2. Über Wahrheit und Lüge im a-moralischen Sinne
(NOO2-2)
Die Noo-Serie: Band II-2
Version: 070417
© Andreas Goppold
Die Systematologie der Lüge
2.1. Preliminarien
2.1.1. Motto
Es ist elend schwer zu lügen, wenn
man die Wahrheit nicht kennt.
Peter Esterhazy
Si non e vero, e bon
trovato.
Wenn es schon nicht wahr ist, so ist es
doch wenigstens gut erfunden.
Ital. Volksmund
2.1.2. Verschleierung und die
Fähigkeiten des "Wahren
Lügners"
Um stets die Wahrheit zu sagen, bedarf es
keiner grossen Fähigkeiten.
Aber um über längere Zeit
erfolgreich zu lügen benötigt man:
Eine reiche Phantasie,
Einen starken Willen,
Eine hohe Einfühlungsgabe,
Menschenkenntnis oder Allgemeinpsychologie,
Eine aussergewöhnliche
Sprachfähigkeit,
Ein gutes Gedächtnis,
und
starke Nerven.
All dies sind Eigenschaften, die den
aussergewöhnlichen Charakter
vom Menschen des Normal-Null
unterscheiden.
Dies sind auch Merkmale, die erfolgreiche
Manager, Politiker, und allgemein Menschenführer ausmachen, und die gute
von mittelmässigen Rechtsanwälten unterscheiden.
A.G. nach Volksmund
Der "
Wahre Lügner"
, der
"
pseudos alaethaetes"
, ist ein besonders
gelungener , ist ein besonders gelungener
Topo-Tropos der Philosophie des Plat
on,
siehe "Hippias Minor"
. Liessmann (2000, p. 22):
Das Verhältnis der Menschen
untereinander ... ist gekennzeichnet durch Täuschung, Verführung und
Verzerrung.
Siehe auch Baruzzi: PL. Die Mythologie der Griechen hat uns
den Ur-Ober-Erzpatron aller Lügner überliefert:
Odysseus.
[156]
Plat
on verachtete zwar die Homerischen Epen, die bis dahin im antiken
Griechenland die Grundlage des Bildungskanons der aristokratischen Elite waren,
und er formulierte seine Philosophie explizit als Alternative dazu, aber zu
diesem
Ur-Topo-Tropos konnte er nichts
hinzufügen, oder etwas verbessern, das nicht schon in den Homerischen Epen
angelegt war. In Anklang an das Zentralthema der
Verschleierung aus der Odyssee, findet sich
für die "
Philosophie der Lüge" in der
Noologie das Thema der
Kalyptologie.
[157]
Plat
on verachtete und verfolgte die Sphisten und versuchte sie aus dem
Pantheon des abendländischen Denkens zu vertreiben, das ist ihm und in der
Nachfolge von Augustinus auch mehr oder weniger gelungen, aber zu welch
furchtbaren Preis! Denn ohne die Lüge und die Täuschung ist die
Intelligenz wie das
Spiegel-Ei ohne Ei. Der
lógos entsteht erst in der Vor-Spiegelung und durch die
Ver-Spiegelung (pseudos / eidos), und daher ist es sinnlos, sich ein Urbild
vor-zu-stellen.
Die idea ist eine Phantasmagorie.
2.2. Einleitung
Mit dieser Betrachtung zu "Wahrheit und Lüge im
a-moralischen Sinne" nehme ich den Denkfaden von Nietzsches kleinem
Früh-Werk "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen
Sinne" (WLA)
[158]
wieder auf. Dazu eine kurze
Erklärung.
Nietzsche schrieb dieses Opusculum 1873, mit 29 Jahren, damals
war er noch Professor in Basel, aber seine Krankheit hatte sich schon massiv als
Störfaktor in sein tägliches Lebens eingenistet. Er
veröffentlichte es nicht, und es gehört daher zu seinen
Nachlass-Schriften. Der "Zarathustra"
erschien zwischen
1883 bis 1885. Kurz darauf folgen seine grossen polemischen Werke: "Jenseits von
Gut und Böse" (1886), "Zur Genealogie der Moral" (1887), "Der Antichrist"
(1888), "Die Götzendämmerung" (1889). Im selben Jahr erlitt er seinen
finalen Zusammenbruch, von dem er sich nicht mehr erholte. Er starb am
23.8.1900.
Nietzsche hatte in der kurzen Schaffensphase nach dem
"Zarathustra"
in den folgenden Werken ausgiebig gegen
die
Moral und
Doppel-Moral und die kleinen und grossen
Lebenslügen seiner christlichen
Herkunfts-Gesellschaft polemisiert.
[159]
Als
Sohn eines protestantischen Pfarrers hatte Nietzsche in seiner Jugend
ausreichend Erfahrungen mit der Frömmelei, Heuchelei und der
Scheinheiligkeit gemacht, die zum Lebensstil so vieler der
"Professionellen"
der Religion gehören. In seinem
Schaffen bemühte er sich, gegen diese Lebenslügen seine Polemiken
aufzu- werfen und aufzu- stellen, ohne sich davon aber loslösen zu
können, oder irgendeine Befreiung davon erlangen zu könnnen. Sein
Haupt-Werk
Zarathustra
[160]
war der Versuch eines solchen "Befreiungsschlages"
, aber
darin scheiterte er gründlich, zumindest was seine eigenen Lebens-Probleme
betrifft.
Mit der Moral hatte Nietzsche sich also ausreichend
beschäftigt. Der Titel seiner Schrift "Im außermoralischen
Sinne"
bedeutet in der Rückschau des Lebenswerks
Nietzsches, dass er alles
moralin-saure des
christlichen
Lebens-Gewebes in seinen Werken
abgehandelt hatte, und nun wäre es an der Zeit gewesen, dass er sich
grundlegenderen Problemen der
Wahrheit an Sich und der Lüge als
unverzichtbares Element der Lebenspraxis
zuwendete.
Dazu kam es leider nicht mehr, weil er inzwischen
dement geworden
war.
[161]
Vaihinger (1913) griff in seiner
Philosophie des "Als Ob"
diese Linie wieder auf, und ich
möchte hier IMHO meinen Beitrag zum Weiterspinnen dieses Fadens
anbieten.
2.3. Konstruktive Illusionen und nützliche Fiktionen
Der Hauptteil von Nietzsches Argumentation in WLA ist seine
Betrachtung über die Unwirklichkeit der Begriffe, die wie ein Treibsand
sind, und trotzdem schafft es die Wissenschaft, auf diesen Treibsand ihr
imposantes "ungeheures Gebälk und Bretterwerk der Begriffe" aufzubauen, das
auch noch in sich haltbar und stabil ist.
In seiner Schlussbetrachtung von WLA behandelt Nietzsche kurz
bestimmte Charaktertypen des Menschen (der
vernünftige und der
intuitive Mensch). Ich möchte das
umformulieren und lieber von
trocken-sachlichen
Pessimisten und
imaginativenOptimisten sprechen. Dann können wir
sagen, dass der Pessimist im strengeren Sinne die Wahrheit genauer sieht als der
Optimist. Nietzsche nahm die Sichtweise des Pessimisten ein, womit er wohl recht
hatte, aber die Wissenschaft schert sich nicht um die Fiktionalität vieler
ihrer Denk-Konstrukte sondern setzt sie produktiv ein. Das hatte Vaihinger
(1913) in seinem Werk herausgestellt. Es sind Fiktionen, aber sie haben dennoch
praktischen Wert und Nützlichkeit.
Da der Mensch durch sein
Handeln kontinuierlich
Realität schafft, hat der
imaginative
Optimist
mit seiner
positiven
Lebenseinstellung
eine gute Chance, durch Handeln
die Realitäten in eine ihm genehmere Form zu bringen, als wenn er sie nur
passiv rezipiert und ob der offensichtlichen Widrigkeiten verzagt. Dies
lässt sich wohl mit Berechtigung von Projekten sagen, die die gemeinsame
Anstrengung vieler Menschen über längere Zeit erfordern. Neben dem
puren Zwang ist es auch die Schaffung einer
konstruktiven
Illusion
, die man
Vision nennt, mit der die grossen Führer
ihre Gefolgschaft dazu brachten, ihre Lebenszeit und öfter auch ihr Leben,
solchen Projekten zu widmen, die weit jenseits der vorstellbaren Wirklichkeit
des Einzelnen lagen.
Es gibt nur ein Kriterium, woran es sich messen lässt, ob
es eine
Vision war oder eine
Phantasmagorie, die eine
weit in die Zukunft
reichende Handlungskette
auslöst:
Der
Erfolg
. Deshalb ist ein Wahrheitsbegriff, der sich
nur an der Rückschau in die Vergangenheit des Faktum (des Getanen)
ausrichtet, ist ungeeignet für die Betrachtungen der gesellschaftlichen
Existenz.
Allerdings, Visionen grosser Projekte sind Hypotheken auf die
Zukunft, für die irgendwann eine Bezahlung eingefordert wird. In seiner
bekanntesten Ausprägung ist es der
Zins und
Zinseszins
, ein Mechanismus, der sich in der
augenblicklichen Phase des
globalen
Hyperkapitalismus
in immer rasendere Spiralen
hochschraubt. Und man kann einen Kredit plus Zinsen nur dann abzahlen, wenn man
irgendwo einen Mehrwert herausholen kann. Früher gab es da ein endlos
scheinendes Reservoir an natürlichen Ressourcen. Diese sind aber heute
entweder aufgebraucht,
[162]
oder das Wachstum
droht an anderen Engpässen zu scheitern, wie Umwelt-Verschmutzung und
Überbevölkerung.
2.4. Einige Begriffsklärungen
2.4.1. Lüge und Wahrheit, Pseudos /
Eidos / Idea
"Lüge ist bewusste und willentliche falsche Aussage"
(Baruzzi: PL, 28). Diese Definition stammt von Augustinus. In der Definition ist
das Wort "falsch" die Negation der Wahrheit, und impliziert, dass der
Lügner die Wahrheit schon kennt.
Was aber die Wahrheit ist, das wissen im Gefolge von
Augustinus nur die Theologen, und der Papst, denn die Wahrheit ist bei Gott, und
Gott ist die Wahrheit (Hegel 1969, 33), und eigentlich sollte diese Wahrheit
dann im Wort Gottes, der Bibel, auch zu finden sein, aber ach, wenn man dieses
Buch aufschlägt, findet man Seite auf Seite immerzu nur
Widersprüchlichkeiten.
[163]
Das "tolle
lege"
des
Augustinus
[164]
ist
wohl nur von dem nachzuvollziehen, der dazu die nötige
Armut im
Geiste
mitbringt, die
Torheit, oder den
Glauben. "For all the rest of
us"
[165]
ist dieser
Weg leider nicht nachvollziehbar. Also halten wir uns an die Lüge. Nach
Augustinus ist diese heute immer noch gültige Definition in
kommunikations-theoretischer (Um-) Formulierung:
Lüge ist die Aussage (bzw intentionale Kommunikation)
des Kommunikationspartners A, die dem/den Kommunikationspartner(n) B (C, D, ...)
bewusst (willentlich, intentional) und meist zum Zweck (ziel-orientiert,
teleo-logisch) der Erlangung des eigenen Vorteils von A, falsche (pseudo) und
verdrehte (en-tropia) Darstellungen des faktisch Gegebenen vorzumachen (fingere,
fingieren,
Fiktion)
.
Das Spannungsfeld von
Pseudos
und
Eidos gibt eine passende Illustration, wie im
Semantischen Rhizom
[166]
des alt-griechischen
Denkens zwei irgendwie ähnlich klingende Terme mit einem auffallenden
phonetischen Unterschied den spezifischen Gegensatz der zu benennenden Dinge
markieren:
Pseudos ist die Lüge, eigentlich
das Trugbild, (Vor-/Ver-) Spiegelung,
Fata
Morgana
,
Phantasma.
Im altgriechischen Denken machte man noch keinen Unterschied zwischen der
unwillkürlichen (Selbst-) Täuschung, und der geplanten und mit
Vorbedacht entworfenen Lüge. Das wahre, richtige, und korrekte
Bild aber ist das
eidos. Es ist aber nur das Bild, und nicht das
Ding an Sich, die
idea. Diese feine Unterscheidung eines im
semantischen Rhizom des griechischen Denkens schon enthaltenen dritten Falls
macht schon klar, dass alle Darstellungen, und damit handelt es sich um alle
semantischen (bedeutungs-vermittelnden) Konstrukte, nur Ab-Bilder sein
können, die nur approximativ an die Wahrheit der
idea herankommen können, und auch nie den
Anspruch erheben können, (absolute, reine) Wahrheit zu sein. (Glossar:
Ontologie) Die Wahrheit residiert im Platonischen Himmelreich der reinen Ideen,
und auf irdischen Gefilden hat sie nichts zu suchen, dort können wir nur
mit Bildern handeln. Daher ist das Thema der "reinen Wahrheit, und nichts als
der Wahrheit" im altgriechischen Denken bis hin zu Platon schon abgehandelt. Man
kann von ihr immer nur als Fiktion, also in Form von
Hypo-Thesis (Vaihinger) reden, und nur "so tun
als ob" (Vaihinger). Das ändert sich im vollen zivilisatorischen Ernst mit
Augustinus, der wie schon gesagt, die "absolute Wahrheit" einführte, denn
die ist bei Gott (was auch nicht so verschieden ist, vom Platonischen
Himmelreich der reinen Ideen), aber der gewagte "Sprung"
im Denken ist nun, wie sie in die Hl. Schrift kommt, und von wem sie ausgelegt
werden darf, denn für das Denken des
Idiota,
des
Laien, oder des
Common
Sense
-Gebildeten, enthält die Hl. Schrift nur
Widersprüchlichkeiten.
