8.1. Come to where the Plato is
8.2. Immanuel Kant
8.3. Parmenides: Vom Wesen des Seienden
8.4. Die Logik der Lehre von der Leere: Die Shunyata des Nagarjuna
8. Philosophie
8.1. Come to where the Plato is
I am plagiarizing here a well-known cigarette commercial. I do
it with the best intentions, though, so I hope to be forgiven. I do it to ensure
that all the toil of the commercial writers was not completely in vain and
served to produce at least one thing useful for the enlightenment of humanity,
besides enticing millions of people to cultivate their own private
lung-cancer.
Unfortunately, I have to include the german versions. I just
can't translate it all. There are more pressing things that I need to devote my
precious time to. Ars longa, vita brevis. And I wouldn't be under such a
pressure if I didn't know damn well how little time we have all got left. There
should be readily available english translations through the Berkeley texts, and
possibly as ASCII on the internet. As usual, it is only a question
to know
where it is, and
how to get it, and then having the
right internet
connection that doesn't let you wait for hours for every request so you
cumulatively spend a day just trying to get
it
[114].
8.1.1. Plato
,
Phaidros
: Über die Schrift
8.1.1.1. PHAIDROS 274 c
Sokrates: Ich habe also gehört,(88) zu Naukratis in
Agypten sei
einer von den dortigen alten Göttern gewesen, dem auch
der Vo-
gel, welcher Ibis heißt, geheiligt war, er selbst aber,
der Gott,
habe Theuth geheißen. Dieser habe zuerst Zahl und
Rechnung
erfunden, dann die Meßkunst und die Sternkunde, ferner
das (d)
Brett- und Würfelspiel, und so auch die Buchstaben. Als
König
von ganz Agypten habe damals Thamus geherrscht in der
großen
Stadt des oberen Landes, welche die Hellenen das
ägyptische
Theben nennen, den Gott selbst aber Ammon. Zu dem
sei
Theuth gegangen, habe ihm seine Künste gewiesen und
begehrt,
sie möchten den anderen Agyptern mitgeteilt werden. Jener
frag-
te, was doch eine jede für Nutzen gewähre, und je
nachdem ihm,
was Theuth darüber vorbrachte, richtig oder unrichtig
dünkte, e
tadelte er oder lobte. Vieles nun soll Thamus dem Theuth
über
jede Kunst dafür und dawider gesagt haben, was
weitläufig wäre
alles anzuführen. Als er aber an die Buchstaben gekommen,
habe
Theuth gesagt: "Diese Kunst, o König, wird die Agypter
weiser
machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel
für den Ver-
stand und das Gedächtnis ist sie erfunden." Jener aber
habe
erwidert: "O kunstreichster Theuth, einer versteht, was zu
den
Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein
anderer zu beurteilen,
wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie
gebrau-
chen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben
aus
Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn
diese
8.1.1.2. PHAIDROS 275 a
Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr
Vergessenheit
einflößen aus Vernachlässigung des
Gedächtnisses, weil sie im
Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels
fremder
Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar
erin-
nern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern
nur für die
Erinnerung hast du ein Mittel erfunden. Und von der
Weisheit
bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die
Sache
selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne
Unterricht,
werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl
sie (b)
doch unwissend größtenteils sind und schwer zu
behandeln,
nachdem sie dünkelweise geworden sind statt
weise."
8.1.1.3. PHAIDROS 275 b
Phaidros: O Sokrates, leicht erdichtest du uns ägyptische
und
was sonst für ausländische Reden du
willst.
Sokrates: Sollen doch, o Freund, in des Zeus
dodonäischem
Tempel einer Eiche Reden die ersten prophetischen
gewesen
sein.(89) Den Damaligen nun, weil sie eben nicht so weise
waren
wie ihr Jüngeren, genügte es in ihrer Einfalt, auch
der Eiche und
dem Stein zuzuhören,(90) wenn sie nur wahr redeten. Dir
aber
macht es vielleicht einen Unterschied, wer der Redende ist und
c
von woher er kommt. Denn nicht darauf allein siehst du, ob
sich
so oder anders die Sache verhält.
Phaidros: Mit Recht hast du mich gescholten. Auch dünkt
es
mich mit den Buchstaben sich so zu verhalten, wie der
Thebäer sagt.
Sokrates: Wer also eine Kunst in Schriften
hinterläßt und auch
wer sie aufnimmt, in der Meinung, daß etwas Deutliches
und
Sicheres durch die Buchstaben kommen könne, der ist
einfältig
genug und weiß in Wahrheit nichts von der Weissagung
des
Ammon, wenn er glaubt, geschriebene Reden wären noch
sonst
etwas als nur demjenigen zur Erinnerung, der schon das
weiß, d
worüber sie geschrieben sind.
Phaidros: Sehr richtig.
Sokrates: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift,
Phai-
dros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich:
Denn
auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man
sie
aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still.
Ebenso
auch die Schriften. Du könntest glauben, sie
sprächen, als ver-
8.1.1.4. PHAIDROS 275 d
stünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig
über das Gesag-
te, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie
aber
einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede
gleicher- e
maßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter
denen,
für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht,
zu wem sie reden
soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder
unverdien-
terweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe;
denn
selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich
zu helfen.
Phaidros: Auch hierin hast du ganz recht gesprochen.
Sokrates: Wie aber? Wollen wir nicht nach einer anderen Rede
8.1.1.5. PHAIDROS 276a
sehen, der Schwester von dieser, wie die echte entsteht
und
wieviel besser und kräftiger als jene sie
gedeiht?
Phaidros: Welche doch meinst du, und wie soll sie
entstehen?
Sokrates: Welche mit Einsicht geschrieben wird in des
Ler-
nenden Seele, wohl imstande, sich selbst zu helfen, und
wohl
wissend, zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides
soll.
Phaidros: Du meinst die lebende und beseelte Rede des
wahr-
haft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie
ein
Schattenbild ansehen könnte.
Sokrates: Allerdings eben sie. Sage mir aber dieses, ob ein
ver- b
ständiger Landmann den Samen, den er vor anderen pflegen
und
Früchte von ihm haben möchte, recht eigens im
heißen Sommer
in einem Adonisgärtchen (91) bauen und sich freuen wird,
ihn in
acht Tagen schön in die Höhe geschossen zu sehen?
Oder ob er
dieses nur als ein Spiel und bei festlichen Gelegenheiten tun
wird,
wenn er es ja tut; jenen aber, womit es ihm Ernst ist, nach
den
8.1.1.6. PHAIDROS 276 b
Vorschriften der Kunst des Landbaues in den gehörigen
Boden
säen und zufrieden sein, wenn, was er gesät, im
achten Monat
seine Vollkommenheit erlangt?
Phaidros: Gewiß so, o Sokrates, würde er dieses im
Ernst, c
jenes, wie du sagtest, nur anders tun.
Sokrates: Und sollen wir sagen, daß, wer vom
Gerechten,
Schönen und Guten Erkenntnis besitzt, weniger
verständig als
der Landmann verfahren werde mit seinem Samen?
Phaidros: Keineswegs wohl.
Sokrates: Nicht zum Ernst also wird er sie ins
Wasser
schreiben, (92) mit Tinte sie durch das Rohr aussäend mit
Wor-
ten, die doch unvermögend sind, sich selbst durch Rede
zu
helfen, unvermögend aber auch, die Wahrheit hinreichend
zu
lehren?
Phaidros: Wohl nicht, wie zu vermuten.
Sokrates: Freilich nicht; sondern die Schriftgärtchen
wird er (d)
nur Spieles wegen, wie es scheint, besäen und
beschreiben.
Wenn er aber schreibt, um für sich selbst einen Vorrat
von Erinnerun-
gen zu sammeln auf das vergeßliche Alter, wenn er es
etwa er-
reicht, und für jeden, welcher derselben Spur nachgeht:
so wird
er sich freuen, wenn er sie zart und schön gedeihen
sieht; und
wenn andere sich mit anderen Spielen ergötzen, bei
Gastmählern
sich benetzend und was dem verwandt ist, dann wird jener
statt
dessen seine Rede spielend durchnehmen.
Phaidros: Ein gar herrliches, o Sokrates, nennst du neben den
8.1.1.7. PHAIDROS 276 e
geringeren Spielen : das Spiel dessen, der von der
Gerechtigkeit
und dem, was du sonst erwähntest, dichtend mit Reden
zu
spielen weiß.
Sokrates: So ist es allerdings, Phaidros. Weit herrlicher
aber,
denke ich, ist der Ernst mit diesen Dingen, wenn jemand
nach
den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehörige
Seele
dazu wählend, mit Einsicht Reden sät und pflanzt,
die sich selbst
und dem, der sie gepflanzt, zu helfen imstande und nicht
277a
unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, woraus einige
in
diesen, andere in anderen Seelen gedeihen und eben dieses
un-
sterblich zu erhalten vermögen, und die den, der sie
besitzt, so
glücklich machen, wie einem Menschen nur möglich
ist.
Phaidros: Allerdings ist etwas noch weit Herrlicheres, was
du
hier sagst.
This is about Plato and writing. The second part is about the
seventh letter. For philosophical and philological readers: It is an essay that
I wrote just a little bit "tongue in cheek", but it has entirely serious
backgrounds. Unfortunately, because Plato wasn't known to have had any sense of
humor, the philosophy profession seems to have followed him in this strictly, no
matter how much they might have disagreed with him otherwise. There is something
entirely essential about Umberto Eco
's (nomme della
rosa) treatment of the famous lost book of Aristoteles on laughing. Philosophy
has lost this essential thing, and never regained it, when she became the
handmaiden of theology, because theologians are for sure not known for their
sense of humor. The last time, we heard a god laughing, was in the greek epos,
in Homer. After that: deadly serious business, this business of god-and-men.
Brrr, shudder. I wish I were in ancient Greece. Thank you, Umberto, and I hope
you will get to read this one day, even if you are probably too busy writing
another book so that you have no time any more to read other people's innocent
philosophical jokes.
8.1.2. Plato, die Tinte und die
Wälder
Im Verein mit Issa ben Jussuf
,
Buddha
und Aristoteles
gebührt Plato
der Ruhm, der Mensch unter den
Menschen zu sein, vor dessen Altar tausende und abertausende hochgelehrter
Denker die Stunden, Tage und Jahre ihrer kostbaren Lebenszeit opferten, um zu
ergründen, was der Sinn seiner Worte war. Tausende von Litern Tinte wurden
verbraucht, ganze Wälder dieser Erde wurden vermahlen, um die Tausende von
Tonnen Papier zu erzeugen, auf die man die Gedanken dieses Mannes, und die
Gedanken der Tausende von Männern, die seinen Gedanken folgten,
niederschrieb. Insofern war Plato der Hauptleidtragende seines eigenen
Ausspruchs im Phaidros:
Und jedes Wort, das einmal geschrieben ist,
treibt sich in der Welt herum, - gleichermaßen bei denen, die es
verstehen, wie bei denen, die es in keiner Weise angeht, und es weiß
nicht, zu wem es sprechen soll und zu wem nicht. Wird es mißhandelt oder
zu Unrecht getadelt, dann bedarf es des Vaters immer als Helfers; denn selber
hat es sich zu wehren oder sich zu helfen nicht die Kraft.
8.1.3. Der Hintereingang zu Plato:
Die Briefe
Das Leerstellendenken ist die "gerade so gut wie
mögliche" Strukturierung all dessen, was unstrukturierbar, undenkbar, und
unsichtbar ist. Mithin ist es eine Methode der Suche nach der philosophischen
Hintertreppe. Diese Hintertreppe zu Plato sind seine Briefe. Während in den
"offiziellen" Werken Platos dieser selber persönlich überhaupt nicht
erscheint, sondern nur seine Pappkameraden für sich argumentieren (den
Krieg austragen) läßt, und er selber sozusagen körperlos,
immateriell, wie der Geist über den Wassern schwebt, mithin pure Idee und
damit völlig absolut (abgelöst) ist - erscheint er uns in seinen
Briefen plötzlich als Plato der Mensch mit all seinen Hoffnungen,
Wünschen, Enttäuschungen und Verbitterungen, von denen er in seinem
langen Leben auch zur Genüge gekostet hatte. Sogar als treusorgender Oheim,
der die zur Verheiratung seiner Nichten notwendige Mitgift aus seinen nicht
allzu reichlichen Mitteln aufbringen muß, erscheint er uns (13.
Brief).
Vielleicht sind seine Briefe auch aus diesem Grund von vielen
Forschern angezweifelt worden, da ihnen ihr großer "Meister Propper" so
ganz anders, menschlich, verwundbar, und gar nicht so ideal erscheint. Das
paßt nicht in das Bild, das man sich von ihm gemacht hatte. Aber sogar,
wenn es Fälschungen sind, sind diese Briefe von immensen Wert für uns.
Es wären dann nämlich sehr gute Fälschungen. Die Detailkenntnis,
die aus ihnen spricht, ist von einer Tiefe, daß nur einer, der mit dem
Leben und Denken Platos sehr vertraut war, diese Briefe hätte fälschen
können. Und was ist eine Autobiographie durch einen Ghostwriter schon
anders als eine geschickte Fälschung der Persönlichkeit, die da
portraitiert wird? Wie wir sehen werden, argumentiert Plato selber höchst
überzeugend im Folgenden, daß jedes schriftliche Zeugnis vom
Grunde gesehen (von der archae aus) eine Fälschung ist, sogar wenn sie
von der Person selber stammt.
8.1.3.1. Plato und der ewige Kampf des Guten gegen das Böse
Platos Briefe sind ein autobiographisches Zeugnis und geben
uns einen tiefen Einblick in das Leben eines Mannes, der voll der guten
Absichten ist, es aber in seinem Leben nicht zustande bringt, eine einzige
große gute Tat zu vollführen. Und für schlechte Taten ist
seine Moral zu hoch, so daß er letztlich garnichts tut. Sie führen in
geradezu klassisch-griechischer Tragödienform die unheilvollen
Verstrickungen vor, in die einer geraten ist, der an das Gute im Menschen
glaubt, und immer seinem hoffnungsvollen Freund und Verbündeten,
(Dion
heißt er) helfen will, dann aber immer in
die Klauen des Bösen gerät, und diesem "mit Mühe kaum" knapp
entrinnen kann - das in der Person des Erzbösewichts
Dionysios
[115]
, dem
Tyrannen von Syrakus, verkörpert ist. Wären diese Personen nicht real
geschichtlich existierende Handelnde gewesen, käme man sofort auf die Idee,
sich hier zu fragen, ob die Namensgebung nicht auch wieder ein literarisches
Kunstprodukt ist. Man könnte also fragen, ob diese Briefe nicht also in
irgendeiner Form weitergeführte Dialoge Platos mit sich selbst und dem Rest
der Welt gewesen sind.
8.1.3.2. Plato und das Unhappy End
Andersherum, dies ist der Stoff, aus dem die
mythoi vom
Guten und Bösen gemacht werden. Die Ähnlichkeit des Dionysios mit
dem archetypischen Dallas-Fiesling J.R. Ewing mit seinen ewig gegebenen und nie
gehaltenen wunderschönen Versprechungen und süßen Reden ist
unverkennbar, und wenn wir uns heute einen Hollywood-Rührschinken ansehen,
wo eine Heldin immer wieder von den Bösewichten gefangengenommen wird, und
der Held sie unter Einsatz seines Lebens retten muß, so daß man sich
unwillkürlich nach der dritten Gefangennahme und Rettung fragt, was der
Held denn an dieser dummen Pute wohl hat, und warum er sich nicht eine
intelligentere Angebetete aussucht, es gibt doch auch schlaue Frauen, wenn man
sich also solche zugegebenermaßen unter unserer philosphischen Würde
stehenden Machwerke anschaut (die ich selber natürlich auch nie ansehen
würde), dann fragt man sich eben unwillkürlich, ob Plato nicht
ebenfalls der Mitspieler in einem solchen Hollywoodschinken gewesen ist,
für das, was er da in seinen Briefen präsentiert.
