffressen.
Die besten
Scherze. - Der Scherz ist mir am willkommensten, der an
Stelle eines schweren, nicht unbedenklichen Gedankens steht, zugleich als Wink
mit dem Finger und Blinzeln des Auges.
Zubehör aller
Verehrung. - Überall, wo die Vergangenheit verehrt wird,
soll man die Säuberlichen und Säubernden nicht einlassen. Der Pietät wird ohne
ein wenig Staub, Unrat und Unflat nicht wohl.
Die große Gefahr
der Gelehrten. - Gerade die tüchtigsten und gründlichsten
Gelehrten sind in der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu sehen
und, im Gefühl davon, in der zweiten Hälfte ihres Lebens immer mißmutiger und
unverträglicher zu werden. Zuerst schwimmen sie mit breiten Hoffnungen in ihre
Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu, deren Ziele mitunter
durch ihre Phantasie schon vorweggenommen werden: dann gibt es Augenblicke wie
im Leben der großen entdeckenden Schiffahrer, - Wissen, Ahnung und Kraft heben
einander immer höher, bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge
aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel
daran gelegen ist, daß die Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie
möglich genommen werde, damit sie ohne Rest gelöst werden könne und jene
unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde, an welcher frühere Perioden
der Wissenschaft litten: alle Arbeiten wurden zehnmal gemacht, und dann hatte
immer noch der elfte das letzte und beste Wort zu sagen. Je mehr aber der
Gelehrte dieses Rätsel-Lösen ohne Rest kennen lernt und übt, um so größer wird
auch seine Lust daran: aber ebenso wächst auch die Strenge seiner Ansprüche in
bezug auf das, was hier "ohne Rest" genannt ist. Er legt alles beiseite,
was in diesem Sinne unvollständig bleiben muß, er gewinnt einen Widerwillen und
eine Witterung gegen das Halb-Lösbare, - gegen alles, was nur im Ganzen und
Unbestimmteren eine Art Sicherheit ergeben kann. Seine Jugendpläne zerfallen
vor seinem Blicke: kaum bleiben einige Knoten und Knötchen daraus übrig, an
deren Entknüpfung jetzt der Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. Und nun,
mitten in dieser so nützlichen, so rastlosen Tätigkeit überfällt ihn, den
Ältergewordenen, plötzlich und dann öfter wieder ein tiefer Mißmut, eine Art
Gewissens-Qual: er sieht auf sich hin, wie auf einen Verwandelten, als ob er
verkleinert, erniedrigt, zum kunstfertigen Zwergen umgeschaffen wäre, er beunruhigt sich
darüber, ob nicht das meisterliche Walten im kleinen eine Bequemlichkeit sei,
eine Ausflucht vor der Mahnung zur Größe des Lebens und Gestaltens. Aber er
kann nicht mehr hinüber, - die Zeit ist um.
Die Lehrer im
Zeitalter der Bücher. - Dadurch, daß die Selbst-Erziehung und
Verbrüderungs- Erziehung allgemeiner wird, muß der Lehrer in seiner jetzt
gewöhnlichen Form fast entbehrlich werden. Lernbegierige Freunde, die sich
zusammen ein Wissen aneignen wollen, finden in unserer Zeit der Bücher einen
kürzeren und natürlicheren Weg, als "Schule" und "Lehrer"
sind.
Die Eitelkeit
als die große Nützlichkeit. - Ursprünglich behandelt der starke Einzelne
nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren
Einzelnen als Gegenstand des Raub- Baues: er nützt sie aus, so viel er kann,
und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen Hunger und
Überfluß, so tötet er mehr Tiere, als er verzehren kann, und plündert und
mißhandelt die Menschen mehr, als nötig wäre. Seine Machtäußerung ist eine
Racheäußerung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand: sodann will
er für mächtiger gelten, als er ist, und mißbraucht deshalb die Gelegenheiten:
der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, daß
nicht das, was er ist, sondern das, was er gilt, ihn trägt oder niederwirft: hier ist der
Ursprung der Eitelkeit. Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung
des Glaubens an seine Macht. - Die Unterworfenen, die vor
ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, daß sie genau so viel wert sind,
als sie ihm gelten: weshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und
nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den
abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimierungen und kleinen Dosen, weil wir
in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben:
ursprünglich ist sie die große
Nützlichkeit, das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird
die Eitelkeit um so größer sein, je klüger der einzelne ist: weil die
Vermehrung des Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht
selber, aber nur für den, der Geist hat - oder, wie es für Urzustände heißen
muß, der listig und hinterhaltig ist.
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