2.4.2. Wahrheit / Lüge / Semantisch
/ Pragmatisch
Die folgenden Definitionen sind hier nicht als philosophisch
letzt-gründige Erklärungen gedacht, sondern als grobe Anhaltspunkte,
um anzudeuten, wovon hier die Rede ist.
Wahrheit be-deutet:
Interpersonal kommunikativ korrekte Aussage über das faktisch
Gegebene.
S.a. die
Korrespondenz-Theorie:
Wahrheit ist Korrespondenz von Aussagen mit
Dingen (pragmata).
Baruzzi: PL, 173, 178
Veritas est adaequtio intellectus et rei.
Baruzzi: PL, 174
Richtig nennen wir das Vorstellen, das sich
nach seinem Gegenstand richtet. Man setzt seit langem diese Richtigkeit des
Vorstellens mit der Wahrheit gleich, d.h. man bestimmt das Wesen der Wahrheit
aus der Richtigkeit des Vorstellens. ...
Urteilen ist: richtiges Vorstellen.
Heidegger, WHD, p. 14
[Die Aufgabe der Philosophie...] Eine
sinnige Betrachtung der Welt unterscheidet... was von dem weiten Reiche des
äussern und innern Daseins nur
Erscheinung,
vorübergehend und bedeutungslos ist, und was in sich wahrhaft den Namen
Wirklichkeit verdient... so ist ihre
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und Erfahrung notwendig. Ja diese
Übereinstimmung kann für einen wenigstens äussern Prüfstein
der Wahrheit einer Philosophie angesehen werden...
(Hegel 1969, p. 38)
Lüge be-deutet: bewusste
und willentliche falsche Aussage (über das faktisch Gegebene).
Semantisch be-deutet: In Bezug
auf die
Be-Deutung.
Pragmatisch be-deutet: In Bezug
auf die
praxis, das
Handeln.
Sinn be-deutet:
Der
Sinn
.
Die
Be-Deutung ist wiederum
eine Be-Deutungs-Facette aus dem
Semantischen
Rhizom
des tiefgründigen deutschen Wortes
"
Sinn"
.
2.5. Wirk-lichkeit und Wahr-Nehmung
... und das Entstehen unterschiedlicher Standpunkte
2.5.1. Wahr-Nehmung, Prä-Selektion
und unbewusste Wertung
Die
Wahr-Nehmung und
Wertung von
Wirk-lichkeit ist abhängig von dem
jeweiligen Standpunkt des Beobachters, und dies ist in anderen Worten, eine
Wertung.
Der deutsche Begriff
Wahr-Nehmung führt leicht in eine Denkfalle:
Phänomenologisch gesprochen, ist es die
Empfindung, die
immer
wahr
ist: Man kann eine Empfindung nur auf eine
Weise haben, nämlich so wie man sie hat. Aber über die Ursachen der
Empfindung kann man sich täuschen, und das passiert auch oft. (Bei
Whitehead, "Process and Reality"
gibt es ein
ähnliches Konzept: das "feeling"
). Eine
unreflektierte Verwendung des Begriffs "Wahr-Nehmung"
impliziert ungerechtfertigt schon das Ergebnis von etwas
"Wahren"
, das man ja erst am Ende eines
Erkenntnisprozesses erwartet.
Die "Wahr"
-nehmung ist Wertung in
zweierlei Hinsicht:
1)
Biologisch. Das sensorische
neuronale Instrumentarium macht qua autonomer Filterfunktionen schon eine sehr
selektive Auswahl aus der Unzahl von Sinneseindrücken, die wir erhalten, um
uns ein Bild der "Sensorisch vermittelten Realität"
zu fabrizieren. Andere Lebewesen haben (vermutlich) durch ihr verschiedenes
Sensorium auch eine ganz anderes Erleben der Realität (Nietzsche: WLA und
heutige Naturforschung).
[167]
2)
Kulturell moduliert. Was man
"wahr-" nimmt, hängt genauso von der
Vorerfahrungen des Beobachters ab, also was man
aufgrund von Training und ethnischer und psychischer
Wahrnehmungs-Schwellwert-Funktionen unterscheiden kann. Ein Beispiel ist etwa
die Interpretation von Röntgen- oder Ultraschall-Bildern im medizinischen
Bereich, oder die Wahrnehmung von Affekten, Akzenten, Kleider-Besonderheiten,
Tics und anderer Besonderheiten an einer Person.
2a) Ein Beispiel für eine rassische
Wahrnehmungs-Schwellwert-Funktion:
Chinesen und Japaner unterscheiden sich voneinander in
bestimmten Merkmalen, die sie als Angehörige der jeweilig anderen Gruppe
kenntlich machen. Nicht-Asiaten, also Europäer und Amerikaner können
Chinesen und Japaner dagegen kaum unterscheiden, womit man die jeweilig anderen
tief beleidigen kann, wenn man sie für eine/n Angehörige/n der
reweilig anderen Rasse hält.
2.5.3. Die Wirk-lichkeit der
Natur-Wissenschaft
Wirklich ist, was messbar ist
Max Planck, nach PL 148
Der (natur-) wissenschaftliche Beobachter ist mehr oder
weniger auf den Standpunkt festgeschrieben, den Max Planck formuliert hat. Aber
schon 300 Jahre früher hatte Galileo etwas ähnliches, aber
vorsichtiger formuliert: "Das Buch der Natur ist in der
Sprache der
Zahlen
geschrieben." Es muss daher auch in der
Sprache der Zahlen (ab-) gelesen ie.
gemessen werden. Immerhin macht Galileo da keine
apodiktische und normative Aussage über das was
ist (philosophisch streng genommen über das
Wesen, und das
Sein der
Dinge
), sondern nur darüber wie sie (im Rahmen
der wissenschaftlichen Methode)
zu interpretieren
sind. Damit setzt Galileo so etwas wie einen
Normenkodex des wissenschaftlichen Diskurses, und
ohne so ein Normensystem wäre ein interpersonell stabiler Diskursvorgang
über mehrere Jahrhunderte auch kaum möglich. Noch früher vor 2500
Jahren hatten die
Pythagoräer ein
ähnliches Prinzip so formuliert: "Das Wesen der Dinge ist die Zahl". Auch
hier machte man eine
normative (aber mehr
mythisch gefärbte)
apodiktische Aussage
über das
Wesen der Dinge, und zwar so krass,
dass es für den gesunden Menschenverstand (Common Sense) kaum
nachzuvollziehen ist.
Noch weitergehend, sind Aussagen wie die von Planck auch
(recht willkürliche) normative Eingrenzungen dessen, was und wie man
überhaupt etwas wahr-nehmen kann. Wissenschaftler müssen sich in ihrem
professionellen Schaffen daran gewöhnen, die Dinge und damit auch die Welt
durch genau diese Brille zu sehen. Wenn sie vergessen, dass das eigentlich nur
ein Normensystem für den innerwissenschaftlichen Diskurs sein sollte,
vergessen sie allzu leicht, dass die Welt noch aus anderen Perspektiven gesehen
werden kann und auch sollte.
2.5.4. Unterschiedliche Standpunkte zur
Wirk-lichkeit
Das folgende Bonmot bietet eine Auswahl unterschiedlicher
Standpunkte zur Wirk-lichkeit, die zu Aussagen über den "Stand der
Dinge"
führen, die alle irgendwie wahr sind. Aber
anhand der Gegenüberstellung ist es leichter zu sehen als im normalen
Leben, dass solche Aussagen einseitig bzw. restriktiv sind.
Der Optimist: Das Glas ist halb
voll.
Der Pessimist: Das Glas ist halb
leer.
Der Ingenieur: Das Glas ist doppelt so
gross als notwendig wäre.
Der Philosoph: Das Glas hat 50%
Aktualität und 50% Potentialität.
A.G., nach Volksmund
Im Gegensatz zum einfachen Dualismus von Optimist und
Pessimist, der in der volkstümlichen Version erzählt wird, liegt hier
eine
vierfache Unterscheidung (nach impliziten
Kriterien) der
Wahr-Nehmung von
Wirk-lichkeit vor. Demzufolge ergibt sich auch
die vierfach- andersartige Beschreibung des sachlich korrekten Standes der
Dinge. Man könnte versuchen, den Standpunkt des Ingenieurs wieder aus dem
Feld zu schlagen, und behaupten, dass "der Stand der Dinge" nichts damit zu tun
hat, was sie "sein sollten". Aber bei genauerer Analyse sehen wir, dass der
Begriff "voll" und "leer" genau die
Intentionen,
"wie oder was die Dinge sein sollten"
semantisch
versteckt
. Die Sichtweise und Bewertung des
Optimisten und Pessimisten ist logisch vom gleichen Erwartungswert der
"Fülle" vorherdeterminiert. Der Philosoph kann dieses Spiel nur eine Runde
weiterspielen, indem der die "Fülle" in einen höheren Abstraktionsgrad
hebt, und dies mit
Aktualität und
Potentialität markiert. Die
Aktualität ist der
Grad der
Er-füllung
des
Zwecks (die
en-telechie)
[168]
des Geräts, nämlich
ge-füllt zu
sein. Oder auch: das
Wesen des Glases ist eher
darin zu suchen, dass es
ge-füllt ist, nicht
aber, dass es aus einer Schmelze von Quarz und Pottasche gefertigt ist. Deshalb
wird jeder gut sortierte Haushaltswarenladen das Glas in einem Regal nahe bei
den
Tassen und bei den
Bechern einsortieren, und nicht aber bei den
Spiegeln.
Ergänzend lässt sich noch bemerken, dass der
sittlich-schickliche Füllgrad eines Glases
sehr (ethnisch)
Normen-abhängig ist. Bei
Wasser ist es etwa 7/8, bei Wein 2/3, bei Champagner 1/2, bei echtem Cognac ist
es 1/7, und die grosse Ausnahme dazu setzt der
russische
Brauch
: Ein
Wodka-Glas muss immer 10/10 voll sein.
Anhand dieser kleinen Diskussion kann man schon einen
Geschmack dafür bekommen, dass "die reine Wahrheit und Nichts als die
Wahrheit" schon in ganz einfachen Situationen ziemlich schwer zu erfassen
ist.
Es ist die kritische Frage bei einseitigen (restriktiven)
Aussagen, die Wahrheit(s-Gehalt) beanspruchen, ob eine
einseitige
Wahrheit
überhaupt Wahrheit genannt werden
darf, und welche Folgen das für ganze Wahrheitsgebäude hat, die auf
solch einseitigen Prinzipien aufgebaut sind. (Wie etwa die Naturwissenschaften).
Weiterhin stehen solche Wissensgebäude ja nicht im leeren Raum, sondern im
Sinn- und vor allem Handlungs- Zusammenhang einer Gesellschaft, und die
konsequent anschliessende Frage muss daher lauten: Was für Folgen ergeben
sich in einer Gesellschaft, wenn diese sich in ihren politischen Handlungen
einseitig auf solche restriktiven Wahrheitssysteme stützt?
2.5.5. Wahrheit, Zeit und
Meso-Kosmos
Der "Stand der Dinge"
ist eine
Hypostasierung (Vaihinger) nach der man so tut "als ob"
sich die Dinge auf irgendeinem Stand festhalten liessen. Für die
Gegebenheiten des Mesokosmos, also der Dinge der menschlichen Lebens- und
Arbeits-Welt (Häuser, Bäume, Berge, Flüsse etc.) lassen sich mit
guter Näherung Aussagen über einen solchen Stand machen, weil im
Rahmen der menschlichen Aufmerksamkeits- und Lebens-Spanne tatsächlich eine
gewisse Konstanz herrscht, über die man auch berichten kann.
Problematischer wird es bei makrokosmischen Dingen wie fernen
Sternen. Wenn die Dinge sich in menschlich unübersehbaren Zeiträumen
nicht verändern, hat es keinen Sinn, etwas über einen Stand zu sagen,
weil sowieso alles auf "ewig"
gleich bleibt. Die
Astronomie behauptet zwar, dass auch die fernen kosmischen Gebilde in
unaufhörlicher, und ungeheuer schneller Bewegung sind, aber davon ist hier
& heute nichts spürbar.
Ebenso problematisch ist es im Mikrokosmos, wo sich die Dinge
sehr viel schneller ändern als jede menschliche Wahrnehmung und Aussage dem
nachkommen könnte. Hier hilft nur der Verweis auf die Statistik, die grosse
Zahl und die Wiederholbarkeit, nach der sich die Dinge in immer denselben
Mustern wieder reproduzieren lassen.
2.6. Wahrheit und Lüge nach Nietzsche
Die widernatürliche Moral, das heisst
fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet
sich umgekehrt gerade gegen die Instinkte des Lebens.
Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur.
4, 5, 6
2.6.1. Differenz von
ausser-moralisch /
a-moralisch /
un-moralisch
... were the treatment of the insane in
early Biblical times on the same scientific plane that it is to-day, the Bible
would never have been written.
Havelock Ellis
Wenn es im Jahre 1800 schon Haldol und
Tabor gegeben hätte, wären die Werke Hegels der Menschheit erspart
geblieben.
AD
Sex is hereditary. If your parents never
had it, chances are you won't either.