(ANM:HAPPY-END
[116])
Die Briefe 1, 2, 3, 4, 7, 8, und 13 behandeln eine sich
über diverse Jahre zwischen Platos unglücklich verlaufenen
Aufenthalten am Hof des Tyrannen hinstreckende Korrespondenz, mit seinen
Widersachern Dionysios I und II sowie seinem Protagonisten Dion. Das ist die
Rahmenhandlung, die schon genügend Grund bietet, sich einmal ein Semester
lang mit seinen Briefen zu beschäftigen. Nun aber zur Trialektik von
Inhalt, Form und Substanz, von Hyle, Morphe und Ousia seiner Briefe.
8.1.4. Plato, die Sprache und die
Schrift
In seiner Verstrickung mit der dunklen Macht, die nur darauf
aus ist, aus seinen Lehren etwas materiell und machtpolitisch verwertbares zu
ziehen, entwickelt Plato nämlich einige seiner interessantesten Gedanken zu
dem Problem der Schriftlichkeit, das natürlich in direkter Beziehung zu
seinen eigenen Prinzipien steht, Was er Wie in schriftlicher Form der Welt
anvertrauen mag. Dazu war als Einleitung der lange Abschnitt aus dem
Phaidros (274c-278b) gegeben, in dem er diese Prinzipien allgemein
vorträgt. Hier aber sehen wir die direkte Auswirkung. (Brief 2, p.
25-26)
Du behauptest nämlich, ... es sei dir
nicht hinreichender Aufschluß gegeben worden über die Natur des
ursprünglich (archae?) Ersten. Wenn ich dich darüber aufzuklären
suche, so kann das nur in rätselhaften Andeutungen geschehen, damit
für den Fall, daß dieser Brief etwa abhanden kommen... und von irgend
jemand hervorgeholt werden sollte, der Leser es nicht verstehe. Es verhält
sich nämlich so:
Auf den königlichen Herrscher des Alls
bezieht sich alles und jedes und er ist der Endzweck von allem sowie auch der
Urheber von allem Schönen. Ein Zweites aber hat seine Beziehung auf das
Zweite und ein Drittes auf das Dritte. Die menschliche Seele nun trägt
Verlangen nach Erkenntnis der eigentlichen Beschaffenheit desselben, ... Bei dem
Alleinherrscher und dem worauf meine Äußerungen (damals) gingen,
findet sich von dergleichen Unvollkommenheit nichts...
Plato antwortet hier auf die Frage nach den letzten und
ursprünglich ersten Dingen. Im zweiten Absatz spricht er von dem
"königlichen Herrscher des Alls". Der genaue Wortlaut des
Originaltexts sollte hier auf mögliche andere Bedeutungen geprüft
werden. Was es mit der Beziehung des "Zweiten zum Zweiten" und des "Dritten auf
das Dritte" auf sich hat, ist sehr dunkel. Was auch immer er meint, er spricht
hier von einer irgendwie gearteten Trinität dieses
Nichtgenannten.
Du aber erklärtest mir... du
hättest selber darüber nachgedacht und seiest durch einen Fund belohnt
worden. Und ich erwiderte, wenn das für bare Münze zu nehmen
wäre, wie du glaubtest, so würdest du mir damit eine gewaltige
Gedankenarbeit abgenommen haben. Noch niemals aber, erklärte ich, sei ich
einem begegnet, der dies ausfindig gemacht hätte, und all mein
Forschungseifer sei darauf gerichtet. Du aber hast es vielleicht von wer
weiß wem gehört, möglicherweise bist du durch göttliche
Fügung auf solche Spur geraten,... tatsächlich aber hat nichts davon
wirklichen Bestand.
Sieh dich aber vor, daß diese
Schriftstücke nicht in die Hände ungebildeter Leute fallen. Denn
meines Bedünkens gibt es kaum etwas, was der großen Menge
lächerlicher vorkäme als solche Belehrungen, wie es anderseits
für die fähigen Köpfe nichts gibt, was mehr Bewunderung und
Begeisterung hervorrufen könnte. Werden sie aber oftmals vorgetragen und
von den Hörern immer wieder und viele Jahre hindurch vernommen, so
klärt sich bei redlicher Anstrengung die Sache allmählich mehr und
mehr, verlgeichbar dem Golde, das mit vieler Mühe gereinigt
wird...
p. 27 unten
Am sichersten beugt man dem vor, wenn man
nichts niederschreibt, sondern sich ganz ans Verstehenlernen hält. Denn was
zu Papier gebracht worden ist, das entgeht auch nicht dem Schicksal der
Veröffentlichung. Darum habe ich selbst noch nie etwas über diese
Dinge niedergeschrieben, und es gibt keine Schrift des Platon und wird auch
keine geben. Was aber die jetzt mir beigelegten Schriften anlangt, so sind sie
nichts anderes als Werke des Sokrates, des verfeinerten und verjüngten
Sokrates nämlich.
p. 28 Mitte
8.1.5. Der Siebte Brief: Plato's
Digest
Der siebte Brief gibt uns dann einen Einblick in das Denken
von Plato, daß wir versucht sind, hier den kleinen Schlüssel zu
der kleinen Hintertür von Platos Gesamtwerk zu sehen. Plato schrieb
diesen Brief in seinen letzten Lebensjahren, und als ob er den offenen oder
unbewußten Wunsch gehabt hätte, hier ein Resumee seines ganzen Lebens
zu geben, erfahren wir hier Zusammenhänge, die uns einen "Reader's Digest"
des Lebens und Wirkens Platos, also einen "Plato's Digest" ahnen lassen. Er
erzählt uns von seinen politischen Verwicklungen und Entäuschungen in
seinen Jugendjahren, seine bitteren Enttäuschungen, seinen Schmerz um die
Verurteilung des Sokrates, seinen Rückzug in die innere Emigration, seine
so gründlich enttäuschte Hoffnung, in Syrakus eine Gelegenheit zur
Verwirklichung seiner Ideen zu finden, seine Hoffnungen, die er auf Dion gesetzt
hatte, seine nie enden wollenden Verwickelungen mit den Ränken des
Dionysios. In diese menschliche, allzu menschliche "never ending story"
eingebettet, finden wir einige Kernsätze seines Denkens, so als ob er hier
einmal, und nie wieder, den Außenseitern, die die nicht durch seine
Schule gegangen waren, den idiotas also (wie Cusanus gesagt hätte), einen
Einblick gewähren wollte, den er sonst stets sorgfältig zu
verschleiern verstand.
8.1.5.1. Platos Prüfungsmethode für die philosophischen
Kandidaten
Nach meiner Ankunft hielt ich es für
meine erste Aufgabe, Gewißheit darüber zu erlangen, ob Dionysios in
Wahrheit Feuer und Flamme für die Philosophie wäre oder ob nichts
wäre an den vielen Gerüchten, die darüber nach Athen gekommen
waren. Es gibt nun ein gewisses Verfahren, dies auszuprobieren,... das in der
Tat ganz angemessen ist... bei solchen, die den Kopf ganz voll haben von
mißverstandenen philosophischen Lehren.
8.1.5.2. Die Merkmale des guten Kandidaten
Man muß nämlich solchen Leuten
die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Umfang, muß das
Eigentümliche des Gegenstandes, die ganzen Schwierigkeiten und die
große dazu erforderliche Mühe deutlich zu erkennen geben. Ist
nämlich, wer das hört, ein wahrhafter Freund der Weisheit, ... so will
er lieber auf das Leben verzichten als auf dieses Ziel. Und so mutet er denn
sich und dem Führer auf diesem Weg die äußerste Anstrengung zu
und läßt nicht locker, bis er entweder das Ziel erreicht oder die
Fähigkeit erlangt hat, ohne den Wegweiser sein eigener Führer zu sein.
Von dieser Anschauung durchdrungen... geht ein solcher seinen
Berufsgeschäften zwar nach,... bleibt aber vor allem immer der Philosophie
treu ergeben und bedacht auf eine alltägliche Lebensweise, die seine
Fassungskraft, sein Gedächtnis, und sein Denkvermögen in innerer
Nüchternheit bis zum denkbar höchsten Grade steigert (66),
während die dieser entgegengesetzte ihm für immer aufs Tiefste
verhaßt ist.
BIB:PLATO-BRIEFE
Brief 7, p. 70
ff
8.1.5.3. Woran man den Ausschuß erkennt
Ganz anders diejenigen, die mit der
Philosophie nicht wahrhaft verwachsen sind, sondern sich in dem nur
äußerlichen Farbenschimmer bloßer Meinungen gefallen, gleichend
den Leuten, deren Körper von der Sonne gebräunt ist: wenn sie den
Umfang des Wissensgebietes und das hohe Maß der erforderlichen Anstrengung
gewahr werden und sehen, daß die streng sittliche Lebensweise die einzig
für diese Aufgabe passende ist, so erscheint ihnen die Sache schwierig und
über ihre Kräfte hinausliegend ; sie versagen also im Dienste der
Philosophie; einige von ihnen aber betrügen sich selbst mit der Einbildung,
sie hätten durch das Gehörte schon eine genügende Vorstellung des
Ganzen und könnten sich weitere Bemühungen sparen.
Das ist die klare und die sicherste Art der
Vergewisserung bei Genußmenschen, die zu ansharrender Anstrengung
unfähig sind. So geprüft, können sie die Schuld nie auf den
Führer schieben, sondern nur auf sich selbst, auf ihre Unfähigkeit
nämlich, alles für die Erfüllung der Aufgabe Erforderliche zu
leisten.
Wir erhalten in diesen Abschnitten einige sehr intime
Einblicke in seine Lehrmethode, wie er prospektive Schüler auf ihre Eignung
prüft. Weiterhin gibt diese Stelle einen Einblick in das, was man das
"Yoga" der platonischen Philosophie nennen könnte, also den Lebenswandel,
den der Kandidat führen sollte (oder muß) um sein Ziel zu erreichen.
Vergleichen wir diese Stellen mit anderen, so aus den indischen Yoga-Schriften
oder aus den buddhistischen Mönchs-Anweisungen, so fällt auf,
daß hier wie dort ungefähr dasselbe erscheint. Das ist wohl auch
nicht sonderlich verwunderlich, da Plato seine Anweisungen sicher von den
Pythagoräern hatte, welche sie von den Ägyptischen Mysterienpriestern
übernommen haben.
8.1.5.4. Von der Problematik der Schriftlichkeit
In diesem Sinne wurde denn auch damals mein
Vortrag (67) vor Dionysios gehalten. Ich trug ihm also nicht alles vor und
Dionysios verlangte auch nicht danach. Denn vieles und gerade das Wichtigste gab
er sich den Anschein schon zu wissen, zur Genüge unterrichtet durch das,
was er gelegentlich von den anderen gehört hatte. Späterhin hat er,
wie ich höre, über das damals Gehörte sich auch
schriftstellerisch ausgelassen, als wäre das in der Schrift Mitgeteilte
seine eigene Erfindung, die mit dem Gehörten nichts zu tun hätte. Mir
selbst ist nichts davon vor Augen gekommen. Gewisse andere Leute haben
allerdings, wie ich weiß, über eben diese Gegenstände
geschrieben, doch wissen sie selbst nicht über sich Bescheid (68). So viel
indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und
schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben über den
Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir
gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden
haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens
ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift
darüber und wird auch keine geben.
8.1.5.5. Die völlig andere Natur der Lehre, die die Schrift
transzendiert
Denn es steht damit nicht so, wie mit
anderen Lehrgegenständen: es läßt sich nicht in Worte fassen,
sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem
wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es
plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken
entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst. So viel
weiß ich indes, daß es am besten immerhin noch von mir selbst
vorgetragen würde, nicht minder auch, daß es bei schlechter
schriftlicher Abfassung mir sehr viel Herzenskummer bereiten
würde.
8.1.5.6. Das Wesentliche ist nicht aufschreibbar
Wäre es aber meiner Ansicht nach
möglich, diese Dinge in einer für das Publikum befriedigenden Weise
niederzuschreiben oder mündlich vorzutragen, was könnte ich dann
für ein schöneres Werk aufweisen in meinem Leben als der Menschheit
durch solche Schrift ein großes Heil zu bescheren und das Wesen der Dinge
für alle ans Licht gezogen zu haben? Aber meines Erachtens bringt ein dahin
gerichteter (69) Versuch schwerlich einen Gewinn für die Menschen,
höchstens für die wenigen, die auf einen kleinen Wink hin selbst
imstande sind es zu finden; die übrigen aber würden dadurch sehr zum
Schaden der Sache teils mit einer übel angebrachten Verachtung der
Philosophie erfüllt werden teils mit einem ganz übertriebenen und
hohlen Selbstbewußtsein, als wären sie im Besitze wer weiß
welcher hohen Weisheit.
Doch empfiehlt es sich, wie ich mir sage,
mich darüber noch etwas ausführlicher auszulassen. Denn vielleicht
dürfte meine obige Behauptung (70) durch diese Ausführung noch mehr
Licht erhalten. Es gibt eine unwiderleglich wahre Gegeninstanz gegen jeden
Versuch, irgend etwas der Art schriftmäßig zu behandeln, oft genug
von mir schon früher besprochen, doch wert, wie es scheint, auch jetzt
wieder zur Sprache gebracht zu werden.
8.1.5.7. Die notwendigen Voraussetzungen der Erkenntnis
Für jedes Ding kommen als notwendige
Voraussetzungen seiner Erkenntnis drei Punkte in Betracht (71), --
- als vierter Punkt aber die Erkenntnis
selbst,
- als fünftes muß man dasjenige
setzen, was der eigentliche
Gegenstand der Erkenntnis und das wahrhaft
Seiende ist --
1) nämlich erstens der Name (onoma),
2) zweitens der Begriff (logos),
3) drittens das Abbild (eidolon),
4) viertens die wissenschaftliche
Erkenntnis (episteme) (72).
5) das Seiende, die Idee
Will man sich das damit Gesagte klar
machen, so halte man sich an ein bestimmtes Beispiel, das uns zum
Verständnis aller möglichen Fälle verhelfen
soll.
ad 1) "Kreis" z. B. ist ein sprachlich
bezeichnetes Ding, dem eben der Name zukommt, den wir jetzt
aussprechen.
ad 2) [Die Definition:] Das Zweite ist dann
der Begriff des Kreises, der sich zusammensetzt aus Haupt- und Zeitwörtern,
nämlich "was allseitig von den Endpunkten bis zum Mittelpunkt die gleiche
Entfernung hat", das dürfte wohl der Begriff dessen sein, was den Namen
"Rund", "Gleichförmig gebogen" und "Kreis" trägt.
ad 3) Ein drittes ist dann das
körperliche Bild, gezeichnet und wieder weggewischt, oder vom Drechsler
hergestellt und der Vernichtung preisgegeben, Veränderungen, von denen der
Kreis an sich, auf den sich alles dies bezieht, nicht betroffen wird, da er
etwas davon Verschiedenes ist.
ad 4) Das Vierte sodann ist die
wissenschaftliche Erkenntnis und die vernünftige Einsicht und die wahre
Meinung von diesen Dingen, alles Tätigkeiten, die sich
zusammenschließen zu einer Einheit, welche nicht in sprachlichen Lauten
oder in körperlichen Gebärden sich geltend macht, sondern in der Seele
ihren Sitz hat, wodurch denn klar wird, daß sie verschieden ist sowohl von
der Natur des Kreises selbst (72) wie auch von jenen vorhergenannten
Punkten.
Die Erkenntnis ist das Gedankenbild, das sich in der Seele
formt. Dieses ist wohl zu unterscheiden von dem sinnlich wahrnehmbaren Bild, das
man malen, sprechen, singen, oder in Material schaffen kann. Plato unterscheidet
es noch von der Idee, indem er betont, daß die Idee nicht "unsere" ist,
sondern für sich ist.
ad 5) Am nächsten nun nach
Verwandtschaft und Ähnlichkeit steht dem fünften (der Idee) die
vernünftige Einsicht, während die anderen Momente ihr ferner
stehen.
Das Nämliche wie von der gerundeten
Gestalt gilt natürlich auch von der geraden, und so auch von der Farbe, vom
Guten und Schönen und Gerechten, von jedem Körper, dem künstlich
hergestellten wie dem von Natur entstandenen, von Feuer, Wasser und allen
Elementen, von jedem lebenden Wesen und jeder Seelenverfassung, von jedem Tun
und Leiden.
Denn wer an einem dieser Dinge nicht
irgendwie jene vier Abstufungen erfaßt hat (74), der wird niemals der
Erkenntnis des fünften in vollem Maße teilhaftig werden. Dazu kommt
noch, daß diese vier unteren Stufen ebenso sehr darauf ausgehen die
qualitative Beschaffenheit eines jeden Dinges aufzuzeigen als das eigentliche
Wesen desselben und zwar mit Hilfe der unzulänglichen sprachlichen
Darstellungsmittel (75).
Daher wird kein Vernünftiger es
jemals wagen das von ihm mit dem Geiste Erfaßte diesen unzulänglichen
sprachlichen Mitteln anzuvertrauen und noch dazu, wenn dieselben ein für
allemal festgelegt sind, wie es bei dem in Buchstaben Niedergeschriebenen der
Fall ist. Zum Verständnis dessen soll uns wieder das obige Beispiel
verhelfen. Jeder Kreis, der mit Mitteln der Sinneswelt gezeichnet oder von dem
Drechsler hergestellt wird, zeigt eine Fülle von Eigenschaften, die in
Widerspruch stehen mit jener fünften Erkenntnisstufe -- denn der sinnliche
Kreis gerät überall in das Gehiet des Geraden (76) -- während,
wie wir behaupten, der Kreis an sich von der gegensätzlichen Natur gar
nichts an sich hat, weder viel noch wenig.
8.1.5.8. Namen sind relativ und austauschbar
Was aber den Namen der Dinge anlangt, so
hat dieser keinen festen Bestand, vielmehr kann, was jetzt rund heißt
(77), ohne weiteres auch gerade heißen und was gerade heißt, rund.
Die Wortvertauschung und entgegengesetzte Benennung ändert an dem festen
Bestand der Sache selbst gar nichts. Und auch mit der Begriffsbestimmung
(Definition) steht es ebenso (78): sofern sie sich aus Haupt- und
Zeitwörtern zusammensetzt, entbehrt sie durchaus der vollen Festigkeit. Und
so läßt sich noch Tausenderlei anführen zum Erweis der
mangelhaften Deutlichkeit dieser vier Stufen.
Die Hauptsache bleibt aber doch immer das,
was wir kurz vorher anführten. Nämlich während die Seele, was die
zwei genannten Beziehungen, das Wesen und die Beschaffenheit, anlangt, nicht
nach der Beschaffenheit sondern nach dem eigentlichen Wesen forscht, beruft jede
der vier Erkenntnißstufen in Wort und Wirklichkeit sich auf das nicht
Gesuchte und da sie das Gesagte oder Vorgezeigte auf Grund der sinnlichen
Wahrnehmung leicht widerlegbar macht (79), bringt sie fast ausnahmslos jedermann
in einen Zustand der Ratlosigkeit und Unsicherheit.
8.1.5.9. Kein Schutz gegen Sophisterei bei Dingen der fünften Stufe
Bei Gegenständen nun, bei denen wir
infolge mangelhafter Vorbildung überhaupt gar nicht gewohnt sind nach der
Wahrheit zu forschen, so daß schon das vorgehaltene Abbild genügt,
kommt es nicht dahin, daß sich die Mitunterredner von den
Hauptunterrednern, die sich auf die Zurückweisung und Widerlegung der vier
Unterstufen verstehen, lächerlich gemacht sehen. Bei solchen
Gegenständen dagegen, wo wir dem Antwortenden keine andere Möglichkeit
lassen als auf die fünfte Erkenntnisstufe sich einzulassen und sich
darüber zu erklären, da hat immer der Widerlegungskundige, wenn er nur
will, gewonnenes Spiel (80) und stellt den, welcher in Rede, Schrift oder
Antwort seine Gedanken zum Ausdruck bringt, der Mehrzahl der Zuhörer als
einen Stümper hin auf dem von ihm in Schrift oder Wort berührten
Gebiet. Dabei haben die Hörer mitunter gar keine Ahnung davon, daß
eigentlich nicht das, was die Seele denkt, widerlegt wird, sondern die von Haus
aus unzulängliche Natur einer jeden der vier
Erkenntnisstufen.
Und mag die Beschäftigung mit diesen
Fragen auch in alles eingedrungen sein und sich immer wieder bald diesem bald
jenem Punkt zugewandt haben, so kommt es doch kaum dahin, daß sie ein
wirkliches Wissen des seiner Natur nach Vollkommenen erzeugt und auch dies nur
in einem von Natur reich beanlagten Geist. Wo es aber mit der natürlichen
Anlage schlecht bestellt ist, wie es bei der großen Masse hinsichtlich der
Empfänglichkeit der Seele für wissenschaftliche Belehrung und für
die sogenannte Sittlichkeit teils von Haus aus, teils infolge zerstörender
Einflüsse der Fall ist, da kann auch ein Lynkeus (81) dem trüben Auge
nicht zu voller Sehkraft verhelfen. Kurz und gut: wer sich nicht innerlich mit
der Sache verwandt fühlt, den kann auch Fassungskraft und
Gedächtnisstärke hier nicht zum Ziele führen; denn bei
widerstrebender Geistesrichtung schlägt die Philosophie in der Seele
überhaupt nicht Wurzel. Wer also nicht innerlich verwachsen und verwandt
ist mit dem Gerechten und sittlich Schönen überhaupt, mag auch der
eine von ihnen für dieses, der andere für jenes Wissensgebiet mit
leichter Fassungskraft und Gedächtnisstärke begabt sein, ja auch wer
sich ihm verwandt fühlt, dabei aber der Fassungskraft und
Gedächtnisstärke ermangelt, der wird, und zwar ohne Ausnahme, niemals
den denkbär höchsten Grad der Erkenntnis von dem wahren Wesen der
Tugend und des Lasters erreichen ; denn beide, Tugend und Laster, gehören
für die Erkenntnis notwendig zusammen (82), wie denn für das ganze
Seinsgebiet Irrtum und Wahrheit gleichzeitig und verbunden miteinander in
unermüdlicher Anstrengung und mit reichlichem Zeitaufwand erkannt werden
müssen, wie ich gleich zu Anfang bemerkte (83).
8.1.5.10. Der langwierige Prozess des Verstehens
Und erst wenn alles Einzelne, Namen,
Begriffsbestimmungen, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in mühsamer
Arbeit nach ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander in einem trotz aller
Widerlegungen stets versöhnlichen Tone erörtert und ohne alle
Gereiztheit bei Fragen und Antworten (84) durchgeprüft ist -- erst dann
lassen Einsicht und Vernunft ihr Licht erstrahlen über jeglichen
Gegenstand, mit einer Kraft, die sich bis zur Grenze des für Menschen
überhaupt Erreichbaren steigert. Daher ist denn jeder ernsthafte Mann weit
entfernt, durch Veröffentlichung schriftlicher Auslassungen über
hochernste Dinge diese der Streitsucht und den Zweifeln der Menschen
preiszugeben. Kurz, es ergibt sich aus dem Gesagten folgende Lehre: wenn man auf
schriftliche Auslassungen stößt, sei es von einem Gesetzgeber zur
Erläuterung von Gesetzen (85) oder sonst auf Schriften irgend welcher Art,
so war diese Schriftstellerei, wenn anders er selbst ein ernsthafter Mann ist,
nicht sein voller Ernst... hat er das aber wirklich in vollem Ernst als
Schriftwerk veröffentlicht, dann haben -- zwar nicht die Götter, wohl
aber -- sterbliche Menschen ihn aller Besinnung beraubt (87).
BIB:PLATO-BRIEFE
, Brief 7, p.
77
Plato vermittelt uns eine Sicht des Wissens "von Innen". Was
aber der Meister als lebendiges Gebilde in seiner Seele nährt, kann nur
Bruchstück- und Scheibchen- weise über das Medium der Sprache an seine
Zuhörer übertragen werden. Die können dann nur versuchen, diese
Bruchstücke in ihrer Seele wieder architektonisch zusammenzusetzen. Der
Meister muß immer wachen und Feedback einholen, und prüfen, ob die
Schüler das Wissen auch richtig wieder zusammensetzen. Wenn die
Schüler aber ein Buch lesen, wenn sie keinen Meister haben, kann schon beim
ersten Satz, bei der ersten Seite ein systematischer Fehler auftreten, der ihnen
die Erkenntnis durch alle tausend oder zehntausend Seiten des folgenden Textes
verbaut. Kant ist es offenbar gelungen, die Architektonik des Wissens und des
Wißbaren zu rekonstruieren, und über Kant hinausreichend ist da noch
das ungeheure Feld dessen, was wir nie werden wissen können, dessen
Architektonik uns aber dennoch zugänglich ist.
8.1.6. Plato der
Kreter
Wir müssen jetzt die große Frage des
Leerstellendenkens stellen, die Frage, die uns allwöchentlich im "Wort zum
Sonntag" präsentiert wird: Was sagt uns all dieses? Erklärt uns
Plato hier mit freundlichen Worten, daß all die anderen Schriften, die er
uns hinterlassen hat, diese tausende von Seiten, die hunderttausende von Worten,
nichts als Schall und Rauch sind? Wir haben hier in etwas anderer Form, eben
platonisch, das alte logische Rätsel: "Alle Kreter sind Lügner". Plato
selber erzählt uns in aller Deutlichkeit, daß seinen Schriften nicht
zu trauen ist. Dies ist ein Fall par Excellence für das
Leerstellendenken. Wenn es sich im eine Frage des Wissens handelte, dann
könnte man es mit den normalen aristotelischen Methoden abhandeln. Hier
aber haben wir eine große, unübersehbare, nicht wegzudividierende,
und wegzuinterpretierende systematische Leerstelle im Gedankengebäude des
Plato. Wozu dienen aber dann all die Werke Platos? Plato hat sich ja diese
große Mühe nicht nur aus Jux und Zeitvertreib gemacht. Er wollte
etwas für seine Schüler hinterlassen, so daß diese, wenn sie den
Schlüssel einmal hatten, den Zugang zu dem großen Palast der
Mnemosyne erhalten konnten, den er erbaut hatte. Aber was ist aus dem
Schlüssel geworden? Haben wir hier die berühmte aristotelische Kiste
vor uns, in der wir stecken, und deren Anleitung zum Öffnen an der
Außenseite steht?
8.1.7. Plato und die
Metanoia
Vergleichen wir die Aussagen des siebten Briefs mit solchen,
die wir von Buddha kennen, so fällt sofort der identische Ton auf. Auch
Buddha betonte immer und immer wieder, daß das Wesentliche nicht aussagbar
und nicht aufschreibbar sei. Deshalb wurde im Buddhismus die Lehre von der
Shunyata geformt. Wir finden hier den Kernsatz, der darauf hinweist, daß
Plato mit seinem System so etwas wie eine Einweihung verband, die aber nicht von
außen gesteuert werden konnte, sondern spontan, von innen, erfolgen
muß:
Dann... tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein
durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann
durch sich selbst.
Der griechische Begriff hierfür ist metanoia.
Dieser Kernsatz weist übrigens direkt auf die Logoslehre des Heraklit und
seinen Ausspruch: "Das Feuer ist vernunftbegabt", wobei wir hier mit
"Vernunft" eben den transzendenten Aspekt zu sehen haben, den Plato oben
andeutet. Die Autonomie des Prozesses: "es nährt sich von selbst"
ist genau die Beobachtung, die die Menschen seit einer Million Jahren mit dem
Feuer gemacht haben, und warum es für sie göttliche Natur
hatte.
8.2. Immanuel Kant
Kant is the direct successor of Plato, through 2000 years of
philosophical so-and-so comes a bright flash of insight that is re-kindling and
illuminating this fire, of which Plato spake in the last paragraph.
Dann... tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein
durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann
durch sich selbst.
8.2.1. Die Architektonik der Reinen
Vernunft
Ich verstehe unter einer
Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit
dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d.i. aus einem
bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre
des Scientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt
Ich verstehe aber unter einem Systeme die
Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der
Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des
Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt
wird.
BIB:KANT-KRITIK
, A832/B860
Eine systematische Einheit ist apriorisch. Sie ist eine Idee,
also etwas, was der Vernunft entspringt. Diese Idee wirkt als Ordnungsfaktor und
determiniert sowohl die Grenzen dessen, was als Mannigfaltiges auftritt, als
auch seine innere Ordnung, also das Verhältnis der Teile des Mannigfaltigen
untereinander. Das "Leerstellendenken" verwendet hier den Begriff
"Strukturelles System" anstatt "systematische Einheit".
Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle
Teile und in der Idee desselben auch untereinander beziehen, macht, daß
ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und
keine zufällige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der
Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmten Grenzen habe,
stattfindet.
a.a.o., A833/B861
Dies ist eine etwas schwierige Formulierung, die den
vorausgehenden Gedanken ergänzt. Die Struktur ist der Leitfaktor, und
determiniert, ob und an welcher Stelle im Ganzen, irgendein Teil eingesetzt
werden kann, und welcher Art dieses Teil ist. Umgekehrt, wenn irgendwo ein Teil
fehlt, läßt es sich kraft der Kenntnis der Struktur eindeutig
rekonstruieren. (Man beachte die Ähnlichkeit mit einem Hologramm.) An
anderer Stelle führt er das weiter aus:
Übersehen wir unsere
Verstandeserkenntnisse in ihrem ganzen Umfange, so finden wir, daß
dasjenige, was Vernunft ganz eigentümlich darüber verfügt und
zustande zu bringen sucht, das Systematische der Erkenntnis sei, d.i. der
Zusammenhang derselben aus einem Prinzip. Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit
eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis,
welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen
enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a
priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der
Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges
Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System
wird... Dergleichen Vernunftbegriffe werden nicht aus der Natur geschöpft,
vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen...
a.a.o., A645/B673
Weiter sagt er sinngemäß: Das Ganze ist
gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio). Es
kann innerlich, aber nicht äußerlich wachsen. Dies wird
durch das Beispiel eines tierischen Körpers erläutert, der zwar im
Laufe seiner Entwicklung gewisse Form- und Größenveränderungen
erfährt, aber die Zahl der Beine, Ohren, Augen, etc. konstant
hält.
Auch diese Begrifflichkeit bedarf der Erläuterung.
Innerlich und äußerlich heißt hier nicht bezogen
auf Innen und Außen eines Körpers, sondern bezogen auf
Strukturmerkmale, die entweder immanent oder extern zur Struktur
sind. Ein Tierkörper folgt in seiner Form einem bestimmten Strukturschema,
das wir in der Wissenschaft z.b. als das Strukturschema der Wirbeltiere
festgestellt haben. Diese Tierklasse hat immer einen Kopf, vier
Extremitäten (Beine und Arme/Flügel, Flossen), und eine gemeinsame
Knochenstruktur, die Wirbelsäule, an der alle anderen Teile auf eine
wiederum strukturell recht festgelegte Weise befestigt sind. Wir arbeiten in der
Zoologie mit diesem sehr bewährten Strukturschema, das sich durch 200 Jahre
biologische Forschung gefestigt hat. Ein Wirbeltier kann sich im Laufe seines
Lebens (von Unfällen abgesehen), nur dadurch verändern, daß
seine Strukturbestandteile sich in der Größe und ein wenig in den
Proportionen gegeneinander verändern. Es kann aber kein fünftes Bein
wachsen. Es gibt keine Wirbeltier-Art mit fünf Beinen. Und umgekehrt, wenn
wir einen dreibeinigen Hund sehen, dann können wir ihm zwar kein viertes
Bein mehr wachsen lassen, aber wir wüßten genau, wie dieses vierte
Bein aussehen würde, und wo es am Korper aufgehängt ist. (Man beachte
hier auch die Bezüge zu der Theorie der Morphogenetischen Felder von
Sheldrake.)