JOSEPH FISCHER
Die folgende Diskussion basiert auf Nietzsches Absatz "Moral
als Widernatur"
in der
"Götzen-Dämmerung"
[169]
Ich setze einen kleinen feinen Unterschied zwischen den Begriffen
ausser-moralisch,
a-moralisch, und
un-moralisch.
Ausser-moralisch, wie Nietzsche
es in WLA gebraucht hat, soll hier bedeuten: Betrachtet unter den Vorzeichen,
die nicht unter Moral-Geboten stehen. Dies gild insb. für die (Natur-)
Wissenschaft. Erwähnenswert ist, dass WLA eine Jugendschrift Nietzsches
ist, zeitlich danach folgte der Zarathustra, und erst danach schrieb er seine
polemischen Werke gegen die herrschende christlich geprägte Moral des
Abendlandes.
A-moralisch soll hier bedeuten:
Ausserhalb jeder Moral stehend.
A-moralisch ist
Nietzsches Übermensch, also der, der gemäss dem
"Zarathustra"
den "letzten
Menschen"
übersteigen
sollte.
[170]
Nietzsche verwendet dafür
in dem Text "Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur" auch den Begriff
des "Immoralisten".
Für einen "normalen"
Menschen ist
es unmöglich,
a-moralisch zu sein, er kann
bestenfalls
un-moralisch sein und handeln, oder
wie es meist passiert, ein Doppelleben führen und öffentlich moralisch
posaunen, aber im Versteckten dann umso heftiger die propagierten Gebote
übertreten.
[171]
Man kann die Werke des Herrn
DeSade als
Un-Moralisch bezeichnen. Immer da wo eine Ekel-,
Scham-, Peinlichkeits-, oder Angst-Grenze sichtbar ist, bemüht sich Herr
DeSade mit seinen Protagonisten, diese Grenze zu
überschreiten. Ähnliches wird heute ganz banal und alltäglich in
den zahllosen TV-Reality und Enthüllungs- Shows zelebriert, und
ähnlich wie bei DeSade geht das trotz aller Peinlichkeiten und
Unsäglichkeiten immer noch schön gesittet und artig vor, denn man
erzählt höchstens darüber, aber darstellen und ausführen tut
man wenig. Denn die Selbstzensur der Fernseh-Medien filtert sorgfältig alle
expliziteren und brutaleren Darstellungsmöglichkeiten
aus.
[172]
Es ist ungefähr so, wie mit dem (Gott-)
Glauben und dem
A-Theismus. Der
A-Theismus bemüht sich, alle
Reflexe und
Reflexionen des
Theistischen zu überschreiten und
überwinden, aber im Endeffekt ergibt sich durch diese
Bemühung der
Negation
(eines vorhandenen Kanons des
Göttlichen) dessen Verstärkung der
(Af-/Con-)
Firmation
.
[173]
Das
Un-Moralische verstärkt nur die
Grenz-Ziehung des
Moralischen, und stärkt im
Endeffekt den Zusammenhalt der
Moralischen
Konsens-Gemeinschaft. Das
A-Moralische ist dagegen ein pures "Als
Ob"
, eine
Chimäre,
ein
Pseudos, und eine
Lüge. Das A-Moralische kann nur als
Grenzwert gedacht werden, weil jeder Mensch qua seiner sozialen
Im-Prägnierung immer auch
Moral hat, ob er das nun mag oder nicht.
Moralin-Prägung ist wie man im Englischen
sagt:
dyed in the wool. Man kann tun und lassen
was man möchte, man wird es nicht mehr los.
2.6.2. Die Umwälzungen der Moral in
den 100 Jahren nach Nietzsche
In den ca. 100 Jahren seit Nietzsches Tod haben sich viele
Veränderungen im moralischen Gewebe der abendländischen Gesellschaften
zugetragen. Heute würde eine Polemik gegen die christliche Moral nur ein
müdes Schulterzucken hervorrufen. Die gesellschaftlichen, politischen,
medialen Veränderungen der letzten 100 Jahre haben schon längst alles
unter- und um-gegraben, was Nietzsche damals noch als festes
Gesellschafts-Normen-Gefüge vorfand, und gegen das er hilflos rebellierte,
und vor dem er sich nur noch in den Wahnsinn flüchten konnte. Freud, der
seine Arbeit um 1890, also zur Zeit von Nietzsches Siechtum und Tod
begann,
[174]
nahm die Herausforderung an, an der Nietzsche zerbrach, und schuf seine
Wissenschaft des Unbewussten. Diese offenbarte
eine klaffend grosse Kluft im Leben der Menschen: man kann sagen, das Unbewusste
ist die Dunkelkammer, in der sich all die Lebenslügen entwickeln
können, und in der sie ihre rechtmässige Heimat finden, die sich
zwischen den gelebten Lebenspraxen der Menschen und den Leitvorstellungen der
gesellschaftlichen Moral auftaten, und die nicht wahrgenommen werden
dürfen. In den ca. 50 Jahren nach Nietzsches Tod nahm die
Ethnologie
[175]
(oder kulturelle Anthropologie) ihren Aufstieg und brachte die systematische
Erforschung der Denk- Empfindungs- Werte- und Normensysteme
(
Ethoi) fremder Völker (bzw.
Ethnien), deren Strukturen sich z.T. erheblich
von den westlich- abendländischen Normensystemen unterschieden, die
zwischen Platon, Aristoteles, Augustinus und Kant die Grundlage der
philosophischen Ethik bildeten.
[176]
So
bildete sich auch bald eine Denkrichtung der
Ethnopsychoanalyse,
[177]
die das Thema des Unbewussten vom individual-Psychologischen auf die Ebene von
Kollektiven übertrug. Die kommunikativen Revolutionen der Medientechnologie
begünstigten den Aufstieg der Super-Demagogen am Anfang des 20. Jh., wie
Lenin, Mussolini, Hitler (bzw. Goebbels), Mao etc. Ab den 1950ern setzte dann
die nächste Medien-Revolution ein, das Fernsehen, das völlig neue
Gestaltungs-Räume und Möglichkeiten im Umgang mit Wahrheit und
Lüge brachte. Seitdem werden Politiker-Wahlen dadurch entschieden, wer am
telegensten ist. Letztlich findet diese
Betrachtung ihr vorläufiges Ende mit dem seit den 1990ern herangebrochenen
Zeitalter der globalen Medien-Vernetzung über Computer, wodurch sich
wiederum ungeahnte Perspektiven ergeben in der Gestaltung dieses philosophischen
Urstoffs, der Wahrheit, und seines Antagonisten, der Lüge.
2.6.3. Die wesentlichen
kulturhistorischen Markierungspunkte
Unsere Betrachtungen von Wahrheit und Lüge spannen ihren
Bogen über ca. 3500 Jahre. Sie nehmen ihren Ausgang bei den grossen Kultur-
fundierenden Texten des Abendlandes:
1) Der Illias und Odysee des Homer, mit der Einführung
der grossen Heldentaten des Ober-Erz-Patrons aller Lügner:
Odysseus.
2) Der Bibel, wobei hier die Unterschiede zwischen der
jüdischen Torah (Altes Testament, -500) und den christlichen Evangelien NT
(Neues Testament, +100) besonders gewürdigt werden sollen. Die Torah ist
Semitisch-Jüdisch-
Babylonisch,
aber das NT ist durch und durch
178, aber das NT ist durch und
durch
[178]
Hellenistisch.
3) Den griechischen Philosophen, die die
Suche nach der Wahrheit zum Leit-Thema ihrer Arbeit und aller Philosophen nach
ihnen machten: Parmenides, Platon, Aristoteles. (-500 ...
-300)
4) Dem römischen Philosophen Augustinus
(+400), der IMHO der
spiritus rector für das
Wahrheits- und Moral-Verständnis der christlich- abendländischen
Kultur der nächsten 1500 Jahre war.
Es ist nicht Ziel der vorliegenden Arbeit,
all dieses Material wieder durchzusortieren und neu zu präsentieren. Dies
ist auch schon oft genug von anderen, berufeneren Geistern (mit
venia
legendi
) geleistet worden. Deshalb wird die Schrift
PL als Basis angenommen, mit Vaihinger (1913) für weitere
Vertiefungen.
Die wesentlichen Fundierungen des
neuzeitlichen Wahrheitsbegriffs wurden zwischen 1600 und 1800
geleistet:
5) Die Philosophen der Neuzeit, die die
wissenschaftlichen Wahrheitsnormen prägten (etwa Descartes) und die Ethik
dem Gedankengut der Neuzeit anpassten (Kant). Weiterhin können wir hier
einige Denker listen, die mithalfen, die modernen Gesellschafts- , Staats-,
Politik- und Wirtschafts- Ethiken zu formulieren, die die Läufe der Welt
bis ca. 1950 bestimmten: etwa Machiavelli, Hobbes, Adam Smith, Hegel, Marx,
Lenin,
Mao.
[179]
Auch hier wird wesentlich auf PL und Vaihinger (1913) Bezug
genommen.
6) 1789 brachte die Französische
Revolution den ersten Zusammenbruch des alteuropäischen Ethos-Systems von
aristokratisch-klerikaler Macht und Herrschaft, welches ca. 120 Jahre weiter
bröckelte, und dann 1918 endgültig zerbrach.
7) Zu Ende des 19. Jh. leistete dann
Nietzsche seinen Beitrag zur Erschütterung des festgefügten
alteuropäischen christlich-abendländischen Denk- Werte- und
Normensystems, das dann 1918 zersprang.
8) Anfang des 20. Jh. (1880-1900) kam Freud
und die Lehre vom Unbewussten.
9) Ab 1950 setzten verschiedene
Entwicklungen ein, die zusammenfassend als
Postmoderne bezeichnet werden können. Das
Erbe Nietzsches wurde vollendet, und die abendländische
Denkordnung der
Rationalität
wurde vollends dekonstruiert.
10) Ab ca. 1990 setzte eine starke
Strömung "zurück zu den alten Werten ein", die Bewegung zurück
zum Fundamentalismus. Karol Wojtyla mag auf christlicher Seite als
Beispiel dafür stehen, G.W. Bush in USA, und die islamischen
Fundamentalisten auf ihrer Seite der Welt.
2.6.4. Das Thema des Freud'schen
Unbewussten
Die einfache bipolare Unterscheidung (Dualismus) zwischen
Wahrheit und Lüge, die Augustinus als erster
rein römisch denkender unter den christlichen Philosophen eingeführt
hatte, brachte zwar in den folgenden Jahrhunderten einigermassen geordnete
Verhältnisse, aber dafür umso mehr Gewissensqualen für die armen
sündigen Christenmenschen. Die hatten zwar immer das Bild der
Reinen
Wahrheit
vor Augen, die bei Gott ist, und die aus
Gott spricht, aber mit der ungeordneten Welt der Menschen war das alles nicht so
leicht zu vereinbaren. Wo es Moral gibt, da gibt es
Doppel-Moral und
Verdrängung und
Lebenslügen. Freud zerbrach mit seinen
Arbeiten die Versiegelung, die über der Lebenslüge der (christlichen,
Augustinischen)
Sexual-Moral gelegen hatte.
Darüber hinaus öffnete er mit seinem Thema des
Unbewussten einen Denkraum, in dem sich das
entfalten konnte, wovon man vorher nicht einmal lügen konnte, weil man es
gar nicht denken, bzw. sich explizit vorstellen konnte. Das Thema des
Freud'schen
Unbewussten ist also darüber zu
sprechen, worüber man qua
Sozialisation und
Imprägnierung sowie
Verdrängung nicht sprechen kann, ausser in
seinen
Träumen.
Man kann das Freud'sche
Unbewusste in zwei grundlegende kategorielle
Phasen unterteilen:
1) Die Phase der vor-bewussten Prägungen oder
Im-Prägnierungen
Alles, was in der Kindheit vor dem ca. 6.-10. Lebensjahr an
prägenden Erfahrungen stattfand, an die man
sich später nicht mehr erinnern kann, weil das Erinnerungsvermögen von
der schon vorhandenen
Persona abhängig ist.
Die
Persona bildet sich aber erst durch solche
Prägungs-Erfahrungen. Hier finden wir auch
Erfahrungen, die das kindliche emotionale Fassungsvermögen sprengen, wie
z.B. die Freud'sche
Urszene und
frühkindliche
Missbrauchs-Erfahrungen. Die
vor-bewusste Prägung oder
Im-Prägnierung (dyed in the wool) ist aber
vor allem der Prozess des
mit-der-Muttermilch-Aufnehmens des ethnischen
(kulturellen) Wertesystems, des
Ethos. Diese
Prägung ist im späteren Leben nicht mehr (aus-) zu löschen, und
kann höchstens überlagert und vergessen werden.
2) Die Phase der Verdrängungen
Alles, was im späteren Leben nach dem ca. 6.-10.
Lebensjahr mit dem schon vorhandenen moralin-sauren
Prägungs-System nicht mehr vereinbar ist,
und daher als
Lebenslüge in das
Unterbewusste abgeschoben wird.
2.7. Wahrheiten I., II. & III. Ordnung, Mittelbar und Un-Mittelbar
Was aber ist die
Wahrheit?
Wir wollen uns dem Thema der Wahrheit aus Sichtweise einer
Lebensphilosophie (oder
Seinsphilosophie aus der Sicht des
Menschlichen Er-Lebens) nähern. Hierbei
können wir verschiedene Arten (oder Kategorien) von Wahrheit(s-Empfindung)
aufstellen:
Wahrheiten I., II. & III. Ordnung, die man auch durch
Unterscheiden von
Mittelbar oder
Un-Mittelbar, bzw
diskursiv und
intuitiv differenzieren kann.