Die Idee bedarf zur Ausführung
ein(es) Schema(s), d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks
bestimmte (abgeleitete) wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der
Teile. Das Schema, welches ... nur zufolge einer Idee entspringt ...
gründet architektonische Einheit. Nicht technisch, wegen ... des
zufälligen Gebrauchs der Erkenntnis in concreto zu allerlei beliebigen
äußeren Zwecken, sondern architektonisch, um der ... Ableitung von
einem einigen (einigenden, oder einzigen) obersten und inneren Zwecke,
der das Ganze allererst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir
Wissenschaft nennen, dessen Schema den Umriß (monogramma) und die
Einteilung des Ganzen in Glieder, der Idee gemäß, d.i. a priori
enthalten... muß.
Auch hier läßt sich sehen, daß die innere
Idee, der oberste Zweck, das Leitprinzip der Architektonik ist. Im weiteren
beschreibt Kant, wie die Entwicklung einer solchen Leitidee aussieht.
Niemand versucht es, eine Wissenschaft
zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein, in
der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die
er gleich am Anfang von seiner Wissenschaft gibt, nur sehr selten seiner
Idee;...
Meistens fängt man beim Erarbeiten irgendeines
Wissensbereichs mit einer vagen Idee an, die aber noch in einem Wust von
ungegliederten Daten verborgen ist. Und der, der als Wissenschaftler einer Idee
nachgeht, kann manchmal sehr lange oder auch auf Lebenszeit von unfertigen
Versionen der Kernidee beherrscht sein:
Um deswillen muß man Wissenschaften,
weil sie doch alle aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses
ausgedacht werden, nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon
gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der
Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet
findet, erklären und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der
Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren,
die sie sich selbst nicht haben deutlich machen und daher den eigentlichen
Inhalt, die Artikulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft
nicht bestimmen können.
a.a.o., A834/B862 10-20
Wir haben hier eine Beschreibung von Zuständen, wie sie
uns aus der Wissenschaft bestens bekannt sind. Kuhn beschreibt seine
berühmten Paradigmenwechsel in einer ähnlichen Weise. So muß
erst eine Forschergeneration in Pension gehen, damit eine jüngere
Generation eine neuere und klarere Version formulieren kann.
(BIB:KUHN62
)
Es ist schlimm, daß nur allererst
(erst dann), nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns
versteckt liegenden Idee... viele dahin sich beziehenden (darauf hinzielende)
Erkenntnisse, als Bauzeug (Rohmaterial) gesammelt (und)...
zusammengesetzt haben, es uns dann allererst (letztendlich) möglich
ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken
der Vernunft architektonisch zu entwerfen.
a.a.o., bis A835/B863
T.A. Edison meinte: "Genius is 10 percent inspiration and 90
percent perspiration." Wir müssen erst eine Menge Abraum bewegen, bevor wir
das reine Gold der puren architektonischen Idee gewinnen können.
Wir begnügen uns hier mit der
Vollendung unseres Geschäftes, nämlich, lediglich die Architektonik
aller Erkenntnis aus reiner Vernunft zu entwerfen, und fangen nur (nun)
von dem Punkte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft
teilt und zwei Stämme auswirft, deren einer (die) Vernunft ist. Ich
verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere (oberste, höchste)
Erkenntnisvermögen, und setze also das Rationale dem Empirischen
entgegen.
a.a.o., bis A836/B864
Alle Vernunfterkenntnis ist nun entweder
die aus Begriffen, oder aus der Konstruktion der Begriffe; die erstere
heißt philosophisch, die zweite mathematisch. Von dem inneren Unterschiede
beider habe ich schon im ersten Hauptstücke gehandelt... Man kann also
unter allen Vernunftwissenschaften (a priori) nur allein Mathematik, niemals
aber Philosophie... sondern was die Vernunft betrifft, höchstens nur
philosophieren lernen.
Das System aller philosophischen Erkenntnis
ist nun Philosophie... Auf diese Weise ist Philosophie eine bloße Idee von
einer möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist, welcher
man sich aber auf mancherlei Wegen zu nähern sucht...
Bis dahin ist aber der Begriff von
Philosophie nur ein Schulbegriff... von einem System der Erkenntnis... Es gibt
aber noch einen Weltbegriff (conceptus cosmicus), der dieser Benennung jederzeit
zum Grunde gelegen hat... In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von
der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen
Vernunft ... und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der
Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.
a.a.o., A837/B865 bis A839/B867
Kant hat damit für das Denken der Reinen Struktur einige
wesentliche Fundierungen gegeben. Struktur ist ein Phänomen der Erkenntnis.
Sie entwickelt sich nicht abhängig von Daten, sondern ist den Daten
entgegengesetzt. Sie regiert die Anordnung von Daten und Fakten nach ihrem
Muster. Kants Anleitung für das Denken der Reinen Struktur ist: Man
muß seine Daten und Fakten "nach der Idee, welche man aus der
natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft
selbst gegründet findet, erklären und bestimmen." Auch wenn das
allen anderen Lehrmeinungen und dem Expertenwissen widersprechen mag.
Die Vernunft bereitet also dem Verstande
sein Feld,
1. durch ein Prinzip der Gleichartigkeit
des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen,
2. durch einen Grundsatz der Varietät
des Gleichartigen unter niederen Arten;
und um die systematische Einheit zu
vollenden, fügt sie
3. noch ein Gesetz der Affinität aller
Begriffe hinzu, welchen einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art
zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet. Wir
können sie die Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der
Kontinuität der Formen nennen. Das letztere entspringt dadurch, daß
man die zwei ersteren vereinigt, nachdem man, sowohl im Aufsteigen zu
höheren Gattungen, als im Herabsteigen zu niederen Arten, den
systematischen Zusammenhang in der Idee vollendet hat; denn alsdann sind alle
Mannigfaltigkeiten untereinander verwandt, weil sie insgesamt durch alle Grade
der erweiterten Bestimmung von einer einzigen obersten Gattung
abstammen.
a.a.o., A657/B685 bis A658/B686
8.2.2. The architectonic of pure
reason
By architectonic I understand the art of systems. Because
systematic unity is what first raises common cognition from a mere aggregate to
a science, architetonic is the doctrine of what is scientific [des
Szientifischen] in our cognition generatim, and it necessarily belongs to the
doctrine of method.
Under reason's government our cognitions
are not permitted to be rhapsodic but must form a system, in which alone they
can support and further reason's essential ends. By system I understand the
unity of manifold cognitions under an idea. This idea is reason's concept of the
form of a whole, so far as the extension of the manifold as well as the place of
the parts in relation to one another is a priori determined by it. Reason's
concept therefore of what makes a science contains the end and the form of the
whole that is congruent with it. The unity of the end, to which all parts refer
and, in its idea, also refer to each other enables us to ascertain the absence
of any part by knowing the others and excludes any accidental addition or
indetermiate measure of perfection. The whole is organized (articulatio) and not
piled up (coacervatio); it can grow internally (per intus susceptionem) like an
animal body but not externally (per appositionem).
BIB:KANT-KRITIK
, A832/B860
Kant has given us quite a treasurehouse of ideas in his work.
Besides the "What" we can gain immense wealth from the "How" of Kant. The
architectonic principle is one of these intellectual jewels of the "How". It is
the fine art of structuring a work and its subsections down to the finest
details. This should be the high technical art of every scientific treatise.
With modern outlining technology readily and cheaply available, no scientific
work should be admitted to standards that doesn't display these
features.
8.3. Parmenides: Vom Wesen des Seienden
B1
Die Pferde, die mich fahren so weit nur der
Wille dringt,
zogen voran, da sie mich auf der
Göttin vielkündenden Weg
gebracht hatten, der den wissenden Mann
durch alle Städte führt.
Auf diesem Weg fuhr ich; denn dort fuhren
mich die kundigen Pferde
den Wagen fortreißend; und
Mädchen lenkten die Fahrt.
Die Achse in den Naben gab einen hellen
Pfeifton,
glühend; so ward sie getrieben von
zwei wirbelnden
Rädern zu beiden Seiten, wenn
schleuniger sich beeilten
die Sonnentöchter, mich voranzufahren,
hinter sich lassend das Haus der Nacht,
dem Lichte zu, stoßend vom Kopf mit
der Hand den Schleier.
Dort ist das Tor der Wege von Nacht und
Tag,
und ein Türsturz umschließt es
und steinerne Schwelle.
Das Tor selbst, aus Ätherlicht, ist
ausgefüllt von großen Türflügeln.
Zu diesem Tor aber hat Dike, die
vergeltende,
die ein- und auslassenden
Schlüssel.
Ihr nun sprachen die Mädchen zu mit
sanften Worten
und beredeten sie klug, daß sie ihnen
den mit Bolzen versehenen Riegel
geschwind vom Tor zurückschöbe.
Das aber flog auf und
machte weit den Schlund der
Türflügel, indem es die erz-beschlagenen
Pfosten, mit Zapfen und Dornen
eingefügt, nacheinander
in den Pfannen drehte. Dort also mitten
hindurch
gerade dem Wege nach lenkten die
Mädchen Wagen und Pferde.
Und freundlich empfing mich die
Göttin, ergriff meine
Rechte, redete mich an und sagte das
Folgende:
Jüngling, Gefährte unsterblicher
Lenkerinnen,
der du mit den Pferden, die dich fahren,
zu unserem Haus gelangt bist,
Heil dir! Denn kein schlechtes Geschick
sandte dich
auf diesen Weg - er liegt wahrlich abseits
vom Wandel der Menschen -
sondern die Mächte des Angemessenen
und Notwendigen.
Du aber sollst alles erfahren,
sowohl der überzeugenden Evidenz
unerschütterliches Herz
wie auch die Eindrücke der Menschen,
die ohne evidenten Beweis sind;
aber gleichwohl wirst du auch das
hören, wie das Geltende
notwendigerweise gültig sein
mußte durch alle Zeit hin insgesamt...
Es ist für mich das Gleiche,
von wo ich anfange; denn dahin kehre ich
wieder.
B2
Ich werde also vortragen - du aber nimm
dich der Rede an, die du hörst -
welche Wege des Untersuchens allein zu
erkennen sind.
Der eine, (der da lautet) "es ist, und Sein
ist notwendig",
ist der Weg der Überzeugung; denn sie
folgt der Evidenz.
Der andere, (der da lautet) "es ist nicht,
und Nicht-Sein ist notwendig",
der ist, wie ich dir zeige, ein völlig
unerfahrbarer Weg;
denn das Nicht-Seinende kannst du weder
erkennen -
denn das läßt sich nicht
verwirklichen -
noch aufzeigen. ...
B3
Denn dasselbe ist Erkennen und
Sein.
B6
Richtig ist, das zu sagen und zu denken,
daß Seiendes ist;
denn das kann sein;
Nichts ist nicht: Das heiße ich dich
bedenken.
Denn zuerst halte dich von dem Weg des
Suchens fern ...
B7+8
Denn niemals kann das erzwungen werden,
daß Nichtseiendes ist.
Sondern von diesem Wege des Suchens halte
du den Gedanken fern,
und nicht soll dich die vielerfahrene
Gewohnheit auf diesen Weg drängen,
anzuwenden das unachtsame Auge, das
dröhnende Gehör
und das Sprechen, sondern argumentierend
entscheide
die streitbare Beweisführung,
die von mir vorgetragen ist. Allein also
noch übrig bleibt
die Beschreibung des Weges
"es ist". Und auf ihm gibt es sehr viele
Zeichen,
sofern Seiendes ungeworfen und ohne
Vernichtung ist,
ganz, einzig, ohne Schwanken und in sich
vollendet.
Und nicht war es einmal, auch wird es nicht
sein,
da es zugleich ganz ist,
eines,
zusammenhängend.
Denn welches Herkommen könntest du
für es suchen?
Wie und woher gewachsen? Weder "aus
Nichtseiendem" werde ich dich
sagen und (erkennend) denken lassen; denn
weder sagbar noch erkennbar
ist Nichtseiendes. Und welche
Notwendigkeit hätte es auch veranlaßt
später oder früher aus dem Nichts
beginnend zu entstehen?
So ist es notwendig, entweder ganz und gar
zu sein oder nicht.
Noch auch wird die Kraft des Beweises
jemals zulassen,
daß aus Nichtseiendem
etwas neben ihm entsteht. Insofern hat
weder zum Werden
noch zum Vergehen Dike es in seinen Fesseln
lockernd losgelassen,
sondern sie hält es fest. Die
Entscheidung hierüber aber
liegt in der Alternative:
Es ist oder es ist
nicht.
Und entschieden ist nun notwendigerweise,
die eine Seite der Alternative unerkennbar
und unsagbar
zu lassen, denn sie ist nicht evident;
die andere Seite aber als seiend und
wirklich hinzunehmen.
Wie aber könnte dann Seiendes... ?
Wie könnte es werden?
Wenn es nämlich wurde, ist es nicht;
auch nicht wenn es einmal sein wird.
So ist Werden ausgelöscht und
unbekannt Verderben.
Auch ist es nicht unterteilt, da es in
seiner Gesamtheit gleichmäßig ist:
und keineswegs ist es irgendwo mehr - was
seinen Zusammenhang hindern könnte -
noch etwa weniger, sondern ganz ist es voll
von Seiendem.
Demnach ist es ganz zusammenhängend;
denn Seiendes stößt an Seiendes.
Und unbeweglich in den Grenzen gewaltiger
Fesseln
ist es ohne Anfang, ohne Ende, da Werden
und Verderben
in weiteste Ferne verschlagen sind;
verstoßen hat sie der evidente Beweis.
Als dasselbe und in demselben verharrend
ruht es für sich
und verharrt so fest auf der Stelle. Denn
ein mächtiger Zwang
hält es in den Fesseln der Grenze, die
es rings umschließt,
weil das Seiende nicht unvollendet sein
darf:
Denn es ist ohne Mangel; andernfalls
wäre es nicht ganz...
Dasselbe aber ist Erkennen und das,
woraufhin Erkenntnis ist.
Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es
ausgesprochen ist,
wirst du das Erkennen finden. Denn nichts
anderes ist oder wird sein
außer dem Seienden, weil Moira es
gebunden hat.
Auszüge und Stellen aus:
BIB:PARMENIDES74
und
BIB:PARMENIDES69
8.4. Die Logik der Lehre von der Leere: Die Shunyata des Nagarjuna
8.4.1. Einleitung
Die folgende Untersuchung ist Teil eines größeren
Projekts, das ich "
Das Leerstellendenken" oder
Kenomén
nenne (Siehe auch:
->:
KENOMEN
). Das
Kenomén ist eine
Denk- und Erkenntnismethode, die bestimmte Begrenzungen des westlichen
Denksystems überwinden helfen soll. Sie gründet sich auf das
sokratische "Ich weiß, daß ich nicht weiß", auf Arbeiten von
Cusanus
in "Docta Ignorantia
"
und wesentlich auf die Shunyata
-Lehre des
Nagarjuna
. Dieser Aspekt soll im Folgenden weiter
behandelt werden.
8.4.2. Der Begriff des
Kenomén
Kenomén wird mit der Betonung auf der letzten
Silbe ausgesprochen. Daher der Akzent. Das griechische wort keno
bedeutet dasselbe wie shunya in Sanskrit: Die Leere. Das Wort
men hat eine sehr reichhaltige Bedeutung:
Menin aeide Thea -- Singe mir vom Zorn, O
Göttin!
Menis -- dieses Wort ist das
Anfangswort unserer abendländischen Kultur, die obige Stelle stammt aus
dem Anfang der Ilias
, des ersten Gesangs der ersten
großen abendländischen Äußerung
(BIB:GEBSER73
, p.127). Menis
ist das Grundelement, der Archetyp des westlichen,
abendländischen Menschen.
Der Leser wird nun bei der Bezeichnung
"mental
" sogleich den Begriff
"Mentalität
" assoziieren, und zwar der
deutschsprachige Leser in einer ausschließlicheren Weise als zum Beispiel
der englische, französische, italienische oder spanische Leser, für
den das Wort "mental" ja noch einen lebendigen Inhalt besitzt. Durch eine so
einseitige Assoziation wird der Sinngehalt, den das Wort "mental" birgt, auf
eine unzulängliche Weise eingeschränkt, weil das Wort
"Mentalität" mehr als nur die moralische Komponente einer Gesinnung und
Einstellung zum Ausdruck bringt; dabei haben aber ihrerseits die beiden Begriffe
"Gesinnung" und "Einstellung" bereits durchaus perspektivischen
Charakter.
Wir wählen diese Bezeichnung
"mental" aus zweierlei Gründen zur Kennzeichnung unserer heute noch
vorherrschenden Bewußtseinsstruktur. Erstens enthält das Wort in
seiner ursprünglichen Wurzel, die im Sanskrit
"ma" lautet, aus welcher sekundäre Wurzeln
wie "man-" , "mat-", "me-" und "men-" hervorgingen,
nicht nur eine außerordentliche Fülle von Bezügen, sondern vor
allem drücken die mit dieser Wurzel gebildeten Wörter sämtlich
entscheidende Charakteristika der mentalen Struktur aus. Zweitens ist dieses
Wort das Anfangswort unserer abendländischen Kultur, denn es ist das erste
Wort der ersten Zeile des ersten Gesanges der ersten großen
abendländischen Äußerung: dieses Wort, "mental" ist in dem menin
(dem Akkusativ von: Menis) enthalten, mit dem die "Ilias"
beginnt.
Das griechische Wort menis, das
"Zorn" und "Mut" bedeutet, ist stammverwandt mit dem Wort menos,
das "Vorsatz, Zorn, Mut, Kraft" bedeutet und mit dem lateinischen
"mens" urverwandt ist, das ungemein komplexe Bedeutung hat: "Absicht,
Zorn, Mut, Denken, Gedanke, Verstand, Besinnung, Sinnesart, Denkart,
Vorstellung". Mit diesen Inhalten ist bereits das Grundlegende gegeben: es
handelt sich um das ansatzmäßige In-Erscheinung-Treten des
gerichteten Denkens. War das mythische Denken, soweit man es als ein
"Denken" bezeichnen darf, ein imaginierendes Bilder-Entwerfen, das sich in
der Eingeschlossenheit des die Polarität umfassenden Kreises abspielte,
so handelt es sich bei dem gerichteten Denken um ein grundsätzlich
andersgeartetes: es ist nicht mehr polarbezogen, in die Polarität, diese
spiegelnd, eingeschlossen und gewinnt aus ihr seine Kraft, sondern es ist
objektbezogen und damit auf die Dualität, diese herstellend, gerichtet, und
erhält seine Kraft aus dem einzelnen Ich.
Dieser Vorgang ist ein
außerordentliches Geschehen, das buchstäblich die Welt
erschütterte. Mit diesem Ereignis wird der bewahrende Kreis der Seele, die
Eingeordnetheit des Menschen in die seelische, natur- und kosmisch-zeithafte
polare Welt des Umschlossenseins gesprengt: der Ring zerreißt, der
Mensch tritt aus der Fläche hinaus in den Raum; ihn wird er mit seinem
Denken zu bewältigen versuchen. Etwas bisher Unerhörtes ist geschehen,
etwas, das die Welt grundlegend verändert. Der Mythos von der Geburt der
Athene malt es in Bildern und Bezügen, die eine deutliche Sprache sprechen:
Zeus vermählt sich mit der Metis, die als Personifikation der Vernunft und
der Intelligenz aufgefaßt wird, und als eine der Töchter des
weltumschließenden Okeanos
(-Stromes) die Gabe der
Verwandlung besitzt (107). Zeus jedoch verschlingt Metis, weil er die Geburt
eines Sohnes befürchtet, der mächtiger werden könnte als er, so
daß Metis, schon mit der Tochter schwanger, in seinen Leib versetzt wird.
Diese Tochter Athene
wird aus dem Haupte des Zeus
geboren, wobei ihm Hephästos
oder Prometheus
oder Hermes
mit einem Beile das Haupt spalten. Pindar
beschreibt diese durch den Beilschlag ausgelöste
Geburt, die unter furchtbarem Aufruhr der ganzen Natur und unter dem Staunen
aller Götter erfolgte. Das Meer (die große, umfassende Seele) wallt
hoch empor; der Olymp
und die Erde (die bislang polar
einander zugeordnet waren) erbeben (und das sorgsam beobachtete Gleichgewicht
ist gestört) ; ja selbst Helios
unterbricht seinen
Lauf (der Kreis ist tatsächlich unterbrochen worden, und aus der
Lücke, der Wunde, tritt eine neue Weltmöglichkeit
hinaus).
Dem entscheidenden Bewußtseinssprung
in der griechischen Welt steht um 1225 v. Chr. ein Beispiel gegenüber, in
einer Kultur, die ebenfalls für die unserige konstituierend geworden ist,
und in dem das zürnende Element eine bedeutende Rolle spielt: der
zürnende Moses
, der mit der Schuld des Tötens
behaftet ist, ist der Erwecker des Volkes Israel
, dem er
folgerichtig den strafenden, einzigen Gott gegenüberstellt. Das ist die
Geburt des Monotheismus
: die Gegengeburt zu dem im
Menschen erwachten Ich. Und damit ist es die Geburt des
Dualismus
: hier Mensch, dort Gott, die sich dualistisch
gegenüberstehen und sich nicht mehr polar entsprechen oder
ergänzen; denn der einzelne Mensch ist nicht der Gegenpol zu Gott;
wäre er es, bedürfte es nicht des Mittlers. Hier entsteht bereits
die Trinität
, welche die dreidimensionale mentale
Struktur mitcharakterisiert. Wir deckten den Bezug auf, der zwischen dem
Denken und dem Zorn, zwischen dem griechischen
"Menos
", dem lateinischen
"mens
" und der griechischen "Menis"
besteht. Der Zorn, nicht als blinder, sondern als denkender Zorn, gibt dem
Denken und der Handlung Richtung; und er ist rücksichtslos, das will
besagen: er sieht nicht nach rückwärts, er wendet den Menschen fort
von der bisherigen mythischen Welt der Eingeschlossenheit und ist
vorwärtsgerichtet, wie die zielende Lanze, wie der in den Kampf
stürzende Achill
. Er einzelt den Menschen von der
bis anhin gültigen Welt - der Ton liegt auf Mensch - und ermöglicht
sein Ich. Diese Betonung des Wortes Mensch ist durchaus nicht
zufällig. Denn ob "mens" , "Menis" oder "Mensch" - sie sind aus der
gleichen Wurzel.
Gehen wir diesen Zusammenhängen nach
(109), so ergibt sich die folgende Grundbezüglichkeit, in der die
mentale Struktur gründet: aus der Wurzel "ma", die "Denken" und "Messen"
bedeutet, gehen die Sekundär-Wurzeln "man", "mat", "me" und "men" hervor.
Der Wurzel "man-" entspringt das altindische
(Sanskrit
-)Wort "manas
", das
"innerer Sinn, Geist, Seele, Verstand, Mut, Zorn" bedeutet; und ihr entspringt
das Wort "manu", das im Sanskrit den "Menschen, Denker und Messenden"
bezeichnet; auf dieses Wort gehen ferner zurück (um nur einige zu
nennen): das lateinische "humanus", das englische "man", das deutsche
"Mann
", aus dessen Adjektivform "männisch" das Wort
"Mensch
" entstand.
Sehen wir davon ab, daß selbst das
lateinische "humus", das "Erde" bedeutet, hierher gehört (110), so
muß doch betont werden, daß außer dem Namen des indischen
Gesetzgebers "Manu
" auch der des kretischen Königs
"Minos
" und der des ersten "geschichtlichen" Königs
Ägyptens, "Menes
", auf diese Wurzel
"man
" zurückgehen dürften. Jedenfalls kann
es als erwiesen gelten, daß "Minos" geradezu der "Wäger"
beziehungsweise der "Messer" (der Wägende oder Messende) bedeutete (111),
womit auch inhaltlich seine Verwandtschaft mit dem indischen "Manu" gegeben ist.
Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man in dem fast gleichzeitigen
Auftauchen dieser drei legendären Gestalten, die ein menschheitliches
Mutationsprinzip verkörpern, einen Hinweis auf eine erste
Sichtbarwerdung der mentalen Bewußtseinsstruktur erkennen wollte: denn wo
der Gesetzgeber in Erscheinung tritt und nötig wird, da ist das alte
Gleichgewicht (das ein polar-mythisches war) gestört, und es beginnt jenes
Setzen und Fixieren, das es wiederherstellen soll. Nur die mentale Welt bedarf
des Gesetzes, die in der Polarität geborgene mythische Welt bedarf seiner
nicht und kennt es nicht. Im frühgriechischen Kulturkreis dürfte
dieses mentale Prinzip nicht nur in den Namen "Menerfa, Metis, Hermes und
Prometheus" aufleuchten; vielleicht enthält auch der Name des Königs
von Mykene, Agamemnon, sicher wohl aber der des Königs von Sparta,
Menelaos, dieses mentale Prinzip, da alle diese Namen die Wurzel "ma: me"
beziehungsweise deren Sekundärwurzel enthalten. Auch mag es nicht
zufällig sein, daß um des Menelaos' Gemahlin Helena, welche die
Schwester der Klytaimnestra und die Schwägerin des Agamemnon war, jener
Trojanische Krieg entbrannte, der den Sieg des Vaterprinzips über das
Mutterprinzip darstellen dürfte (s. S. 223 42 u. 43).
Gehen wir jedoch den anderen
Sekundärwurzeln nach. Als zweite haben wir die Wurzel "mat" genannt. Aus
ihr entspringen die Sanskritwörter "matar" und "matram": "matar" wird zum
griechischen mates und metes (mater und meter gleich "Große Mutter"); aus
ihm bildet sich unter anderen unser Wort "Materie"; "matram", das ein
"Musikinstrument" bedeutet, kehrt in diesem Sinne im griechischen metson
(metron) wieder; aus ihm bildet sich unser Wort "Meter".
Schon hier sei darauf hingewiesen, was uns
später (s. S. 301 u. 333) ausführlicher beschäftigen wird:
daß die ursprüngliche Wurzel "ma: me" latent und komplementär
auch das weibliche Prinzip enthält. Denn das griechische Wort für
"Mond", men (men), geht auf diese Wurzel zurück. Und die
Sekundärwurzel "mat" erlebt ja in der heutigen patriarchalen Welt ihre
Glorifizierung, die sich in dem Beherrschtsein des rationalen Menschen durch die
"Materie" und den "Materialismus" zu erkennen gibt (112). War der Mond für
den frühen Menschen der zeitliche Maßstab, so ist die Materie
für den heutigen Menschen der räumliche
Maßstab.
Schließlich gehen aus den Wurzeln
"me-" beziehungsweise "men-" nicht nur die zahlreichen griechischen Verben (113)
hervor, die alle in mehr oder minder starker Form einerseits: "zürnen,
grollen", andererseits "verlangen, begehren, trachten, streben, im Sinne haben
und ersinnen" bedeuten, wobei die Tatsache betont werden muß, daß
sie ein gegen jemanden gerichtetes Trachten, Streben und Ersinnen zum Ausdruck
bringen. Und auf diese Wurzel geht durch alle germanischen Sprachen hindurch
über das griechische medomai (medomai), das "an etwas, auf etwas denken"
(also ein durchaus gerichtetes Denken) bedeutet, unser "ermessen" zurück,
das sowohl "messen" wie "erwägen" und "bedenken" ausdrückt. Sie
bildetete das englische Wort "mind", aber auch das lateinische
"mentiri
", das "lügen" bedeutet (!). Und es sei
noch erwähnt, daß sie das griechische Fragewort ti in der Wendung ti
men (ti men) - "Warum ?" als verstärkendes Element begleitet und so die
Frage mitformt, die am Anfang aller Wissenschaften steht, zu deren
Schutzgöttinnen sowohl Athene
wie Minerva erhoben
wurden (114). Die Wurzel, die dem Worte "mental" zugrunde liegt, enthält
keimhaft eine ganze Welt, die in der mentalen Strukturierung Gestalt, Form und
Wirkcharakter annimmt.
8.4.2.1. Das Ende der europäischen Bewußseinsgeschichte
Die große geistige Tradition des Westens besteht im
"Wissen des Wißbaren", auch "Wissenschaft" genannt. Die Grundlagen
hierfür wurden vor 2500 Jahren in einem uns erhaltenen Zeugnis des
Parmenides formuliert. Das eindrucksvolle Lehrgedicht des Parmenides: "Vom
Wesen des Seienden" soll im Anmerkungsteil auszugsweise wiedergegeben werden:
(ANM:PARMENIDES
) Wir stehen heute in einer Situation,
in der die Probleme einer vom maßlosen technologisch/kapitalistischen
Wachstum bedrohten Welt-Ökologie einerseits, und der völligen
Entseelung der westlichen Gesellschaften andererseits zeigen, daß der
Westen die "Grenzen des Wachstums" seiner innersten und fundamentalen
Grundlagen, der Seele seiner Kultur, erreicht hat. Mit dem
Kenomén soll eine Refokussierung auf die Grundlagen des
Wißbaren und vor allem des Nicht-Wißbaren gemacht werden.
(ANM:WIßBAR
[117]
)
Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, und damit letztlich auch die Korrektheit
jedes Wissens kann nur durch ein Sichtbarmachen seiner Leerstellen versichert
werden, ansonsten verfällt man zu leicht der beabsichtigten oder
unbeabsichtigten Selbsttäuschung, das was wir wissen, für das
Wißbare zu halten. Man kann sagen, daß das Projekt des
Kenomén darauf hin zielt, neue Denkformen zu finden, und damit
einen neuen Ansatzpunkt der Kultur, die aus dem Ende der europäischen
Tradition entstehen könnte. Ein geeignetes Motto bietet uns ein Zitat
von Gotthard Günther:
Die Bewußtseinsgeschichte des
Abendlandes und der weltgeschichtlichen Epoche, der Europa angehört, ist zu
Ende. Das zweiwertige Denken hat alle seine inneren Möglichkeiten
erschöpft, und dort wo sich bereits neue spirituelle Grundstellungen zu
entwickeln beginnen, werden sie gewaltsam in dem alten längst zu eng
gewordenen klassischen Schema interpretiert. Man kann eben eine alte Logik
nicht ablegen wie ein fadenscheinig gewordenes Kleid. Der Übergang von der
klassisch-Aristotelischen Gestalt des Denkens zu einer neuen und umfassenderen
theoretischen Bewußtseinslage erfordert eine seelische Metamorphose des
gesamten Menschen. Einer nicht-Aristotelischen Logik muß ein
trans-Aristotelischer Menschentypus entsprechen und dem letzteren wieder eine
neue Dimension menschlicher Geschichte.
8.4.2.2. Die Entstehung des trans-aristotelischen Menschentypus
Hiermit ist das Wesen des Unterfangens gegeben. Es handelt
sich nicht allein um eine logische oder theoretische Unternehmung, sondern
etwas, das den Menschen, die Menschheit und das Universum als Ganzes begreift.
Dies ist exakt in dem Sinne, wie Buddha und Nagarjuna auch ihre Lehre von der
Leere verstanden wissen wollten. Es geht um die Entstehung des
trans-aristotelischen Menschentypus, wie Günther es nennt.