Diese lassen sich mit den zugehörigen Fragestellungen
determinieren:
Was ist die lebenswert richtige Antwort
auf
...
?
2.7.1. Wahrheit I.Ordnung, die
individuelle Wahrheit
Am Anfang aller Wahr-Nehmung steht das unmittelbare Empfinden
von sich Selbst, das unreflektiert für Wahr genommen wird, und damit die
Wahrheit I.Ordnung bedingt. Diese Selbst-Empfindung wird der Funktion des
limbischen Systems zugeordnet.
Auf höherer Stufe der Reflexion stehen Erlebnisse von
individueller un-mittelbarer Wahrheit, wie das
Verhältnis von Individuum
und Gott
.
Im heutigen Kontext Maslowscher und ähnlicher
psychologischer Vorstellungen heisst das vielleicht so:
Was ist
meine persönliche
Lebenswahrheit
, nach deren Ver-Wirklichung ich in
meinem Leben strebe, meine
Selbst-Verwirklichung?
Die
Wahrheit des Lebens, das
Lebenswerte eines Lebens wird an dem Grad der
individuellen Selbst-Verwirklichung gemessen.
Die Frage der individuellen Selbst-Verwirklichung kann nur im
Kontext des modernen europäischen (ie. nach-christlichen) Werte-Systems
gestellt werden, in dem die
In-dividualität
[180]
zum Zentralfaktor des Lebenszusammenhangs geworden ist. Sie ist in
Lebens-Gewebe-Systemen der II. Ordnung nicht vorhanden, oder darf nicht gestellt
werden.
Für die Philosophie und die Wissenschaft (III.Ordnung)
ist die Wahrheit I.Ordnung ebenfalls keine Wahrheit, weil sie
un-mittelbar ist. Die philosophischen und
wissenschaftlichen Definitionen der Wahrheit fundieren aber auf der
ver-Mittelbarkeit als Grundvoraussetzung. Ie.
Wahrheit wird dort verstanden als (interpersonell gültige und korrekte)
Aussage über den Stand der Dinge.
2.7.2. Wahrheit II. Ordnung, die
kollektive Wahrheit
Was bin ich im
Werte-,
Normen-und
Funktionszusammenhang einer
Communitas oder eines
Ethnos?
Diese Empfindung basiert auf der Selbst-Empfindung in der
Widerspiegelung im
Wir. Neurologisch wird hier
ein bestimmter Typ von Neuronen angesetzt: Die Spiegel-Neuronen.
Die Zugehörigkeit zu einer
Ethnie generiert ein oft unbewusstes
Verständnis von "wahr"
und
"falsch"
in Bezug auf die Bewertung des Habitus einer
Person, ob (das Verhalten) diese/r Person sie als ein
korrektes oder irgendwie
deviantes oder
gar
kein
Mitglied der Ethnie markiert.
Im Sinne des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs stellt
sich die Frage:
Welche Rolle ist mir vom Leben bzw. vom Schicksal aufgegeben?
Was wird von mir erwartet? Wie gut erfülle ich sie?
Hier finden wir menschheitsgeschichtlich herausragend die
Chinesische Staatsphilosophie, wie sie in 2500 Jahren immer wieder neu definiert
und interpretiert wurde, und die Indisch- Vedische Philosophie des
Rita (
Rta).
Das Leben des Menchen ist ein politisches (
anthropos zoon
politikon
), so hatten Platon und Aristoteles die
gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Philosophiesysteme verstanden. Ihre
restliche Philosophie stand völlig integriert in und abhängig von
dieser Voraussetzung, und kann ohne sie nicht gedacht werden. Die Wahrheit II.
Ordnung ist der gesellschaftliche Sinn des (guten) Lebens, der
eu-daimonia.
Die wesentlichen Unterschiede in den verschiedenen
Philosophien des sozialen Lebens sind vor allem in der Bedeutung, und dem Wert,
der der
Individuellen Autonomie zugemessen wird.
In stark kollektiv bestimmten Systemen wie dem Indischen, Chinesischen und
Islamischen, wird das
Lebenswerte eines Lebens an
dem Grad der
sozialen
Erwartungs-Erfüllungswerte
gemessen. Auch bei
Platon (Politeia) und Aristoteles wurde dem politischen Kollektiv grössere
Bedeutung zugemessen, als dem Individuum.
Wie unter I. Ordnung angedeutet wurde, ist in (den etremeren)
Ethos-Systemen der II. Ordnung die Frage der I. Ordnung ein Tabu. Denn hier gilt
das
Rasenmäher-Prinzip: Wer zu weit
herausragt, dessen Kopf wird abgeschnitten. Wer das Fundamental-Tabu der II.
Ordnung übertritt, ist des Todes schuldig.
Heute drehen sich die tieferen Kulturkämpfe zwischen dem
europäischen Ethos und dem islamischen und asiatischen um die Dissonanzen
zwischen den Wahrheiten I.Ordnung und II.Ordnung. Besonders krass entladen sie
sich im islamischen Fundamentalismus. Der Islam hat seine Gesellschafts-Ordnung
II in das sakrosankte Wort Gottes eingebettet, den
Koran und die
Scharia. Daher ist aus dem Zusammenprall dieser
unvereinbaren Ordnungen ein Kulturkonflikt unvermeidlich. Der islamische
Fundamentalismus unterscheidet sich vom christlichen in einem entscheidenden
Punkt: Nirgendwo in der Bibel steht: "Dies ist das Wort Gottes, du sollst es
wörtlich und im buchstäblichen Sinne nehmen und lesen" (
tolle
lege
). Aber genau dies ist das Zentralmotiv der
allgemein in (den meisten) islamischen Ländern gültigen
Verständnis-Praxis des Koran.
"Fortschrittliche"
islamische Denker
wie Bassam Tibi riskieren immer noch die
Fatwa,
also die Todesstrafe, wenn sie den Fehler machen sollten, sich in einem
fundamentalistisch islamisch bestimmten Land wie etwa Saudi-Arabien
öffentlich auf die Strasse zu wagen und ihre Meinung dort zu
verkünden. In vielen Fernseh-Aufnahmen bekommen wir seit Jahren immer
wieder Bilder aus hunderten Glaubenskämpfer-Schulen in Pakistan, wo wir die
Taliban (Koranschüler) eifrig damit beschäftigt sehen, den Koran
auswendig zu lernen. Was aber keiner der Kommentatoren erwähnenswert
findet, ist dass diese Schüler den Koran auf Arabisch auswendig lernen,
ohne aber auch nur Wort dieser Sprache zu verstehen. So etwas ist für das
westliche Denken schlicht undenkbar, markiert aber einen der tiefsten
Unterschiede zwischen europäischen und islamischen Ideen vom (wahren)
Glauben.
Das chinesische Wertesystem des
Konfuzianismus und der
Taoisten basiert ebenfalls auf den
Gesetzen
des Himmels
, die sich in den irdischen
Verhältnissen widerspiegeln. Die Staats- und Gesellschafts-Systeme des
Konfuzius und der Taoisten basieren beide auf Prinzipien der universellen
Harmonie, die von einer Entsprechung von Himmel und Menschenwelt ausgeht.
Während die Taoisten gemäss ihrer Denktradition alles so vage und
luftig-wolkig wie nur möglich formulierten, hatte Konfuzius seine Aufgabe
hauptsächlich darin gesehen, diese zu kodifizieren und als Staatstheorie
nutzbar zu machen, was im wesentlichen darin besteht, aus allgemeinen Prinzipien
dann Recht und Gesetze zu machen, die von einem hinreichend geschulten
Beamten-Apparat verstanden und angewendet werden können. Allerdings muss
man hinzufügen, dass unter der Herrschaft von Shin Chi Huang-Di -200 alle
konfuzianischen Texte verbrannt worden sind, und sie wurden von späteren
Kaisern auf wundersame Weise "wiederentdeckt"
, was
möglicherweise darauf hindeutet, dass Konfuzius etwas ganz anderes
geschrieben und gepredigt hatte, als was man heute über ihn liest.
Mit dem anscheinend unaufhaltsamen Machtaufstieg der Chinesen
werden sich diese tieferen kulturellen Reibungsflächen wohl nicht mehr
lange überkitten lassen.
2.7.2.1. Wahrheit, Ordnung IIa
Dies wird ua. von Erich Fromm in "Haben oder
Sein"
thematisiert. Im Rahmen des westlichen Ethos der
kapitalistischen Normen-Ordnung dreht sich alles um den Besitz.
Das "
Was bin ich?" kann nur in
Termen von "Was
habe ich?" gestellt und
beantwortet werden.
Dazu ein Zitat, in dem Johannes Heinrichs Erich Fromm zitiert,
der wiederum Karl Marx zitiert:
Die Dinge werden als Waren erlebt. Die
Beziehungen des Menschen zu sich selbst und zum Mitmenschen sieht Fromm unter
der großen Überschrift „Entfremdung“, womit Hegel und
Marx ja die Verstellung, das Unbewußt- und Unkenntlichwerden der
Ursprungs-Beziehungen zwischen dem Menschen und der Welt seiner einer Produkte
sowie seiner sozialen Sinnwelt bezeichnet hatten.
„Die Entfremdung in unserer modernen
Gesellschaft ist fast total. Sie kennzeichnet die Beziehung des Menschen zu
seiner Arbeit, zu den Dingen, die er konsumiert, zum Staat, zu seinen
Mitmenschen und zu sich selbst“ (ebd., 90).
Das Hauptmedium für die entfremdeten
Beziehungen der Menschen zu ihren Produkten wie zueinander ist das Geld. Fromm
zitiert hier ausführlich den jungen Marx:
„Das Geld ... verwandelt ebenso sehr
die wirklichen menschlichen und natürlichen Wesenskräfte in bloß
abstrakte Vorstellungen und darum Unvollkommenheiten, qualvolle Hirngespinste,
wie es andererseits die wirklichen Unvollkommenheiten und Hirngespinste, die
wirklich ohnmächtigen, nur in der Einbildung existierenden
Wesenskräfte desselben zu wirklichen Wesenskräften und Vermögen
verwandelt... Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Haß, den
Haß in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in
den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn und Verstand, den Verstand
in Blödsinn... Wer die Tapferkeit kaufen kann, der ist tapfer, wenn er auch
feig ist... Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt
als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen,
Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. Wenn du die Kunst genießen willst,
mußt du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn du
Einfluß auf andere haben willst, mußt du ein wirklich anregend und
fördernd auf andre wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse
zum Menschen – und zur Natur – muß eine bestimmte. Dem
Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines deines
wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe
hervorzurufen, das heißt, wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe
produziert, wenn du durch deine Lebensäußerung als liebender Mensch
dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig,
ein Unglück“ (K. Marx, 1971, S. 300f, zit. GA IV, 95
f).
J. Heinrichs (2001, S. 49-62), 3. Entfremdung und Geld, p.
14
2.7.3. Wahrheit III. Ordnung, die
Wahrheit der Dinge
Hier setzt die Wahrheits-Theorie der klassischen Philosophie
und der Wissenschaft an. Es geht um den
Zusammenhang und die
Auseinander-Setzung der Dinge (pragmata) und der
Aussagen, die man über die Dinge machen kann.
2.7.4. Schlussbemerkung
... zu dem Ordnungs-System von Wahrheiten I, II und
III
Diese vorgestellte Ordnung ist eine etwas andere Darstellung
der SUB-SEM-OBJ Triade.
[181]
Hier ist es
etwas schärfer formuliert: Es handelt sich bei SUB-SEM-OBJ um
"Wahrheits-Bereiche"
. denn in jedem dieser Bereiche gilt
eine andere (Form von) Wahrheit. Gotthard Günther hatte IMHO ein
ähnliches Konzept, in dem er solche Bereiche
Kontexturen nannte. Dabei dachte er aber vor
allem an
logische Formalisierungen wie etwa
entsprechend Erweiterungen der
Booleschen Logik.
Soweit sind wir hier noch nicht. Ausserdem müsste noch hinreichend
diskutiert werden, warum es sinnvoll ist, so etwas wie
disjunkte
Wahrheits-Bereiche
einzuführen, wo wir schon
sowieso genug Probleme mit der
einfachen Wahrheit
haben.
2.7.5. Lebensphilosophie und essentielle
Wahrheiten
Die hier eingeführte Ordnung hat nur einen Sinn im
Kontext einer
Lebensphilosophie. Das antike
Griechenland brachte verschiedene Richtungen der Lebensphilosophie hervor, wie
die Kyniker, Stoiker, Epikuräer etc. Natürlich formulierten auch
Platon und Aristoteles ihre jeweils eigenen Systeme von
Eu-Daimonia, (der Anleitung zu) dem guten Leben,
und was sie dafür hielten. Mit Augustinus als Schlüsselperson und
spiritus rector kann ein geschichtlicher
Wendepunkt markiert werden, an dem die
Lebensphilosophie zur
terra
interdicta
, also die verbotene Zone der
abendländischen Philosophie wurde, und die Philosophie zur
ancilla
theologiae
wurde.
Im Sinne der Lebensphilosophie generieren die Fragen der
I.Ordnung und II.Ordnung die
essentiellen
Wahrheiten
und
Lebenslügen.
Die Themen der Warhheit III. Ordnung sind in den
Philosophiegeschichten zwischen Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz und der
heutigen Wissenschafts-Theorie schon ausreichend abgehandelt wurden. IMHO kann
ich hier nichts wesentliches hinzufügen. Deshalb verweise ich für
weiterführendes Material auf PL.
2.8. Moral, Ethik und Ethos, Ethnos und Ethnie
Credo quia absurdum
Tertullian
Hier geht es um die kleinen aber signifikanten Unterschiede
zwischen
Moral,
Ethos und
Ethik,
zwischen
Ethnie und
Ethnos. Die Ethnologie hat in den ca. 100 Jahren
seit Nietzsches Tod dazu einiges an interessantem Material zusammengetragen.
(Die verschiedenen Ansichten zum Zivilisationsbegriff bzw. zu Scham und Sitte
bei Naturvölkern von H. P. Duerr und Norbert Elias mögen ein Beispiel
dafür geben).
2.8.1. Nietzsche: Was ist ein
Volk?
Etwas, das "sich
versteht"
, ein Volk
Nietzsche hat in seinem Absatz: "Was ist ein Volk?" den
Begriff von
Empfindungs-Gruppen geprägt, von
dem aus er die sprachliche Grundlage für "ein Volk" definiert. In den
Begriffen der Noologie wird dies eine Stufe der Abstraktion weitergetragen, zum
Konzept der
Verhaltens- und Wertegemeinschaften
der Ethnien.
Was ist zuletzt die Gemeinheit? - Worte
sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger
bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende
Empfindungen, für Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich
einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben
Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss
zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. Deshalb verstehen sich die
Menschen Eines Volkes besser unter einander, als Zugehörige verschiedener
Völker, selbst wenn sie sich der gleichen Sprache bedienen; oder vielmehr,
wenn Menschen lange unter ähnlichen Bedingungen (des Klima's, des Bodens,
der Gefahr, der Bedürfnisse, der Arbeit) zusammen gelebt haben, so entsteht
daraus Etwas, das "sich versteht"
, ein Volk. In allen
Seelen hat eine gleiche Anzahl oft wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand
gewonnen über seltner kommende: auf sie hin versteht man sich, schnell und
immer schneller - die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines
Abkürzungs-Prozesses -; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man sich,
enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so
grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth
thut, übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es,
was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren können. Noch
bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese Probe: Nichts derart hat
Dauer, sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten
anders fühlt, meint, wittert, wünscht, fürchtet, als der Andere.
(Die Furcht vor dem "ewigen Missverständniss"
: das
ist jener wohlwollende Genius, der Personen verschiedenen Geschlechts so oft von
übereilten Verbindungen abhält, zu denen Sinne und Herz rathen - und
nicht irgend ein Schopenhauerischer "Genius der Gattung"
-!) Welche Gruppen von Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach
werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die
gesammte Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel.
Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner
Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth sieht.
Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander
angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche
Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im
Ganzen, dass die leichte Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im letzten Grunde
das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen Erlebnissen, unter allen
Gewalten, welche über den Menschen bisher verfügt haben, die
gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren
Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren,
Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen,
bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man
muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen,
allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in's
Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte - in's Gemeine!
- zu kreuzen.
Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Neuntes
Hauptstück: was ist vornehm? 268
Weiteres Material dazu in dem og. Aufsatz von Erich
Fromm:
Das Ganze konkretisiert und bestätigt
sich, wenn wir Fromms zentralen Begriff des Sozialcharakters etwas beleuchten.
Gemeint ist mit diesem Begriff nach Fromms eigener Definition: „der Kern
der Charakterstruktur, den die meisten Mitglieder ein und derselben Kultur
miteinander gemeinsam haben, im Unterschied zum individuellen Charakter, in
welchem sich Menschen ein und derselben Kultur voneinander unterscheiden“
(Wege aus einer kranken Gesellschaft, GA IV, 59).
J. Heinrichs (2001, S. 49-62), 3. Entfremdung und Geld, p.
14
Bei Hegel findet sich ein dazu passendes Kapitel über den
Volksgeist, der seine höchste Vollendung
nach Hegels Staats-Idealismus in dem (preussischen) Staat findet:
Die Volksgeister ... ein Pantheon, dessen
Element und Behausung die Sprache ist.
...
Die Sittlichkeit des wirklichen
Volksgeistes beruht teils auf dem unmittelbaren Vertrauen der Einzelnen zu dem
Ganzen ihres Volkes, teils auf dem unmittelbaren Anteil, den alle... an den
Entschlüssen hnd Handlungen der Regierung nehmen.
Hegel (1986, p. 529-530)
2.8.2. Analogien zur Semiotik:
Sprachfähigkeit und Kulturfähigkeit
Die folgende Diskussion verläuft in ähnlichen
Bahnen, wie in der Semiotik nach
Saussure der
Unterschied von
parole und
langue entwickelt wird, wie durch Erweiterung der
Spezifikation ein Artbegriff hinzu gefügt wird: die
language.
Parole
ist der jeweilige
Sprechakt. Aufgrund der
morphologischen Ähnlichkeit und zeitlichen Konstanz einer grossen Menge von
Sprechakten einer Gruppe von Sprechern
können wir auf das Vorhandensein einer
langue, also einer spezifischen (National- oder
Dialekt-) Sprache
schliessen.
[182]
Wir
brauchen aber noch eine Unterscheidung
sui
generis
[183]
zwischen dem Artbegriff der verschiedenen jemals gesprochenen menschlichen
Sprachen, und der logisch davon verschiedenen Klasse der
Sprache an
Sich
, wie es z.B. bio-logische Voraussetzung
für den Erwerb von Sprache sein
muss,
[184]
und z.B.
von Chomsky verwendet wird. Dies wird mit
language bezeichnet.
In den entsprechenden Diskursen wurde analog zur
Sprachfähigkeit der Begriff der
Kulturfähigkeit geprägt. Allerdings
soll der Begriff
Kultur im Hintergrund gehalten
werden:
1) weil er sowieso nie auf eine Definition gebracht werden
kann, über die man sich kultur-übergreifend einigen kann,
und
2) weil Kultur meistens die Kultur-Artefakte bezeichnet, nicht
aber die Kultur-Akte bzw. die
Performanz, (was
äquivalent mit
Parole wäre), und noch
weniger das
Abstraktum dahinter, das bei Chomsky
die
Sprach-Tiefenstruktur wäre.
2.8.3. Moral, Sitte und intuitive
Wahrheit
Von den Stachelschweinen
Eine Gesellschaft Stachelschweine
drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um durch die
gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald
empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander
entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher
zusammen brachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so dass sie zwischen
beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige
Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten
konnten. Und diese Entfernung nannten sie Höflichkeit und feine
Sitte.
Arthur Schopenhauer
Genau 613 Gebote und Verbote sind es, die
das Leben der Juden bestimmen. Aber auch der frommste unter den frommen Juden
weiß, dass kein Mensch alle Regeln einhalten kann. Deswegen besteht der
Alltag der gläubigen Juden zur einen Hälfte daraus, die
"halachischen"
(religionsgesetzlichen) Vorschriften zu
befolgen, und zur anderen Hälfte daraus, sie zu umgehen.
Henryk M. Broder, Spiegel, 22. Dezember 2000
Die Fragen der intuitiven Wahrheit berühren Themen wie
Sitte (nomos, dikae, ethos) und Moral, die jeweils für eine spezifische
Ethnie gültig sind, und die auf automatischen und unreflektierten
Unterscheidungen für die "Wahrheit an Sich"
beruhen, die z.T. auf Im-Prägnierung basieren, also auf irreversiblen,
vorbewusstlichen, frühkindlichen Prägungen. Dies sind Faktoren, die
die Menschen dazu zwingen, die Welt ihrer sozialen Wahr-nehmung unreflektiert in
"passend"
oder "unpassend"
aufzuteilen. Hierbei geht es um das Verhalten, das Auftreten, etc. eine{s/r}
Anderen. Die Kulturkämpfe der heutigen Zeit drehen sich genau um solche
automatischen und unreflektierten Unterscheidungen, die schon fertig
vorfabriziert sind, bevor sie in das (vernünftige) Bewusstsein
treten.
In der folgenden Diskussion sollen die Begriffe
Moral,
Ethos,
Ethik,
Ethos,
Ethnos und
Ethnie
in ein
Spannungsfeld von Semantischen Rhizomen
eingespannt werden.
Common-Sense Definition der Moral
Der Begriff
Moral ist schon mit
einem Verweis auf das
Common-Sense Wissen
(zumindest vorläufig) zu umreissen:
Moral ist
das
, was man aufgrund eines expliziten und/oder
impliziten gesellschaftlichen Vorschriften-Systems tun oder lassen
sollte.
Das paradigmatische Beispiel dafür sind die 10 Gebote der
Bibel, die alle in der "
du sollst"
Form gehalten
sind.
[185]
2.8.4. Ethos
gr.: ethos := Gewohnheit, Brauch, Sitte
Als Ausgangspunkt der weiteren Diskussion nehme ich Nietzsches
Schrift WLA und "Moral als
Widernatur"
.
[186]
Der
Ethos als Generalbegriff
umfasst sowohl {
Sitte,
Brauch,
Gewohnheit},
Moral
und
Schattenmoral. Sitte und Brauch sind
Gewohnheitsformen, die "an sich"
moralfrei sind, und die
unhinterfragten Codifikationen folgen. "Man tut es"
eben
so und nicht anders. Eine mögliche Begründung ist höchstens, dass
man sagt, so hätten es die Vorväter immer schon getan.
Eine Moral ist ein gesellschaftliches Spannungsfeld:
Überall da, wo eine Moral existiert, existiert auch eine
Schattenmoral oder
Doppelmoral. Zwar haben alle menschlichen
Gesellschaften Vorschriften-Systeme des "du sollst"
,
also Moralen, aber das tatsächliche Verhalten der Menschen folgt meistens
nicht (ganz genau) diesem System. Entweder sind einige gleicher als die
gleichen, oder es gibt verschwiegene Zonen (oder Zeiten, wie der Karneval) der
Gesellschaft, in denen diese Gesetze aufgehoben werden.
Ethos ist daher ein
Kunstbegriff: Es ist "Als Ob"
man ein kodifizierbares
Werte- und Normensystem für eine Gesellschaft aufstellen und explizit in
Begriffen darstellen könnte. (Immerhin versuchen die
Ethnologen seit ca. 150 Jahren genau das). Auch
wenn es vielleicht nicht praktisch umsetzbar ist, so ist
Ethos als Kunstwort doch geeignet, den
Klassenbegriff zu setzen für alles, was die kleinen, feinen Unterschiede
zwischen den
Ethnien so ausmacht, und warum diese
Unterschiede immer wieder zu so schwerwiegenden Streitereien,
Auseinandersetzungen, bis hin zum
Genozid
führen.
Ich akzentuiere nun den Begriff der
Moral, um ihn den Umständen anzupassen:
Moral ist ein Anleitungs- und Vorschrifts-System zum Handeln, das
abhängig vom Wertesystem einer jeweiligen Ethnie
(Kultur-Konsens-Gemeinschaft)
ist
.
Und was für die eine Ethnie völlig sinnvoll, logisch und
selbstverständlich ist, ist es keinesfalls bei einer anderen. Moral wird
meist als "selbstverständlich"
oder
"gottgegeben"
begründet, und bedarf keiner
Vernunft-Argumente.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Kulturstreit um das
Kopftuch bei islamischen Frauen. Es ist mit
keiner abendländisch geprägten Vernunft zu begründen, warum das
Kopftuch in (bestimmten Interpretationen des) Islam genauso wichtig ist, wie in
den westlichen Ländern die
Bedeckung der
Geschlechtsteile
. Der Islamische und der
Abendländische Ethos stimmen insofern überein, dass die Bedeckung der
Geschlechtsteile eine unhinterfragte selbstverständliche Sitte
ist.
[187]
Für viele islamische Ethnien ist das Haar der Frau ebenso
ein Geschlechtsteil wie die Brüste und die Vulva, und daher muss es bedeckt
werden. Das ist nur logisch. Aber warum es ein Geschlechtsteil sein soll, will
dem westlichen Denken nicht so recht einleuchten.
2.8.5. Ethik
Ethik kann so wenig zur Tugend verhelfen,
als eine vollständige Ästhetik lehren kann,
Kunstwerke hervorzubringen.
Schopenhauer
Der General- Oberbegriff von
Moral und
Ethik
ist, dass beide Anleitungs- und Vorschrifts-Systeme zum
Ver-halten, also
Handeln und
Unterlassen (pragma, praxis) sind. Nietzsche
kannte nur die jüdisch-christliche Moral, und von anderen Moral-Systemen
hatte er nur schemenhafte Ahnungen (z.b. sein etwas naiver Lobgesang auf die
islamischen arabischen Töchter der Wüste im Zarathustra).
Verkürzt lässt sich der Unterschied von
Moral und
Ethik so
darstellen:
Moral ist ein
Common-Sense System, das auch vom Common-Sense
Menschen verstanden und angewandt werden soll, während
Ethik ein
philosophisches
System
ist, in dem es vor allem um
Vernunft und
Logik, also
Kohärenz,
Prägnanz,
Wiederspruchsfreiheit,
Allgemeingültigkeit, etc. geht, was das
Verhalten (bzw. sich
ent-halten) und die
Handlung (bzw. das
Unter-lassen) angeht.