8.4.2.3. Die Problematik der Untersuchung des Madhyamika
In der vorliegenden Arbeit geht es darum, die Shunyata-Logik
des Buddhismus anhand der Methode Nagarjunas zu untersuchen, mit westlichen
Denkansätzen zu vergleichen, und nach Möglichkeit mit der heutigen
Situation zu verbinden. Eine tiefgehende Untersuchung der Kernkonzepte des
Madhyamika Buddhismus ist kein leichtes Unterfangen: Erstens handelt es sich
hier um ein System, das als geistiger Antipode unseres westlichen Denksystems
betrachtet werden kann. D.h. wenn wir versuchen, das Thema mit unserer
gewohnten westlichen Methodik und Denkweise anzugehen, laufen wir Gefahr, uns
sofort in den Denkschemata unserer Methode verfangen, und das Wesentliche dieses
Ansatzes verlieren. Zweitens ist das, was uns heute an Zeugnissen von
Nagarjunas System überkommen ist, in eine Sprache gefaßt, deren
richtige Interpretation schon das Funktionieren dieses Denksystems voraussetzt
(BIB:BUDDH-STRENG, p.43). Um Nagarjuna zu verstehen, muß man von der
Position des Nirvana aus denken können.
8.4.2.4. Die Besonderheit der Sprachstrukturen
Bei der mohammedanischen Eroberung Indiens wurde der indische
Buddhismus ausgelöscht. Nagarjunas Madhyamika war eine seiner
charakteristischen Formen. Nagarjuna verband die überragende, von keiner
Menschheitskultur mehr erreichte, geistige Kraft des vedisch/brahmanischen
Denkens mit den Kernprinzipien des Buddhismus. Andere heute existierende Formen
des Buddhismus haben wesentliche strukturelle und inhaltliche Unterschiede, die
vor allem in der anderen Denk- und Sprachstruktur ihrer Exponenten
begründet ist. Die Madhyamika-Denkweise Nagarjunas ist auf die
indogermanische Sprachstruktur des Sanskrit gegründet, und die anderen
Formen des Mahayana-Buddhismus, also sowohl der tibetische, als auch der
chinesisch/japanische Chan/Zen Buddhismus haben als sprachliche Grundlage die
völlig andere Sprachstruktur der mongolisch/altaischen Sprachfamilien.
Zwar liegt auch der ceylonesische (Pali-) Hinayana/Theravada-Buddhismus in der
indogermanischen Sprachfamilie, aber in dem, was Nagarjuna im Madhyamika
ausdrücken will, unterscheidet er sich eben grundlegend vom Hinayana.
Nagarjuna richtet sich explizit gegen den Scholastizismus der Abidharma-Lehre,
ein Problem, das allen indogermanischen Denksystemen gemein ist. Dieses
psycho-linguistische Thema ist in dem Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht
ausführlich zu behandeln, vor allem nicht die sich anschließende
Frage, ob und inwieweit andere Sprachfamilien dieser Gefahr nicht in dem
Maße unterliegen. Der Punkt muß daher als Leerstelle im weiteren
Denken zumindest mitgeführt werden.
8.4.2.5. Die Problematik der Übertragung auf moderne Denkweisen
Und letztlich, auch wenn wir die Inhalte rekreieren
könnten, so würde uns das, was Nagarjuna im 7. Jh. n.B.
(ANM:ZEIT
[118])
für seine Mitmönchsbrüder und die brahmanische Elite seiner Zeit
gesagt hat, in unserer, durch 2500 Jahre von westlicher Philosophie
geprägten Denk- und Seinsweise vielleicht nicht so viel nützen. Wir
müssen auch versuchen, Nagarjuna so verstehen, als wenn er in moderner
Sprache einen modernen Gedanken ausspricht. Der Buddha hat selber
vorausgesehen, daß der Inhalt seiner Lehre (bzw. seiner Leere) in der
letzten Epoche, den letzten 500 Jahren, verlorengehen würde. Dies aber ist
unsere heutige Zeit, die fünfte Epoche nach Erscheinen des Buddha. Er
wußte, daß selbst diejenigen, die in treuem und frommen Glauben an
der Überlieferung haften, fehlgehen würden, weil der Buddhismus, wie
alle anderen Religionen, ein -ismus werden würde, der den bekannten
Gesetzen alles irdischen unterworfen ist, so etwa in der Verkrustung in Form
einer Kirche, mit Mönchen, die sich auf eine symbiotischen Koexistenz mit
einer Gesellschaft eingerichtet haben, von deren Almosen sie leben, und die den
Laien dafür gewisse Rituale anbieten, mit denen sie sich Absolution, oder
Verdienste, in irgendeiner Form erwerben können. Wir wollen hierzu eine
Stelle aus dem Diamant Sutra zitieren:
Subhuti fragte: Wird es da irgendwelche
Wesen geben, in der zukünftigen Periode, in der Endzeit, in der letzten
Epoche, in den letzten 500 Jahren, zu der Zeit des Zusammenbruchs der guten
Lehre, die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen
werden?
Der Erleuchtete antwortete: Spreche nicht
so, Subhuti! Ja, sogar dann wird es Wesen geben, die, wenn diese Worte des
Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen werden. Denn sogar zu dieser Zeit
wird es Bodhisattvas geben, die gesegnet sind mit der guten Lebensweise, die
gesegnet sind mit den hohen Qualitäten, die gesegnet sind mit der Weisheit,
und die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen
werden.
BIB:BUDDH-CONZE58
, p. 50
8.4.3. Die Wendezeit der
Weltkulturen
Nach der Lehre des Buddha und Nagarjunas sind alle Wesen des
Universums untrennbar miteinander verbunden, nichts geschieht ohne Auswirkung an
allen anderen Dingen und Orten. Daher betrachten wir auch die Entwicklung der
Menschheit als Eines. Was im Westen passiert, ist nicht unbeeinflußt vom
Osten und umgekehrt. Wir fokussieren zuerst unseren Blick auf die Welt der
Entstehung des Buddhismus.
Die Zeit zwischen -700 und -300 ist ein geschichtlicher
Augenblick höchster Intensität, eine echte Wendezeit: Anscheinend
sind in diesem geschichtlichen Fenster von ca. 300 Jahren die wesentlichen
geistigen Weichenstellungen gemacht wurden, die die Geschicke des Planeten bis
heute in Atem halten.
(ANM:DATIERUNG
[119],
ANM:EPOCHE
[120])
Nach einigen Historikern und Philosophen wurde sie auch
Achsenzeit
genannt. In dieser Zeit liegt das persische Großreich der
Achämeniden (-559 bis -330), welches das erste Mal in der Weltgeschichte
die Kulturen des fernen Asiens, des Zweistromlandes, Ägyptens, und Europas
in Verbindung brachte. In dieser Zeit differenzieren sich die uns
interessierenden Hauptlinien des philosophischen Denkens der Menschheit:
1) Das Erwachen des griechischen und abendländischen
Denkens, das Auftreten der ersten griechischen Naturphilosophen:
Pythagoras
,
Thales
,
Anaximander
,
Parmenides
und
Heraklit
. Kurz danach die berühmten
Philosophen der Athener Schule:
Sokrates,
Plato, und
Aristoteles.
2) In Indien
Siddharta Gautama Shakyamuni
Buddha
, und gleichzeitig mit ihm und praktisch am
selben Ort ein anderer, weniger bekannter, in Indien aber mindestens genauso
verehrter Heiliger:
Mahavira
, der 24.
Tirthankara der Jaina
-Religion.
3) In China lebten zu dieser Zeit
Lao Tsu und
Kung
Fu Tse oder
Konfuzius
.
4) Und in Persien lehrte
Zoroaster
oder
Zarathustra
seine Lehre vom
Absoluten Dualismus
zwischen dem Gott des Lichts
Ahura Mazda
und dem Herrn der Finsternis
Ahriman
. Dieser Dualismus ist die Grundlage der
Logik des Aristoteles
, des "
Tertium non
Datur
" und damit der gesamten heutigen Wissenschaft.
(s.a. BIB:GEBSER73
, 126)
Der signifikante Unterschied zwischen der Philosophie des
Westens und den östlichen Systemen des Buddhismus und des Taoismus ist
dieser: Der Westen entwickelte sich von Parmenides über Plato und
Aristoteles in ein System der Substanz (der ousia, oder des Seienden) und der
Osten entwickelte die Systeme der Leere: Die Shunyata und das Tao. Es war fast
wie eine globale Verabredung, daß sich just in diesem Zeitabschnitt an so
verschiedenen Orten des Globus Denker fanden, die eine derartig diametrale
Fundamentierung des Denkens der Menschheit aufstellten.
8.4.3.1. Das gesellschaftliche Umfeld zur Zeit des Buddha
Der "Mittlere Weg", den der Buddha lehrte, muß vor dem
soziopolitischen Hintergrund der indischen Gesellschaft seiner Zeit gesehen
werden. Dazu eine kurze Rekapitulation der Geschichte.
8.4.3.2. Die erste Eroberung Indiens durch die Arier
Zwischen -3000 und -1500 drangen die arischen Eroberer in
Indien ein und zerstörten die ur-indische drawidische Zivilisation, die uns
hauptsächlich durch die Stadtstaaten Mohenjo Daro und Harappa bekannt ist.
Diese Zivilisationen waren auf einer höheren Entwicklungsstufe gewesen, als
die der arischen Eroberer. Sie unterhielten rege Handelsbeziehungen zu
Sumerien, und besaßen eine Schrift. Die Städte wurden vernichtet,
die Bevölkerung unterjocht, und alle kulturellen Zeugnisse der alten
Zivilisation vernichtet.
(ANM:SCHRIFT
[121])
Das Kern-Epos der indo-arischen Kultur, der Rig Veda, entstand um diese Zeit.
Sein Inhalt ist sehr vielschichtig, und auf einer Ebene werden die Ereignisse
der Eroberung beschrieben, so die "Heldentaten" der Arier und ihres kulturellen
Leitheros Indra.
8.4.3.3. Die Entstehung des indischen Kastensystems
In der Folge installierten die arischen Eroberer ihr bekanntes
Kastensystem, das wohl perfekteste
Herrenmenschen/Untermenschen-Herrschaftssystem der Weltgeschichte. Es
überdauerte alle Stürme der Zeit und besteht bis zum heutigen Tage.
Die höchsten Kasten der Brahmanen und Kshatrias rekrutierten sich aus den
Eroberern, während die drawidischen Ureinwohner durch dieses System
über Jahrtausende in einer Diener- und Sklavenrolle fixiert worden waren.
Im Vergleich zu den Sklavensystemen der europäisch/orientalischen Antike
fällt die ideologische Durchstilisierung auf, die den Unterdrückten
über die Karma-Doktrin ihre Lage auch noch logisch erklärbar machte.
Es war also wesentlich weniger externer Druck und Gewaltanwendung nötig,
als in den europäisch/orientalischen Sklavensystemen, um die Untermenschen
bei der Stange zu halten. Die römische Antike war ja öfter von
Sklavenaufständen erschüttert worden, und man mußte die
Gesellschaft immer auf einem hohen Grad der Militarisierung halten, um die
Sklaven von der Rebellion abzuschrecken. Dies war in dem indischen System nicht
nötig, und so war es wesentlich stabiler, und überlebte folglich
einige tausend Jahre länger als die europäisch/orientalischen
Sklavenhaltersysteme.
8.4.3.4. Die brahmanische Opferreligion der Arier
Die brahmanische Religion der Arier, die auf den Veden
beruhte, hatte sich bis zur Zeit Buddhas in ein barockes System von
komplizierten Opfer-Ritualen ausgeformt, das nur von den Brahmanen in
jahrelangem Training erlernt und ausgeführt werden konnte. Das
Entwicklungsmuster solcher ritualistischer Systeme ist immer dasselbe und
läßt sich in allen Priester-Kulturen ähnlich beobachten: Die
Priester leben von den Opfern der Gläubigen, für die sie die Rituale
ausführen. Um einer sich vermehrenden und sich spezialisierenden
Priesterschaft ein entsprechend größeres Umsatzvolumen zu
ermöglichen, müssen notwendigerweise die Rituale immer komplizierter
und undurchschaubarer werden. Analoges läßt sich auch bei den
modernen Gesellschaften heute beobachten, in denen die Spezialisierung der
Ärzte, Rechtsanwälte, und Wissenschaftler und die Vermehrung der
Staatsdiener immer zunimmt, bis sie das gesellschaftlich tragbare Maß
übersteigt. Dies können wir sehr gut an unserer heutigen Situation
sehen, wie der Dauerkrise des Krankheitssystems, die die gesellschaftliche
Tragfähigkeit zu sprengen droht. Eine ähnliche Situation war zur Zeit
Buddhas im arischbrahmanischen System der Opferpriesterschaft entstanden.
8.4.3.5. Buddhismus und der Kulturkampf der arischen und drawidischen
Systeme
Der alte drawidische Volksglaube war natürlich nie
vollständig auszurotten gewesen, und es fand durch die Jahrtausende eine
allmähliche Vermischung des arisch-brahmanischen Systems mit dem
drawidischen statt, ebenso wie die anfangs blau-blond-arischen Eroberer
allmählich immer dunkler wurden. Das Ergebnis dieser Vermischung ist die
heutige hinduistische Religion. Der Shivakult z.B. ist ein vor-arischer Kult.
Die Urreligionen stellten auch die Mehrzahl der Asketen, Sadhus, Munis, etc. mit
denen das indische spirituelle Universum so reich gesegnet ist. Diese suchten
die Erleuchtung im do-it-yourself Verfahren, ohne die Vermittlung der
Priester-Hierarchien. Dadurch waren sie der offiziellen brahmanischen Religion
natürlich ein Dorn im Auge. Buddha war ein Kshatria, also ein Mitglied der
Herrengesellschaft. Er hatte also auch seine Klasse verraten, als er sich in
den Jahren seiner Askese solchen Gruppen anschloss. Sein Mittelweg, den er dann
verkündete, war daher auch ein Mittelweg zwischen der streng hierarchisch
organisierten brahmanischen Priester-Herrschaft, und der anarchischen
Sadhu-Subkultur. Und so organisierten sich im Gefolge des Buddha die
Mönchsgemeinschaften als ein Mittelding zwischen diesen beiden
Extremen.
8.4.3.6. Der Pfeil, der nie geflogen ist
Es wird eine schöne Legende berichtet, mit der Buddha das
Ziel und die Methode seiner Lehre exemplarisiert - Das Pfeilgleichnis:
Ein Mann ist von einem vergifteten Pfeil getroffen worden, aber als ihn ein Arzt
behandeln will, sagt der Mann: "Bevor du mich behandelst, möchte ich
zuerst wissen, wer diesen Pfeil abgeschossen hat, was für eine Bauart der
Bogen ist, von dem er abgeschossen wurde, etc etc." Der Buddha sagt: Der Mann
ist längst gestorben, bevor er Antwort auf die Fragen bekommen kann. Daher
lehrt er die Methode, die Verletzung zu heilen, und nicht, die Gründe der
Verletzung zu finden.
Dies mag zur damaligen Zeit ein schlagkräftiges Argument
gewesen sein. Ob es heute noch so akzeptiert werden kann, möchte ich hier
in Zweifel stellen. Ich meine, daß es bestimmte Wesenstypen von Menschen
gibt, die sehr wohl davon profitieren können, zu wissen, wie der Pfeil
geflogen ist. Die heutige Menschheit hat gegenüber den Zeiten von Buddha
sicher keinen moralischen oder ethischen Fortschritt gemacht, eher das
Gegenteil. Daher sind Methoden, die bei der ethisch-moralisch-emotionalen
Existenz des Menschen ansetzen (wie sie der Buddha in seinem achtfachen Pfad
formuliert hatte), nur noch von wenigen Menschen durchführbar. Aber die
Fähigkeiten des logischen und formalen Denkens sind in unserer Zivilisation
sehr verbreitet. Und das ist bei der hier vorliegenden Sachlage auch relevant.