Die bekanntesten Philosophen des Abendlandes, die im
Zusammenhang mit Ethik zitiert werden, sind Aristoteles und Kant. Nach diesen
ist das Anleitungs- und Vorschrifts-System zum Handeln von der Vernunft geleitet
und abhängig, damit auch von einer Logik. Diese Logik des Verhaltens und
der Werte war aber bei Platon und Aristoteles noch naiv und einseitig nur auf
den Konsens-Kreis ihrer jeweiligen Ethnie bezogen. Kant nahm auch als
selbstverständlich an, dass seine ethischen Vernunftgründe
Gültigkeit für die ganze Menschheit, nicht nur von Europa, und dazu
noch über alle Zeiten hinweg, haben müssten.
2.8.6. Der Ethos der Ethnie
Ethnien sind beobachtbare
Verhaltens- und Wertegemeinschaften, wie sie in der (und durch die Arbeit der)
Ethnologie definiert werden.
[188]
Ein Mensch
kann (in der Regel) nur in eine einzige Ethnie (hin-)
eingeboren sein. Er kann zwar später durch
Konversion oder
Assimilation Angehöriger einer anderen
Ethnie werden, aber seine Herkunft kann er nie verleugnen (wenn er ca. bis zum
6.-10. Lebensjahr der Prägung einer einzigen Ethnie unterworfen
war).
[189]
Jede Ethnie hat (im Als Ob) ihren
Ethos, also ein Werte- und Normensystem, in dem
sie sich von den anderen Ethnien unterscheidet. Sprachgemeinschaften und Ethnien
sind etwas Verschiedenes. Sie fallen nur manchmal zusammen, aber müssen es
nicht. Weiterhin sind die meisten Ethnien geschlechtliche Vermehrungs- bzw.
Propagations- Gemeinschaften. Ie. der
Ethos der
Ethnie wird von den Eltern auf die Kinder
übergeben. Der entscheidende Faktor hierbei ist die frühkindliche
Im-Prägnierung. In der Regel werden Kinder
von ihren Eltern unbewusst auf das Normensystem ihrer Ethnie
geprägt. Hierbei sind auch irreversible
somatische (körperliche) Modifikationen im Spiel. Wenn man das Chinesische
nicht als kleines Kind gelernt hat, wird man die Tonal-Unterschiede dieser
Sprache nie richtig beherrschen können. Es sind neuronale und motorische
Grundmuster, die von der Plastitizität des Körpers später nicht
mehr dargestellt werden können.
Anhand der Chinesen lässt sich auch gut demonstrieren,
wie fliessend die Grenzen zwischen einer
Ethnie
und einem
Volk sind: Die heutigen Chinesen sind
das Produkt von ca. 3000 Jahren kontinuierlicher Bemühungen der
Autoritäten und Machthaber, auf dem gewaltigen Territorium des chinesischen
Reiches eine rassische und kulturelle Vereinheitlichung zu schaffen, was ihnen
auch gelungen ist. Mithin ist das heutige China das Ergebnis eines Projekts,
einen Schmelztiegel von Rassen und Völkern zu schaffen, das 10-mal mehr
Zeit für seine Entwicklung hatte, als die
USA.
[190]
Was die Chinesen eint, ist ihre seit ca. 2500 Jahren genormte
Schrift (der Beamten) und ihr Verhaltens- und Werte-System, der Lebensstil, ihr
Ethos. Die gesprochenen Sprachen der
verschiedenen Regionen Chinas unterscheiden sich untereinander nicht weniger als
z.B. die romanischen Sprachen zwischen Portugal, Spanien, Frankreich, Italien
und Rumänien (gesehen von West nach Ost). In China gehen die
Sprach-Differenzlinien von Nord nach Süd. So ist die Sprache ein schlechtes
Kriterium der Zugehörigkeit zur Ethnie der Chinesen. Sprachgemeinschaft ist
zwar meistens, aber nicht immer, das wesentliche Kriterium einer Ethnie. Hinzu
kommt, dass sich die Chinesen auch als
Rasse
physiologisch von ihren Nachbarvölkern unterscheiden. Nur für
Europäer sehen die Japaner so ähnlich aus wie die Chinesen.
2.8.7. Ethnie und Ethnos
Und nun zu dem nächsten, von mir mit spezieller Bedeutung
belegten Begriff, dem
Ethnos. Was ist der
Unterschied zwischen einem
Ethnos und einer
Ethnie?
(ethnos := Herde, Schar, Schwarm,
Völkerschaft).
Wenn man einige der Spezifika einer
Ethnie weglässt, dann erhält man einen
Ethnos. Der
Ethnos
ist eine
Konsens- Normen- und Werte-
Gemeinschaft
, die nicht mit
Im-Prägnierung verbunden ist, sondern mit
In-Doktrinierung, das heisst, ihr
Ethos ist über Worte und Begriffe
(vollständig) vermittelbar.
[191]
Daher
kann der
Ethos eines
Ethnos in jedem Lebensalter übernommen
werden. Im Gegensatz zur
Ethnie ist ein
Ethnos oft auch eine un- (bzw. gleich-)
geschlechtliche Vermehrungs- bzw. Propagations- Gemeinschaft. Bestes Beispiel
hierfür sind die christlichen und buddhistischen
Mönche. Die Gemeinschaft der Wissenschaftler
ist ein
Ethnos, die 7-Tage Adventisten auch. Man
kann sich tagsüber zum
Ethos der
Wissenschaftler bekennen und abends, bzw. Sonntags zum
Ethos der 7-Tage Adventisten. Dabei ist es
erforderlich, den
Ethos der Wissenschaftler und
den der 7-Tage Adventisten gut ausseinanderzuhalten. Um das im Fall von
Wissenschaft und Adventisten machen zu können, bedarf es einer gewissen
"sophistication"
des Geistes, es ist also nichts
für schlichter gestrickte Gemüter. Man braucht dazu Fähigkeiten,
wie die, die den guten oder
wahren Lügner
(Motto am Anfang) ausmachen. Allerdings gibt es auch viele Menschen, die so
einen Wechsel völlig unbewusst machen, und gar nicht merken, dass sie
zwischen verschiedenen, sich gegenseitig ausschliessenden Wertesystemen,
permanent hin- und herpendeln. Und die machen sich nicht einmal durch besondere
psychische Abnormitäts-Erscheinungen auffällig.
Nach dieser Definition ist die Gemeinschaft aller Christen,
also die Christen
heit ein
Ethnos.
[192]
Das Christen
tum ist ein
Ethos, weil es das verbindende
Konsens- und
Werte- System
aller Christen ist. Dabei können
die Christen beliebigen
Ethnien angehören
und tun es auch, mit der kleinen Ausnahme dass sie nicht irgendeiner islamischen
oder jüdischen Ethnie angehören. Der Begriff
kat-holisch (kata-holon, kata := herab, herunter;
holon := das Ganze [Weltall]) markiert hier das
Ethnien-überschreitende Spezificum des
Christen
tums, das in den entscheidenden
frühen Jahrhunderten auch einer der wesentlichen Unterschiede zum
Juden
tum war, das wesentlich eine
ethnische Religion ist, dh. die Gemeinschaft der
Juden propagiert sich praktisch nur über die
Familie, aber kaum über
Konvertiten.
[193]
Christentum, Islam und Buddhismus sind eher
kat-holische Religionen, Judaismus, Hinduismus
und Shintoismus sind eher
ethnische Religionen.
Ich habe jedenfalls noch von keinem Westler gehört, der zum Shintoismus
konvertiert ist.
[194]
Das "Credo quia absurdum"
des
Tertullian ist ein gutes Beispiel dafür, dass der
Ethos des Christentums nicht nur keinen Anspruch
auf logische Konsistenz macht, sondern ganz im Gegenteil seine Be- oder
Ab-Sonderheit gerade in solchen a-logischen bis absurden Annahmen findet, die
die rationalen Vernunft-Menschen nicht nachvollziehen können. Damit ist
auch ein gutes Fallbeispiel gegeben, was den
Ethos von der
Ethik unterscheidet.
2.8.8. Ethnische Typologie
Hier die ethnische
Typologie
[195]
:
Ethnos ist eine etwas weiter
gefasste, und
Ethnie ist eine etwas enger
gefasste,
Instanz der Oberklasse "Werte- und
Normengemeinschaften"
.
Das entscheidende Kriterium solcher Gemeinschaften ist die
Wahrheit (II. Ordnung: Was bin Ich), bzw. was
intuitiv als
Falschheit erkannt und
aus-segregiert wird.
Wahrheit ist sehr schwer zu
definieren und zu fundieren.
Falschheit ist seltsamerweise
ein
Prozess, der unfehlbar automatisch und
kategorisch abläuft und die
Unpassenden
[196]
innerhalb von Sekunden-Bruchteilen sofort
aussondert
(
segregation) und
aussortiert
(
discrimination,
secession).
Inwieweit
Ethos und
Ethik in eine begriffliche Konvergenz gebracht
werden können, ist das Kernthema heutiger Auseinandersetzungen von
Kultur-Relativismus bzw.
Kultur-Hegemonie, oder allgemein die Frage nach
menschheitlich general-verbindlichen
Wertesystemen, die den Bedingungen der
abendländischen Ethik genügen.
IMHO ist die westlich-philosophische Ethik
(möglicherweise) noch nicht ausreichend gerüstet für völlig
andere aussereuropäische Verhaltens- und Werte-Systeme. Es ist ein akutes
tages- sozio- politisches Streitproblem, ob es überhaupt irgendwelche
für alle Menschen verbindlichen Wertesysteme gibt. (Menschenrechte,
Eigentumsrechte, Freiheit
[197]
etc.). Sogar
das Leben des einzelnen Menschen ist laut chinesischer Staatstheorie dem
Wohlergehen des Volkskörpers untergeordnet und damit antastbar. Noch einmal
das obige Beispiel spezifisch für unterschiedliche Auffassungen zur
Individualität zwischen Chinesen und Europäern:
(URL)
(LOC_DVD)
_050421emot/zeit-hirn/www.zeit.de/2004/41/N-Kognition_China.html
2.8.9. Sapientia: Geruch und Geschmack
... als gefährliche Wahrnehmungs-Schwellwert-Funktionen
Geruch und Geschmack sind die
direktesten der Sinne, denn sie beeinflussen das
Limbische System direkt ohne rationale Kontrolle,
und aus dem Limbischen System kommen alle unsere
Bewertungs-Funktionen über unseren gerade
vorherrschenden Lebenszustand. Der
Geschmack,
also lat.
sapor, findet sich wieder in dem
bekannten philosophischen Begriff
sapientia.
[198]
Das griechische Äquivalent von
Sapientia ist
wiederum
Sophia. Der Unterschied von Geruch und
Geschmack ist der: Um etwas schmecken zu können, muss man es sich (schon)
einverleibt haben,
[199]
Geschmack ist eine
Vorstellung des Ich, eine
Propriozeption, Geruch ist eine
Vorstellung
des Nicht-Ich
, ie. eine
Allo-zeption, die sowohl includierend als auch
excludierend wirken
kann.
[200]
Der
Extremfall von Exklusion wird mit dem Begriff "Ekel"
markert: Liessmann (2000, p. 208): "Ekel ist ein Phänomen der Nähe".
Eine erste Philosophie des Ekels hat Spinoza entworfen, der "bedeutendste
Analytiker der Emotionen". Liessmann (2000, p. 206).
Der Geruchssinn fällt eine Entscheidung über
includierend oder
excludierend vor dem Einsetzen von
Verstandes-Funktionen. (Glossar,
Antipathie).
Daher wird Geruch hier als "gefährlich" bezeichnet. Diese unbewussten,
visceralen Bewertungs-Funktionen werden intuitiv
als "wahr"
erlebt, sie legen die ersten Parameter
unseres Erlebens der Welt. Verstandes-Funktionen setzen erst danach ein oder
an.
[201]
Wenn einem etwas besonders an dem
Geruch des Anderen auffällt, so kann das sowohl rein sensorische oder
psychische oder auch ethnische Gründe haben. Frauen haben im allgemeinen
einen besseren Geruchssinn als Männer, und in der Zyklusphase des Eisprungs
sind sie besonders empfindlich für männliche
Pheromone, meistens ohne es zu merken. Das ist
dadurch wissenschaftlich bewiesen, dass zu diesem Zyklus-Zeitpunkt auch solche
Frauen, die eigentlich überzeugte Monogamist(inn)en sind, sich (ab &
zu) einen Seitensprung gönnen, an den sie sich hinterher nicht einmal
erinnern können.
Die Unterscheidung im Geruch ist eines der beliebtesten (meist
abwertenden) ethnischen Abgrenzungs-Systeme. Hier wäre es voreilig, von
einem primitiven
Rassismus zu sprechen. Denn
Geruch hängt entscheidend davon ab, was man isst. Generell können wir
sagen, dass hier uneingeschränkt das Gesetz gilt: Du bist, was Du isst. Die
ethnischen Speise-Regeln und -Tabus gehören mit zu den grössten
Unterscheidungs-Faktoren der Ethnien. Was zählt, ist die Differenz-Funktion
zwischen der eigenen Körper-Chemie, und die des Anderen, die sich im Geruch
ausdrückt. Geruch ist ein
Differenz-Sinn.
Daher kommen auch solche Ausdrücke wie "Stallgeruch" wenn man einen Anderen
als Mitglied der eigenen Gemeinschaft erkennt, bzw. als Aussenstehenden
diskriminiert (
dis-crimen, lat. heisst erst
einmal ganz aussermoralisch: die
Unterscheidung,
der
Unterschied).
[202]
Z.B.: Die Hindu-Brahmanen essen lakto-vegetarisch, und dazu
nur bestimmte Milchprodukte
[203]
und nur
bestimmte Gewürze, und für diese sind die Angehörigen anderer
Kasten "unrein"
, weil sie Fleisch und stark riechende
Gewürze wie Knoblauch essen. Deshalb "stinken"
Europäer (besonders in der indischen Hitze) für die Brahmanen
buchstäblich, und eine Ablehnungs- und Ekel-Reaktion wird allein durch den
visceralen Effekt eines nach Schweiss stinkenden Europäers bewirkt. Gegen
diesen Visceral-Effekt hilft keine noch so ausgeprägte Toleranz, auch wenn
der Brahmane das vielleicht im nachhinein noch rational gegen-korrigieren
kann.
2.9. Die Wahrheit und die Drogen
Reality is for those only who can't
handle drugs
Spruch aus der Hippie-Szene
Der Gebrauch von bewusstseinsverändernden Substanzen
steht in hoher Verehrung bei fast allen aussereuropäischen Traditionen der
Wahrheitssucher. Die verschiedenen Traditionen des indigenen Schamanismus kamen
eher nur in Einzelfällen ohne Drogen aus, z.b. da wo nichts dafür
Brauchbares wächst, wie bei den Eskimos. Je weiter man in die Tropen geht,
desto mehr stellt die Natur auch an Substanzen zur Verfügung. Um der
Eingebung auf die Sprünge zu helfen, wurde fast alles eingesetzt, was nur
so im Kräutergarten wächst. Generell wird allen Kulturschaffenden
(besonders aber Rock- / Pop-Musikern) eine besondere Affinität zu solchen
Substanzen nachgesagt.
Hier ist eine unvollständige Liste:
Die grossen drei Konsumdrogen: Tabak (Nikotin), Koffein (Tee),
Alkohol,
[204]
und die exotischeren:
Haschisch,
[205]
Absinth,
Amanita Muscaria,
Soma,
[206]
Aconitum, Bilsenkraut, Stechapfel, Datura, Lopophoria (Peyote, Mescalin),
Psilocybe, Ayahuasca, Pfeilgift-Frösche, Opium, Morphium, Heroin, Kokain,
bis zu LSD, MDMA, Ketamin, Amphetamin, etc.
Kulturschaffende sind bekannt für ihre Affinität zu
Drogen jeder Art. Wirkliche Philosophen sind nur wenige darunter (Sartre),
vielleicht kann man Aldous Huxley einen solchen nennen. Bertrand Russell kann
man es sicher zutrauen. Im deutschen Umkreis war Freud der einzige, der sich
weit genug vorwagte, und seinen Drogenkonsum (Kokain) öffentlich machte,
aber er schwor ihm dann bald darauf wieder ab, nachdem er seine Psycho-Analyse
erfunden hatte.
Hinter der Statistik wer von den Wahrheitssuchern nun mit
welchem Erfolg welche Droge genommen hat, und was an Wahrheit er dabei gefunden
hat, steht aber das grosse Enigma: warum glaubten alle, die so etwas mehr als
einmal genommen hatten (und die an die Droge als einen Weg zur Wahrheit
glaubten), dass die Droge sie der Wahrheit näher brachte, als das was man
mit dem normalen Menschenverstand errreichen kann? Es gab auch drogen-freie
Methoden zur Bewusstseinsveränderung, wie z.B. stunden- tage- und
wochenlang an irgendeinem Platz zu sitzen, sich möglichst wenig zu bewegen,
und sich darauf zu konzentrieren,
Nichts zu
denken. Aber auch hier wäre zu fragen, warum das irgendwie
wahrheitsfördernd sein sollte.
Bewusstseinsverändernde Substanzen schaffen bei dem, der
sie konsumiert, ein Erlebnis von
Un-Mittelbarkeit, das an Intensität bei
weitem alles übertrifft, was sonst durch die Filter der Wahrnehmung
(
doors of perception, Huxley) in das Bewusstsein
tritt. Dieses Gefühl der Un-Mittelbarkeit lässt einen nur zu leicht
vergessen, dass die Droge natürlich das Mittel ist, durch das die Effekte
zustandekommen. Soweit ist die erlebte Un-Mittelbarkeit aber eine
Selbst-Täuschung.
2.10. Augustinus, der erste wirklich lateinische Philosoph
Augustinus bekennt es in seinen
"Confessiones"
(den Bekenntnissen) dass er als Junge
keinerlei Neigung und Interesse hatte, Griechisch zu lernen, dass ihm diese
Sprache sogar "wesensfremd"
und unheimlich erschien. Und
so lernte er sie erst gar nicht, sondern bezog sein ganzes Wissen der
christlichen Lehren aus lateinischen Übersetzungen der
Evangelien
[207]
, die ja in Griechisch als
Ursprache abgefasst waren, weil ihre Chronisten griechisch schrieben und
dachten, auch wenn die Protagonisten der Evangelien ziemlich ungebildete
aramäisch sprechende Juden (Jesus, Petrus), oder lateinisch-römisch
gebildet waren (Paulus). Das Johannes-Evangelium sticht hier besonders hervor,
weil es sozusagen durch und durch hellenisiert ist. Die Verwendung der
Schlüsselterminologie "en archae en ho logos" verrät hier schon alles,
und das was im Folgenden dort gesagt wird, folgt diesem Schlüsselbegriff
durch alle Instanzen, bis hin zur Apo-Kalypsis, dem krönenenden
Schluss-Stein des Werkes.
Von alledem hatte Augustinus nur durch Übersetzungen eine
Kenntnis, und durch die Auslegungen seiner Mutter Monica, seiner christlichen
Mitdenker in Mailand, dem Bischof Ambrosius, und als er auf die
Schlüssel-Erkenntnis seines Lebens kam: "Tolle
lege"
(Nimm und lies), da konnte er nur die lateinische
Übersetzung der Hl. Schrift zur Hand nehmen, die er auch verstehen konnte.
IMHO hatte Augustinus eine Verständnislücke der wichtigsten Schriften
des christlichen und jüdischen Kanons, und nur mit dieser grundlegenden
Unbefangenheit (auch eine Art von Lüge, wenn auch eine wohlmeinende),
konnte er dann herangehen, und die fundamentalen Denkmuster niederlegen, die das
Christentum dann für die nächsten 1500 Jahre entscheidend
beeinflussen. IMHO war das auch eine der grössten Niederlagen des Denkens
überhaupt in der Menschheitsgeschichte, weil damit das Griechentum aus der
Philosophie exorziert wurde, wie es dann ca. 100 Jahre nach Augustinus durch
Justinian mit Schliessung der athenischen Philosophenschulen dann auch
bruto
facto
in die geschichtliche Welt der Christenheit
und des Abendlandes umgesetzt wurde. Gleichzeitig setzte Justinian mit dem Codex
des Römischen Rechts (~530) auch die fortan allgemein gültige Prozedur
zur sozialen Wahrheits-Findung.
Augustinus war in seinem weltlichen Leben vor der Konversion
ein Rhetor und Anwalt gewesen, also einer von den römischen
Sophisten, die perfekt darin geübt waren,
durch geschickte Verdrehung von Umständen und Verhältnissen die
Gerichte davon zu überzeugen, dass die Version seines jeweiligen Klienten
das bessere Gehör und auch den genehmeren Richterspruch fanden. Diese
perfekt ausgeübte Kunst der geschickten Manipulation von Sachverhalten muss
im Wirken des Augustinus als einer der Kern-Faktoren angesehen werden, warum er
so grossen Einfluss auf seine Mitmenschen, und die darauf folgenden Denker der
Christenheit hatte. Und nicht ganz zufällig, liefert uns Augustinus einen
der ersten und umfangreichsten Traktate über "Wahrheit und Lüge", der
ebenfalls das Denken der nachfolgenden Menschheitsgeschichte entscheidend
beeinflusste. In seiner Nachwirkung auf die Mensch- und Christenheit war er
damit wohl einer der grössten Meinungs-Manipulatoren, die die römische
Rhetoren-Gelehrsamkeit je hervorgebracht hatte. Er konnte meisterhaft auf dem
schmalen Grad zwischen "Wahrheit und Lüge"
balancieren, denn als Anwalt hatte er natürlich gelernt, dass ein krasse
Lüge nur geschäfts-schädigend wirken kann, denn dass so etwas
ganz sicher "ans Licht der Sonnen" (
alaetheia)
kommen wird, ist nur zu offensichtlich. So hatte sich also der "Bock zum
Gärtner" gemausert, und damit wohl einen vergleichbaren Rösselsprung
vollzogen, wie der von
Saulus zu
Paulus.
Augustinus war wohl der entscheidende Denker, der die
christliche, und damit die abendländische Philosophie weg von den Griechen,
hin zu den Römern, lenkte, jedenfalls bis etwa zur Renaissance, als nach
dem Fall Konstantinopels wieder griechische Schriften in grösserer Zahl im
Original in Europa in Umlauf kamen, und ua. die Philosophie von Marsilio Ficino
und Picco della Mirandola beeinflussten (Neoplatonismus), und sich die
Gelehrten, die etwas auf sich hielten, fortan mit graecisierten Namen
schmückten. (Wie
Melanchthon, der vorher
Schwarzerdt hiess).
Arno Baruzzi weist in seinem Werk "Philosophie der
Lüge"
(PL) auf einen wesentlichen Unterschied der
abendländischen (lateinischen) Philosophie im Gegensatz zur altgriechischen
hin, der in einem verschiedenartigen Umgang mit der "Wahrheit" besteht, der
"
alaetheia" (alätheia bei Baruzzi). Alaetheia
heisst die "Unverborgenheit", oder die Lichtung bei Heidegger (Sturm 1996,
461-462), aber die
Wahrheit des römischen
Denkens ist die
Gewissheit
[208]
,
und IMHO ist dieser subtile, aber wie ein tiefer Graben die beiden
philosophischen Lager trennende Unterschied darin zu suchen, dass das
römische Denken einen ganz anders gearteten Stil der Philosophie
hervorbrachte als das griechische Denken, nämlich in diesem subtil aber
grundlegend anderen Verhältnis zur "Wahrheit an
Sich"
, dem Kernthema allen Philosophierens.
2.11. Odds & Ends
2.11.1. In-dividuum, A-tomos und Monade
In-dividuum und
A-tomos bedeuten das Gleiche:
Das
Unteilbare
.
Die sozio- und physio- Theorie-Systeme der Neuzeit entwickeln
ihre Gebäude auf der Grundlage dieser Annahme... Strukturelle
Zusammenfassung in der Denkfigur der Monade bei Leibniz...
2.11.2. Der Sinn
Um es anders zu formulieren: Es ist ein logischer Un-Sinn,
wenn man den Sinn eines Dings (er-) klären will, das als eines seiner
Grund-Komponenten schon den Sinn enthält. Aber leider ist das mit dem
Philosophieren über die "letzten Dinge"
kaum zu
vermeiden, und dazu gehören sowohl der "Sinn"
wie
das "Wesen"
(ousia), und die
"Wahrheit"
(alaetheia), dass es sich hierbei immer um
Randgänge und Schlingerwege handeln muss, ein andauernder Wandel von
Wandlungen in Selbst-und Reflexions-Bezüglichkeiten. Genau genommen
können wir keinerlei Anspruch auf
er-klären stellen, im Sinne von der
römischen Philosophie als
Gewissheit
[209]
,
sondern wir können nur einen Rand- und Wandelgang im Sinne der
altgriechischen
alaetheia anstellen, dass wir
sicher nicht zu endgültigen Wahrheiten und Gewissheiten gelangen, aber
darauf hoffend, auf unseren Schlinger-Wegen ein paar Erhellungen und Lichtungen
finden werden.
2.11.3. Der Wahre
Lügner
Was also ist der
Wahre
Lügner
?
Ist es der, der in seiner Lüge doch noch eine geheime
Wahrheit ausspricht,
die vielleicht niemand anders zu sagen oder zu denken wagte,
oder
ist er der
Diabolos
[210]
persönlich, der Herr aller Lügen (und Fliegen)
der da mit der neuesten und perfektesten aller Kreationen und
Fiktionen auf uns einredet,
um uns noch tiefer in sein Gespinst zu verwickeln, in dem wir
schon sowieso unentwirrbar verstrickt sind?
2.11.4. Von 1/2 und 3/4
Wahrheiten
Themensetzung:
In Kontrast zu dem Absolutheits-Anspruch des
Wahrheitsprogramms, das von Augustinus eingeleitet wurde,
die Grauzonen der 1/2 und 3/4 Wahrheiten,
die keine kompletten Lügen sind,
das was sich sowieso in ökonomischen Termen nicht
beweisen lässt, weil das zu aufwendig wäre,
Wahrheit und die Medien.
Wahrheit im Zeitalter des Internet.
Die Notwendigkeiten der sozialen Praxis, in der
Rechtsprechung, dass für irgendeine Verursachung ein Schuldiger gefunden
werden muss, der bei einem entstandenen Schaden bezahlen muss.
Die soziale Lüge des guten Benehmens: Saving face, oder
keep smiling. Freiherr v. Knigge.
Die Regeln des guten Benehmen erzwingen es, dass man die
soziale Umwelt nicht mit detailgenauen Wahrheiten über die eigenen
Befindlichkeiten belästigt.
Freud: Civilizations and its Discontents.
Wahrheiten, die niemand wissen will.