Wir können das Pfeil-Gleichnis nämlich herumdrehen: Wenden wir z.B.
das Zenosche Paradox (des Pfeils, der nie fliegen kann) auf das Gleichnis des
Buddha an, dann sehen wir: Der Pfeil konnte nie fliegen, weil er irreal
ist, und daher sehen wir, daß unser Patient auch nicht getroffen worden
sein kann, und er leidet lediglich an einer Halluzination, und wir rufen ihm zu:
Nimm Dein Bett und wandele!
Die Irreführung, die Maya, oder das Samsara, ist eine
spezifische und systematische Verzerrung des Wahrnehmungs- und Existenzsystems
der Menschen. Das radikale Erkennen der Struktur dieser Verzerrung
ermöglicht uns die Neuprogrammierung unserer existenziellen Systeme. Dies
ist die Methode der richtigen Erkenntnis, die bei einem bestimmten Typ
von Menschen der Ansatzpunkt für die Transformation ist. Und mit dieser
Methode wollen wir uns jetzt beschäftigen.
8.4.4. Nagarjuna formuliert die
Madhyamika-Lehre
Nagarjuna
aus Berar in Mittelindien
(ca. +100) war Brahmane, hatte also die extreme geistige Schulung durchlaufen,
die für diese Gruppe charakteristisch ist. Zu den
Selbstverständlichkeiten, die diese Menschen im Schlaf beherrschten, war
das Memorieren von ganzen Bibliotheken von Text: Die Veden, Upanishaden, die
Opfergesänge u.v.m. Die mnemonischen Leistungen, die diese Menschen
vollbrachten, sind von keiner Menschengruppe in keiner Zivilisation je wieder
erreicht worden. Dies muß berücksichtigt werden, wenn man sich der
speziellen Variante des Buddhismus zuwendet, der Nagarjuna angehört.
(ANM:VEDA
[122]
)
Nagarjuna kann als der erste, größte und tiefste
buddhistische "Logiker" des Denkens der Leere gelten. Er gründete die
Schule des Madhyamika, und hat als erster ein philosophisches System des
Mahayana geschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das für die
Mathematik essentielle Konzept der Null (shunya) aus der Philosophie der Leere
des Nagarjuna abgeleitet ist.
(ANM:NULL
[123])
8.4.5. Sein oder Werden, das ist
hier die Frage
Shakespeare hat mit seinem unscheinbaren Zitat "Sein oder
Nichtsein" seinen Protagonisten Hamlet zum Stellvertreter der grundlegendsten
aller Fragen der menschlichen Denksysteme gemacht. Diese Frage steht am Beginn
sowohl der westlichen als auch der östlichen Philosophie, und sie wurde, je
nach Zeit und Ort, verschieden beantwortet. Parmenides hat diese Kernfrage so
formuliert:
estin e ouk estin -- es ist oder es ist
nicht
Dies ist die erste uns erhaltene Fassung des fundamentalsten
Satzes westlichen Denkens, den man auch unter einem anderen Namen kennt:
Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten.
Plato sagt zum Thema des Sein und des Werdens:
Zuerst nun haben wir meiner Meinung nach
folgendes
zu unterscheiden : Was ist das stets
Seiende und kein Ent-
stehen Habende und was das stets
Werdende, aber nimmer-
dar Seiende; das eine ist durch
verstandesmäßiges Denken (28 a)
zu erfassen, ist stets sich selbst gleich,
das andere dagegen
ist durch bloßes mit vernunftloser
Sinneswahrnehmung ver-
bundenes Meinen zu vermuten, ist werdend
und vergehend,
nie aber wirklich seiend. Alles Entstehende
muß ferner
zwangsläufig aus einer Ursache
entstehen. Denn für alles
ist es unmöglich, ohne Ursache zu
entstehen.
BIB:PLATO-WERK7
, 27d-28a
Parmenides formulierte seinen Satz etwa zur gleichen Zeit wie
der Buddha seine Lehre von der Shunyata. Wie das Pfeilgleichnis verdeutlicht,
war es dem Buddha im Gegensatz zu seinen griechischen Zeitgenossen nicht daran
gelegen, die Natur der Dinge zu ergründen, sondern er wollte nur das
hinreichend nötige Wissen vermitteln, um die Kettung an die Welt des
Gegenständlichen zu überwinden. Das war die wesentliche
Weichenstellung, nach der die buddhistischen und westlichen Denksystems dann in
eine gegensätzliche Richtung divergierten.
8.4.5.1. Das Seiende als sprachliche Kategorie
Es war den Griechen wohl nicht bewußt, daß sie mit
ihrer Philosophie lediglich ein semantisches Schattenspiel aufführten, das
auf den grammatischen Regeln der griechischen Sprache beruhte.
(ANM:EXKLUSIV
[124]
)
Aristoteles hatte dieses Spiel auf seinen Höhepunkt getrieben, und die
gesamte westliche Welt hat in den folgenden 2300 Jahren nichts anderes getan,
als in den von ihm gelegten Bahnen weiterzuarbeiten. Dies ist es, was am Anfang
mit der "klassisch-aristotelischen Gestalt des Denkens" bezeichnet worden war.
8.4.5.2. Die Ontologie als Epiphänomen der Sprachstruktur
Wir müssen uns vergegenwärtigen, das das Denken des
Seienden dermaßen tief in das westliche Bewußtsein eingedrungen und
integriert ist, daß es uns kaum möglich ist, etwas anderes als von
dieser Kategorie Gebildetes zu denken. Das macht uns schon einer der
Grundbegriffe der westlichen Philosophie klar: Das Wort "Ontologie". Wir reden
in der Philosophie von der Ontologie aller möglichen Dinge und Begriffe,
sogar von der Ontologie des Werdens. Das ist aber ein Widerspruch in sich
selbst. Es gibt keine Ontologie des Werdens, da es kein Sein des Werdens gibt.
Es gibt nur verschiedene Vorstellungen von Werden, und wenn unser ganzes
Denksystem auf Seiendes ausgerichtet ist, dann können wir uns etwas unter
"Werden" vorstellen, das aber immer und ewig an den Kategorien des Seienden
ausgerichtet ist. (Zu dieser Problematik auch die Zitate aus
BIB:BUDDH-STRENG
weiter unten.)
8.4.5.3. Das Seiende als Sprachmagie
Das Seiende ist nichts anderes als ein Artefakt (also ein
Nebenprodukt) einer sprachlichen Kategorie. Wir Menschen der westlichen
Zivilisation haben uns so daran gewöhnt, die Namen und Bezeichnungen die
wir den Dingen geben, mit den Dingen selber gleichzusetzen, daß es
höchstes Erstaunen und höchste Ungläubigkeit, sogar Ablehnung und
Feindlichkeit hervorruft, wenn man das ernsthaft in Zweifel zieht. Die
Benennung der Dinge entspringt dem fundamentalen Sicherheitsbedürfnis der
Menschen. Hier ist die enge Verbindung von Namensgebung und Magie offenbar.
Einem Ding einen Namen geben, heißt, es den magischen Bann des
menschlichen Vorstellungs- und Manipulationsvermögens zu ziehen. Und
nichts anderes als das ist auch die heutige Naturwissenschaft, die die
Manipulation der Dinge auf die Spitze getrieben hat. (S.a.
BIB:HAARMANN92)
8.4.5.4. Heraklit verliert gegen Parmenides
Es hatte im alten Griechenland eine Auseinandersetzung
zwischen der Denkschule des Parmenides und des Heraklit gegeben, bei der die
Partei Heraklits unterlag. Während Parmenides der Vertreter des Seienden
war, war Heraklit der Exponent des Werdens. Er hatte erkannt, daß trotz
unserer eifrigen sprachlichen Bemühungen nichts auch nur einen Augenblick
konstant blieb. "Panta rei -- alles fließt" war sein Grundsatz.
Man kann nicht in den selben Fluß zweimal steigen. Diese Denkrichtung war
es, die Buddha im Osten ausformulierte. Zur selben Zeit hatte aber der Taoismus
in China mit Lao Tsu und Chuang Tsu eine analoge Formulierung gefunden (Siehe
das Tao Te King.). Dies ist essentiell, weil der Chan Buddhismus, aus dem sich
das japanische Zen entwickelte, mühelos auf die schon vorhandene Denkbasis
des Tao-Denkens aufsetzen konnte. Hier liegt auch ein Ansatzpunkt, zu forschen,
ob die mongolische Sprachfamilie, der das Chinesische und das Tibetische
angehören, sprachliche Dispositionen hat, denen diese Denkform leichter
fällt.
8.4.5.5. Die Logik des Werdens
Das buddhistische Verständnis der Welt beruht auf der
Erkenntnis, daß das erlebte Leben, das Sein des Menschen, die Welt, das
Samsara, nicht auf Sein im Sinne von irgendetwas unverrückbar Daseiendem
beruht
(ANM:SEIENDES
[125]).
Die Lehre von der bedingten Entstehung besagt vom Leben:
Es ist ein Prozess,
ein immerwährendes Werden. Wobei die Idee des Immerwährenden
natürlich schon wieder eine Seinskatogorie durch die Hintertür
einführt. Es ist in unserer von 2500 Jahren Denken des Seins
geprägten Sprache nicht möglich, überhaupt das Konzept
adäquat auszudrücken, da wir mit jedem Wort wieder zurück in die
Kategorien des Seins fallen. Daher spricht Nagarjuna in jedem zweiten Satz von
der
Leere. Eine Welt, deren Basis auf einer "Onto"-Logie des Prozesses
aufgebaut ist, ist für die Ontologie des Seienden eben leer, weil es mit
keiner Kategorie dieser Ontologie zu erfassen ist. Das Werden ist
transkategoriell.
8.4.5.6. Wenn das Wörtchen "Werden" nicht wär
Unser täglicher unbedenklicher Gebrauch des Wortes
"Werden" und aller seiner Ableitungen, wie etwa dem oben gebrauchten "Prozess"
täuscht uns darüber hinweg, daß dieses Wort eine linguistische
Tretmine, ein semantischer Wolpertinger ist. Zenos Paradoxien beruhen darauf,
daß in einem semantischen Universum des Seienden, wie es nun einmal
die indogermanische Sprachfamilie ist, das Werden keinen Platz hat. Und
so konnte er seine Zeitgenossen, ebenso wie uns heute noch, an der Nase
herumführen. Wir können das Werden eben nur als einen mehr oder
weniger unerklärlichen Übergang zwischen zwei oder mehreren
unterscheidbaren Zuständen des Seienden wahrnehmen (oder eher:
falschnehmen). Hier tritt aber der unvermeidliche und unüberbrückbare
logische Bruch auf, auf den Zeno hingewiesen hat. Eine Logik aristotelischer
Prägung läßt sich nur auf der Basis des Seienden erstellen, im
Bereich des Werdens gibt es keinen Satz von der Identität, vom Widerspruch,
und vom ausgeschlossenen Dritten.
Das semantische Universum unserer sprachlichen
Vorstellungswelt ist topologisch. Unsere Begriffe formen ein semantisches
Netzwerk, das durch seine Assoziativität auf eine ebenso oder noch
wesentlich komplexere Weise miteinander verwoben und verknüpft ist wie die
Neuronen unseres Nervensystems über die Dendriten. Die Erfindung der
Schrift hat diesem System seinen Flux geraubt, den es vorher (den Menschen
unmerklich) immer hatte: Die Bedeutung der Worte und ihre Relationen
untereinander veränderten sich vor der Schrift von Generation zu
Generation. Erst mit der Schrift und den durch sie ermöglichten Arbeiten
des Aristoteles und der Stoa, und ihrer Nachfolger wurde dieses System zu einem
Struktursystem von Bedeutungen, die trotz der immer weitergehenden Fluktuation
der gesprochenen Sprachen in den letzten 2500 Jahren eine ziemliche Konstanz
bewahrt hat.
8.4.5.7. Das Nirvana als Verlassen des Werdens-Prozesses
Fundamental to an understanding of nirvana
is the perception of the reality of "becoming" for which nirvana ist the answer.
If we see that the "becoming" is a fundamental ontological category denying the
static "being", then there is no need for a static ontological substratum to
undergird a "process of becoming"; and the question of whether there "is" or "is
not" something remaining when there is no longer fabrication of existence does
not apply.
Fundamental für ein Verständnis
des Nirvana ist das Erkennen der Realität des "Werdens", für die das
Nirvana die Antwort ist. Wenn wir sehen, daß "Werden" eine fundamentale
ontologische Kategorie ist, die das statische "Sein" verneint, dann gibt es
keine Notwendigkeit für ein statisches ontologisches Substrat, welches dem
"Prozess des Werdens" als Fundament unterliegt. Und so wird die Frage sinnlos,
ob da "irgendetwas" übrigbleibt oder nicht, wenn es keinen Prozess der
Erzeugung von Existenz mehr gibt.
Wir müssen hier die Frage stellen, ob wir mit dem
westlichen Verständnis von Ontologie überhaupt noch arbeiten
dürfen, oder ob es sicht nicht mehr um eine "Onto"-Logie handelt, ein
Grundverständnis, bei dem das Ontische selbst herausfällt.
By clearly understanding that there is no
absolute essence to which "emptiness" (or "nirvana" and "perfect wisdom")
refers, we recognize that when emptiness is described as inexpressible,
inconceivable, and devoid of designation, it does not imply that there is such a
thing having these as characteristics. Emptiness is nonsubstantial and
nonperceptible. As "nonsubstantiality" does not indicate non-existence, but a
denial that things are real in themselves, so "non-perceptibility" does not mean
a state of unconsciousness; rather, it serves to check the inclination to
substantialize phenomena through conceptualization. Thus, "emptiness" itself is
empty in both an ontological and an epistemological sense: "it" is devoid of
any self-sufficient being, and it is beyond both designations "empty" and
"non-empty". Only if both senses are kept in mind can we see how Nagarjuna
relates the "emptiness of the phenomenal world" to the "emptiness of any
absolute entity or assertion".
In der Übersetzung möchte ich shunyata als
Terminus technicus beibehalten. Es hat keinen Sinn, ihn übersetzen zu
wollen. Seine Leerheit wirkt dadurch umso besser, je weniger Bedeutung wir in
ihn hineininterpretieren.
Indem wir klar verstehen, daß keine
absolute Esszenz vorhanden ist, auf die shunyata hinweist, erkennen wir,
wenn shunyata als unausdrückbar, unvorstellbar, und bar jeder
Bezeichnung beschrieben wird, daß dies nicht impliziert, daß es da
ein Ding gäbe, das diese Bezeichnungen als Charakteristiken besitzt.
Shunyata ist insubstantiell und unerkennbar. Insubstantialität
bedeutet nicht "Nicht-Existenz", sondern lediglich die Verneinung, daß die
Dinge aus sich selbst heraus wirklich sind. Daher meint Unerkennbarkeit auch
nicht einen Zustand der Unbewußtheit; sondern es dient dazu, die Tendenz
einzudämmen, die Phänomene durch Konzeptualisation zu verdinglichen.
Daher ist shunyata selber leer sowohl im ontologischen wie im
epistemologischen Sinne. Sie ist leer eines jeden selbst-genügenden Seins,
und sie ist jenseits beider Charakterisierungen "leer" und "nicht-leer". Nur
wenn wir beide Seiten im Sinn behalten, können wir sehen, wie Nagarjuna die
"Leerheit der phänomenalen Welt" mit der "Leerheit jedweder absuluten
Entität oder Annahme" in Beziehung setzt.
Solche Formulierungen machen klar, warum die Philosophie
Nagarjunas von den mehr aristotelisch orientierten westlichen Philosophen als
ein Haufen von Kraut und Rüben angesehen wird.