2.11.5. Das Thema von Narziss / Echo
Der Mythos vom
Narziss ist
strukturell gesehen das Thema der Selbst-Reflexion unter Ausschluss des Anderen,
während die Nymphe
Echo hier den undankbaren
Part der Hetero-Reflexion (also Reflexion des Anderen) unter Ausschluss des
Selbst spielt.
2.11.6. Die Suche / Sucht nach Ordnung
und das wohltemperierte Klavier
Das Göttliche ist in der Sicht der christlichen Denker
nicht nur die vollkommene Liebe, die absolute Wahrheit, sondern auch die
absolute Ordnung. Die Ordnung ist ein übergeordnetes Prinzip der Wahrheit,
denn sie spezifiziert ein Hierarchie-Prinzip von Wahrheiten
untereinander.
[211]
Nur wenn sich alle
Wahrheiten des Kosmos unter ein General-Prinzip unterordnen lassen, ist die
göttliche Ordnung perfekt. Die Un-Ordnung ist das Prinzip des
Dia-Bolos (Durcheinander-Werfen), heute wird es
auch
Entropie genannt. Leibniz versuchte mit
seiner
Theodizee, das göttliche
Ordnungs-Prinzip mit den verwickelten Gegebenheiten der Menschenwelt in Einklang
zu bringen. Sein Erfolg ist fraglich. Aber zeitgleich mit Leibniz erfand Joh.
Seb. Bach das Ordnungsprinzip der tonalen Welt, das wohltemperierte Klavier. Im
Gegensatz zu Leibniz war Bach damit extrem erfolgreich. Vor ihm liefen die
Tonarten unkontrollierbar immer weiter auseinander, das Prinzip des
Dia-Bolos schien sich in dieser schönsten
aller Künste auf ewig eingenistet zu haben. Bach konnte es erfolgreich
exorzieren. Damit hatte er mehr zur Verwirklichung einer universalen Harmonie
getan, als alle Philosophen es je hätten machen können.
[156]
S.a. Jean Gebser,
mens,
mind,
mentiri:
->:MENTIRI, p.161
[159]
Hier wird insb. das
Material aus Nietzsche (1994-1) behandelt:
Band I, "Jenseits von Gut & Böse", "Ecce homo".
[160]
Durch das er im
Er-Innern der Menschheit wesentlich verewigt wurde...
[161]
Über die
hintergründigen Ursachen von Nietzsches Zusammenbruch und Demenz kann man
getrost spekulieren: IMHO war Nietzsche als ehemaliger Sanitäter des
preussischen Heeres im 1870er-Krieg bestens vertraut mit den damaligen Methoden
der pharmakologischen Kriegsführung. Jeder Soldat trug eine Ration Morphin
im Tornister, im Falle von Verwundung. Es hatte sich sehr schnell
herumgesprochen, dass Morphin auch ohne Verwundung ganz gut tut, und so kamen
Tausende von Heimkehrern süchtig in die Heimat zurück. Dass Nietzsche
davon nichts wusste, ist eher unwahrscheinlich. Er selber hat in seinen
Aufzeichnungen nichts darüber hinterlassen, ausser ein paar Notizen
über seinen unmässigen Verbrauch von Schlafmitteln, die er sich als
Dr. Nietzsche selbst verschreiben konnte. Weitere kleine Exkurse in diese
Richtung finden sich in dem Kapitel: "Die Wahrheit und die Drogen".
Siehe auch: Ecce homo: 406
Alles erwogen, hätte ich meine Jugend
nicht ausgehalten ohne Wagnerische Musik. Denn ich war verurtheilt zu Deutschen.
Wenn man von einem unerträglichen Druck loskommen will, so hat man
Haschisch nöthig.
[162]
Man denkt dabei
zuerst an Erdöl oder Metalle. Tatsächlich wird aber Süsswasser in
der kommenden Zukunft die knappste Ressource für 3/4 der Menschheit sein,
über die die Kriege geführt werden.
Der Kampf zwischen Israel und den Palästinensern ist ein
Kampf um das Wasser.
[164]
"tolle lege": Nimm
und Lies
[165]
Jerry Pournelles
Umschreibung für die "Idiotas", die Laien, aus seiner Byte Magazine Kolumne
in den 1980er Jahren.
[166]
Siehe die Diskussion
zu:
"Altgriechische Philosophie, Heidegger und das Denken in Semantischen
Rhizomen"
[167]
Thomas Nagel: "What
Is It Like to be a Bat?"
[170]
Heidegger: WHD,
24-33, 67-70, 73-76
[171]
Sprichwörtliche
Beispiele hierfür sind die "kleinen moralischen Ausrutscher" von
wortgewaltigen amerikanischen Fernseh-Predigern. Überhaupt ist das gesamte
Gebäude der puritanisch geprägten amerikanischen "öffentlichen
Moral" durchsetzt von Doppelmoral.
[172]
So ist es das
ungeschriebene Gesetz, dass in all den netten Erotik-Filmchen, die spät
Nachts in RTL und Pro7 gezeigt werden, die Geschlechtsteile niemals direkt
gezeigt werden dürfen. Es könnten ja noch Kinder auf sein und sich das
ansehen.
[173]
Als Kontrastprogramm
dazu die erhellende Aussage von Daniel Dennett: Alle Gott-Gläubigen
irgendeiner monotheistischen Religion sind Atheisten (Ungläubige) mit
Referenz zu allen anderen monotheistischen Religionen. Der Atheist führt
diesen Prozess nur noch einen Schritt weiter.
[174]
Recht unterhaltsam
hat der Psychiater David Yallum in seinem Roman "Und Nietzsche weinte" die
Vorgänger-Protagonisten von Freud ins fin de siecle Wien zusammengedichtet.
Etwas wissenschaftlicher hat Breidbach in seinen Werken wie "Materialisierung
des Ich" die damaligen pyscho- / neuro- / und natur-wissenschaftlichen Faktoren
und Denker aufgeführt, aus denen Nietsche und Freud ihre
Denkvoraussetzungen schöpften: Wundt, Golgi, Haeckel,
Helmholtz...
[175]
In Deutschland mit
dem grossen Wegbereiter Adolf Bastian. Devereux, Ethnopsychoanalyse, p.
76
[176]
Folgende
Materialsammlung behandelt die philosophische Ethik und Sozial- (Wirtschafts-)
Theorie wird in . Insbesondere interessant sind die Kapitel zur Management-
Moral und -Ethik in Zeiten des Global-Kapitalismus:
Eine Einführung in die Philosophie von Rainer
Hegselmann:
(URL)
(LOC_DVD)
pe.uni-bayreuth.de/downloads/materialien/26_A_Teil1.pdf?did=560
[177]
z.B. Erdheim (1984),
Devereux, Gfäller (1987)
[179]
Dies soll keine Liste
nach irgendwelchen Kriterien der Wichtigkeit sein. Sonst müssten wir mit
Hammurabi anfangen, weitergehen mit Moses, dann die indischen Philosophen
des
Rita (
Rta) Mani, erwähnen, auch
Konfuzius und die
Taoisten nicht vergessen, eine gebührende Erwähnung von Minos,
Solon, Lykurg, und Justinian machen, und uns wieder durch die ganze
Weltgeschichte der Gesellschafts- und Rechts-Philosophie bis heute
durchwühlen.
[180]
a-tomos auf
Griechisch
[182]
Im Französischen
sagt man dann: "la langue francaise, la langue anglaise..."
Natürlich ist der logische Schluss nur im "Als Ob". Jeder
kompetente Sprecher einer Sprache weiss intuitiv, dass er über Sprache
verfügt, und nicht nur Sätze spricht.
[183]
Ie. dem
logischen
Typos nach Whitehead und Russell.
Siehe auch: Glossar: Gattungsbegriffe.
[184]
Die
Sprach-Fähigkeit als genetische menschliche Eigenschaft bedeutet, dass ein
Kind jede beliebige menschliche Sprache lernen kann, aus diesem Vermögen
wird darauf geschlossen, dass es so etwas wie
Sprache an Sich geben muss.
[187]
Von allen mir
bekannten Ethnien gibt es nur zwei Beispiele, wo das nicht so ist /war: Die
ausgestorbenen Indigenen Feuerlands und die australischen Aborigines. In
Feuerland ist die Situation insofern etwas ungewöhnlich gewesen, weil die
Temperaturen dort etwa dem Klima von Schottland entsprechen.
[188]
Verschiedene
Ethnologen (-Schulen) machen deshalb auch etwas verschiedene Grenzziehungen
zwischen den Schlüsselbegriffen ihrer Wissenschaft, die ihr Feld ja
wesentlich durch ihre Arbeit prä-definiert. In der Ethnologie gibt es keine
unbeteiligten (objektiven) Beobachter, und jeder Feldforscher beeinflusst das
soziale Feld der Menschen, die er gerade beobachtet.
Siehe auch: Gfäller (1987, p. 86).
[189]
Grenzfälle von
gleichzeitiger multi-ethnischer Zugehörigkeit von Kindern in
Mischehen-Familien lasse ich hier weg.
[190]
Es sollte aber nicht
vergessen werden, dass immer noch eine Vielzahl von Sub-Ethnien, vor allem in
den Gebirgsregionen, leben, deren Ethos sich stark von denen der
Mainstream-Chinesen unterscheiden, z.B. das Volk der Moso.
Hier ein Beispiel für tiefgreifende Unterschiede des
Ethos zwischen Chinesen und Europäern:
(URL)
(LOC_DVD)
_050421emot/zeit-hirn/www.zeit.de/2004/41/N-Kognition_China.html
[191]
Auch hier ist es eine
reine Definitionsfrage, der man widersprechen kann, aber nicht ob es wahr oder
falsch ist, sondern ob es zweckmässig ist oder nicht, solche
Unterscheidungen zu machen. Denn das was man Wahr-nimmt, hängt entscheidend
davon ab, wie man sich seine vorher Definitionen zurechtgelegt hat.
[192]
Natürlich
widersprechen die Christen, die den
Wahren Glauben gefunden haben, heftig
der Unterstellung, das
Christentum sei über Worte und Begriffe
(vollständig) vermittelbar. Hier kommt es entscheidend auf das
"Erweckungs-Erlebnis" an, das uns angefangen von St. Paulus bis hin zu G.W. Bush
immer wieder so lebhaft be-eindruckt.
[193]
Die grosse Ausnahme
von dieser Regel waren die
Khasaren, also die Vorläufer der
Ashkenasim, welche ein Turkvolk waren, das (auf Geheiss ihres
Königs) zum Judentum konvertierte. Die
Sephardim waren die
"originalen" Juden aus Israel, Judäa, und vor allem aus Babylon. Zwischen
diesen beiden Subgruppen des Judentums gab und gibt es natürlich auch
gewisse
Spannungen und Spaltungen (
Schismata), die aber bei der
heutigen gemeinsamen
Frontstellung gegen die Araber nicht so
auffallen.
[194]
Das noch weiter zu
verfeinern wäre etwas haarspalterisch. Shintoismus im Besonderen und
Hinduismus partiell definieren sich mehr durch ihre Rituale (bzw.
Segregations-Gebote, Speise- und Reinheits-Rituale) als durch ihre kognitiven
Lehren.
[195]
Principia
Mathematica von Whitehead und Russell. "Theory of Types" sind Hierarchien
von Logischen Typenklassen.
[196]
Das
Passen
oder
Nicht-Passen wurde von Darwin als Ausschlusskriterium seiner
Evolutionstheorie als
Fitness bezeichnet.
[197]
Freiheit ist ein
völlig vager Begriff, weil es immer nur "Freiheit von und zu irgendetwas"
geben kann. Selbstredend hat in keiner noch so "freien Gesellschaft"
irgendjemand die Freiheit, alles zu tun oder zu lassen was ihm gerade beliebt.
Für chronische Formen solcher Missverständnisse gibt es dann die
Psychiatrien und Gefängnisse.
[198]
Siehe Kants bekanntes
Diktum: "Sapere Aude" (NOO1, p. 23).
[199]
Mao Tse Dong: Der
Geschmack einer Birne wird erst durch das Draufbeissen offenbar.
(URL)
http://www.brainyquote.com/quotes/quotes/m/maozedong146717.html
[200]
Siehe weiter unten:
der bekannte Begriff der
Stallgeruchs-Gemeinschaft.
[201]
Bei Nietzsche die
entsprechenden Stellen: (1994-1):
"Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden." (Ecce homo
Warum ich so klug bin, 1. (p. 408)
[202]
Nietzsche (1994-3),
p. 219: sie "können sich nicht riechen!"
[203]
Die Butter und Ghi
(geklärte Butter), sind sozusagen heilige Substanzen im
Hindu-Weltbild.
[204]
Kulturschaffenden,
was aber nur eine Statistik ist. Wenn 10 % der Allgemein-Bevölkerung
europider Kulturen (Europa, USA, Südamerika) starke Alkohol-Konsumenten bis
Alkoholiker sind, dann trifft es die Kulturschaffenden mit ca. 20 % eben etwas
häufiger.
[205]
Indische Sadhus,
Sufis, die Hashishinen, War schon im 19. Jh eine Modedroge.
[206]
Soma oder Haoma ist
das Weisheitsgetränk der
Veden bzw. des
Zend Avesta, Ohne
Soma ging damals gar nichts. Seine biologische / pharmazeutische Identität
ist aber unbekannt.
[208]
Baruzzi PL, Register:
Gewißheit.
[209]
Baruzzi PL, Register:
Gewißheit.
[210]
Im folgenden verwende
ich das Pseudonym AD, wenn ich vermeiden möchte, dass ich nicht dem
Diabolos persönlich verwechselt werde.