8.4.5.8. Die Sprachstrukturen des Seienden
Nach der Sapir-Whorf Hypothese
(BIB:WHORF56
) wird das Denken der Menschen durch ihre
Sprache dominiert oder sogar determiniert. Wenn uns unsere Sprachstruktur, die
Grammatik, mit ihrer alles dominierenden Form von "Subjekt-Prädikat-Objekt"
suggeriert, daß da immer ein "seiendes" Subjekt sein muß, das an
einem "seienden" Objekt etwas "tut", dann kann man irgendwann einmal nicht mehr
den Gedanken fassen, daß es auch anders sein könnte. Whorf hat uns
Beispiele von Indianersprachen gegeben, die auf völlig anderen
Sprachkategorien beruhen, als unsere indogermanischen (und semitischen)
Sprachen. Griechisch, die Wurzelsprache des westlichen Denkens, und Sanskrit,
die der indischen Philosophen, sind indogermanische Sprachen, deren Kategorien
auf solche Konstrukte optimal eingerichtet sind. Die mongolisch altaische
Sprachfamilie, der auch Tibetisch und Chinesisch angehören, hat andere
Kategorisierungen, die ich hier aber mangels genauerer Kenntnisse nicht explizit
behandeln kann, und lediglich als Leerstelle betrachten muß.
8.4.5.9. Die Shunyata als quasi-formaler Operator
Mit dem Konzept der Shunyata hat Nagarjuna die einzig
mögliche Form in einer indogermanischen Sprache gefunden, etwas kategorisch
Unausdrückbares auszudrücken. In der heutigen Wissenschaft weist
die Quantenphysik auf Realitäten hin, die unsere bekannten Kategorien des
objektiven und subjektiven Seins hinter sich lassen. Und unsere Begriffssysteme
sind auch darüber hinausgekommen. Die formale Logik und Mathematik, wie
sie mit Leibniz als einem der großen Urheber gegeben ist, ist ein
Symbolismus, der auf seine Weise etwas macht, was Nagarjuna vorweggenommen hat.
Die formalen Sprachen der Logik operieren mit ihren Zeichen rein auf der Basis
der Erscheinung des Zeichens, völlig unbeachtet einer Bedeutung des
Zeichens. Nagarjuna hat mit seiner Logik der Leere etwas vorweggenommen, das
die Erscheinungen der phänomenalen Welt genauso inhaltsleer und
bedeutungslos macht, wie die logischen Symbole der formalen Sprachen inhaltsleer
sind. Die Gesetze der Bedingten Entstehung lassen sich ohne weiteres in die
Kategorien formaler Rechenregeln übersetzen, so daß wir in der Logik
des Nagarjuna den informellen, und auf die menschliche Existenz angewandten
Vorläufer unserer modernen formalen Sprachen erkennen können.
Insofern gibt es kein "Sein" des Nirvana, es gibt kein "Sein" des Tathagata, sie
sind alle leer, wie auch die unzähligen von den Bodhisattvas
hinübergeführten Wesen, die nie existiert haben. Unsere jetzige
Existenz, in der wir uns als beseelte, individuelle Lebewesen begreifen, ist
nichts als ein inhaltsleerer Kalkül, von der Seite des Nirvana-Denkens oder
Kenomén aus gesehen.
8.4.6. Das Prajnaparamita Sutra:
Der Stein der Weisen des
Nirvana-Denkens
Nagarjunas Werk ist das Ergebnis der Anwendung des
vedisch/indogermanisch/logischen brahmanischen Denkens auf die in den
Prajnaparamita Sutras enthaltene Kondensation der Lehren des Buddha. Nagarjunas
Ausführungen sind eher trocken, abstrakt, und enthalten nichts von den
Empfindungswerten, die mit dem Erreichen des Nirvana-Denkens oder
Kenomén verbunden sind. Diese Beschreibungen finden wir in den
Prajnaparamita Sutras (der Weisheit, die die Horizonte hinter sich gelassen
hat). Das "Summum Bonum" der Prajnaparamita:
GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SVAHA
in die moderne Sprache des Kenomén
übertragen:
Gegangen, gegangen, jenseits der Horizonte gegangen
die Gesamtheit des universalen Bewußtseins
die Klarheit
Aha!
Zur damaligen Zeit sprach man noch von dem
anderen
Ufer, zu dem hin mit dem kleinen Boot des Hinayana oder mit dem großen
Boot des Mahayana der Strom des Samsar überquert werden mußte, um das
rettende Ufer des Nirvana zu erreichen. Heute dreht es sich darum, die
Horizonte des aristotelisch-zweiwertigen Denkens und des Denkbaren,
Begreifbaren, Manipulierbaren, hinter uns zu lassen, uns nicht mehr von den
Spiegelungen unserer Gedanken täuschen zu lassen. Es ist auch nicht mehr
eine
Sangha, die Gemeinschaft der buddhistischen Mönche und Laien,
die den Übergang sucht, sondern es ist das gesamte Universum, das
bewußte Universum, so wie es Plato im Timaios und Teilhard de Chardin in
seinen Werken formuliert hat. Das gesamte Universum ist bewußt, alle
Wesen dieses Universums sind miteinander verbunden, keines ist getrennt von
keinem anderen. Kein Stein, kein Staubkorn, kein Wassertropfen ist getrennt.
Wir Menschen bilden eine Kristallisationsfläche, an der sich das
Bewußte reflektiert.
(ANM:BEWUSST
[126]
)
Wir sind die Subjektivität der Reflexion des Universums. Aber durch diese
Subjektivität in keiner Weise bevorzugt oder ausgenommen, abgelöst,
oder speziell. In dem Augenblick, in dem wir unsere Einheit mit dem Universum
erfahren, erfüllt uns die unendliche Klarheit der Erkenntnis, die jenseits
des Denkens liegt, die
Prajnaparamita. Dafür gibt es keine Worte
mehr, und wir sagen nur noch: Aha!
8.4.6.1. Shunyata als Gegenkonzept zur ousia
Die Seins-Existenz (siehe dazu auch
ANM:ARISTOTELES
[127]
)
der Dinge wird im Buddhismus negiert. Nagarjuna vollzieht in seinen Lehren eine
Diskussion, die aussieht, als wäre sie als genaues Gegenstück zu der
Metaphysik des Aristoteles gedacht. Während Aristoteles dort sein Konzept
der
ousia entwickelt, baut Nagarjuna mit der
shunyata das
konsequente Gegenbild dazu auf.
(ANM:EINFLUSS
[128]
).
Der Begriff des eigenen Wesens (svabhava = ousia?):
Eigenes Wesen bedeutet nach Nagarjuna, der
indischen Wortbedeutung entsprechend, ein Sein aus sich selbst und nur durch
sich selbst bedingt, unabhängig von allem anderen. Daraus folgt aber,
daß ein solches eigenes Wesen nicht entstanden ist, weil es nicht
verursacht sein kann, und daß es nicht dem Vergehen unterworfen ist, weil
sein Bestehen von nichts anderem abhängt. Es ist daher ewig und
unveränderlich. Und so folgert denn Nagarjuna, daß die Dinge der
Erscheinungswelt, weil sie dem ständigen Werden und Vergehen unterliegen,
kein eigenes Wesen besitzen können. Sie sind also wesenlos, d.h.
unwirklich.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 173
In diesem Denkzug geht Nagarjuna einen ähnlichen Weg wie
Plato (siehe das obige Zitat aus Timaios). Dieser relegiert die Welt der
phänomenalen Erscheinungen in den Bereich der Doxa, also des Meinens,
Scheins und sich Täuschens und nimmt allein die Ideen als wirklich an.
Ideen aber sind Wesen in einem semantischen Universum. Damit hat sich Plato
aber genau in den Gitterstäben jenes semantischen Universums der
indogermanischen Sprachfamilie gefangen, das schon erwähnt worden ist.
8.4.6.2. Die Theorie des Anatman
Das Konzept des Atman der brahmanischen Lehre ist
weitläufig mit der abendländischen Idee der menschlichen Seele, also
des individuellen Wesenskerns (der nach christlicher Doktrin unsterblich ist),
zu vergleichen. Das Atman hat als Wesenskern Teil an der Existenz des
Jenseitig-Seienden Brahman und die Realisation des Aufgehens des Atman in
Brahman ist die Erleuchtung im vedantischen System nach Shankara. Diese
Systematik ist wiederum mit der Unio Mystica der
jüdisch/christlich/islamischen Religionen zu vergleichen. Dadurch,
daß man eine solche Existenz verneint, befreit man sich von einer Menge
vergeudeter Energie, die im Westen und im Brahmanismus in die theologische
Spekulation um die Natur und Art des Jenseitig-Seienden investiert wurde.
Weiterhin befreit man sich von der Last der Spekulation darum, wie dieses
Jenseitig-Seiende denn nun zu erreichen sei.
8.4.6.3. Die Theorie der abhängigen Entstehung
Die Persönlichkeit eines Wesens (z.B. Menschen) wird
durch einen Prozess gebildet, dessen Komponenten sich gegenseitig bedingen, den
Skandhas. Es ist ziemlich sinnlos, diesen Begriff übersetzen zu
wollen, wie etwa bei Conze mit "Haufen". Da ist eine Herangehensweise im Sinne
einer formalen Logik mit bedeutungslosen Zeichen schon sinnvoller, oder aber man
läßt den Term so wie er ist: (Die architektonische Betrachtungsweise
basiert nicht auf Begriffen, sondern auf der Struktur, eben der Architektonik,
deren Eigendynamik dann die Bedeutung der Begriffe erzeugt.) Die wesentliche
Eigenschaft der Skandhas ist, daß sie kein Sein haben, also nicht
unabhängig von irgendetwas anderem existieren. Sie sind z.B. nicht
definierbar und es gibt keine apriorischen Begriff davon. Wir können den
Skandhas zwar konventionelle Namen geben, aber mit der Warnung, daß keiner
glauben darf, daß die Skandhas "etwas sind":
Avalokita, der heilige Gebieter und
Bodhisattva, begann die Bewegung seines Geistes aus der Prajnaparamita, der
Weisheit, die die Horizonte hinter sich gelassen hat. Er schaute hinab von
jener Perspektive, und er stellte fest, daß lediglich fünf Skandhas
vorhanden waren, und er sah, daß diese in Ihrem Selbst-Sein leer
waren.
BIB:BUDDH-CONZE58
, p. 78-79
8.4.6.4. Die fünf Skandhas
Die Skandhas sind die fünf
Bestandteile unserer Persönlichkeit, so wie sie erscheint. In der Analyse
können alle Gegebenheiten unseres Erlebens - von uns selbst und von
Objekten in Relation zu uns - mit der Begrifflichkeit dieser Skandhas
erfaßt werden, ohne das nebulöse Wort "Ich"
einzuführen.
BIB:BUDDH-CONZE58
, p. 79
Hier, O Sariputra, Form (rupa) ist Leere
(shunyata) und gerade die Leere ist Form; Leere ist nicht verschieden von Form,
und Form ist nicht verschieden von Leere; was auch immer Form ist, das ist
Leere, was auch immer Leere ist, das ist Form, und dasselbe betrifft
Gefühle (vedana), Sinneswahrnehmungen (samjna), Impulse (samskara), und
Aufmerksamkeit (vijnana).
BIB:BUDDH-CONZE58
, p. 81
Die fünf Skandhas werden hier genannt: Form,
Gefühle, Wahrnehmungen, Impulse, und Aufmerksamkeit. Die
Übersetzungen sind nur als annähernd zu betrachten. Vergleichen wir
damit die Argumentation des Aristoteles in der Metaphysik. Für ihn ist
morphae die Form, und hylae mater/matrix/materie/stoff, das
wesentliche Gegensatzpaar in seiner Diskussion des letztlich Seienden. Für
ihn ist die Form das Seiende, die ousia. Seine Form und die platonische
Idee erfüllen damit denselben Zweck.
8.4.6.5. Die Fata Morgana des Seienden
Die 2500 Jahre währende Suche westlicher Philosophie nach
einer absoluten Esszenz des Seienden, die in eine logisch zwingend notwendige
Existenz eines allmächtigen, und allwissenden Agens, den
Omnipotenzoperator, genannt "Gott" geführt hat, und so großartige
Geistesgebäude wie die Philosophie des Thomas Aquinas hervorgebracht hat,
ist eine Jagd nach der Fata Morgana. Notwendigerweise mußte die westliche
Suche der Denker und Mystiker sich in immer höhere Höhen
hinaufschwingen, um der grandios hochstilisierten Omnipotenz ihres Gottes
gerecht zu werden. Die Erkenntnis Buddhas und Nagarjunas ist dagegen
ernüchternd: Die Idee des "ultimaten", "absoluten", "jenseitigen",
"transzendenten", die "Erleuchtung" als irgendein großes Licht, das (deus
ex machina) erscheinen soll, ist Teil der jahrtausende alten
Selbsttäuschung, daß da irgendetwas großartiges Transzendentes
ist, das jenseits unserer Existenz liegt. Diese Fata Morgana gilt es zu
überwinden und zu transzendieren. Die simple Erkenntnis der
Prozesshaftigkeit der Existenz, und der absoluten Transkategorialität des
Nirvana, die in nichts anderem als dem Wesen des Prozesses begründet liegt,
in dem wir uns befinden.
8.4.7. Die Logik der
Befreiung
Das Leiden, so wie vom Buddhismus verstanden, ist eine Folge
der semantischen Fixierung. Die Menschen sind die einzigen Lebewesen, die sich
ein linguistisches Bild von den Zuständen machen, so wie sie sind, und so
wie sie (nach Meinung der Menschen) sein sollten. Tiere und Pflanzen nehmen die
Welt so wie sie ist. Sie versuchen nicht, sie zu beeinflussen, sondern passen
sich ihr an, und leben ihr Leben, bis es sein Ende erreicht, und sich ihre
zellulare Substanz wieder mit dem großen Ozean der Biomasse des Planeten
vereinigt. Die organischen Substanzen der Zellen überleben in der
planetaren Biosphäre die Lebensspanne der Einzelindividuen, und sind damit
quasi unsterblich. Auch das Leben des Planeten ist endlich, aber um wieviele
Größenordnungen länger als das der Individuen! Für uns
jedenfalls sind die ca. 10 Milliarden Jahre Lebensspanne des Planeten nichts
weniger als die Ewigkeit.
Der Mensch schafft sich mit seiner Sprache ein
Schatten-Universum, das dadurch umso realer erscheint, als wir ja immer in
Gesellschaft leben, also eine Konsensus-Realität mit unseren Mitmenschen
errichten. Diese Konsensus-Realität hat aber sehr oft sehr wenig mit der
Situation im Universum zu tun.
(ANM:KULTUR-TOD
[129]
)
Die Absicht Nagarjunas ist es, innerhalb der Kategorien der
indogermanischen Sprache eine ähnliche Art von Paradoxien aufzustellen, wie
Zeno es getan hat. Er führt damit den in der Semantik implizit enthaltenen
Realitätsanspruch von Sprach- und Denkkonstrukten ad absurdum und verweist
auf das, was mit Sprache nicht zu fassen ist: Die Shunyata. Das
Sprach/Denksystem ist ein autonomer Prozess, der in unseren Gehirnen
abläuft, von dem wir uns hypnotisieren lassen. Wir können aber diesen
Prozess in seiner Automatik einfach weiterlaufen lassen, und unsere
Aufmerksamkeit von dem Automatismus abwenden. Gelingt uns das, so sind wir in
Nirvana eingetreten.
Die Erscheinungswelt (samsara) und das
Nirvana sind ein und dasselbe. Es besteht zwischen ihnen nicht der geringste
Unterschied. Daraus folgt aber auch, daß das Nirvana nichts Getrenntes
für sich ist, das man erlangt, indem man sich von der Erscheinungswelt
befreit. Es besteht vielmehr nur darin, daß man den Trug der
Erscheinungswelt nicht mehr wahrnimmt, indem die Vielfalt, auf die sie sich
gründet, zur Ruhe kommt.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 175
8.4.7.1. Madhyamakakarika
Es folgen einige Verse aus Nagarjunas Hauptwerk, der
Madhyamakakarika:
Den Buddha, der das abhängige
Entstehen verkündet hat als ohne Vernichtung und ohne Entstehen, ohne
Aufhören und nicht ewig, ohne Einheit und ohne Mannigfaltigkeit, ohne
Kommen und ohne Gehen, als das friedliche Zurruhekommen der Vielfalt
(prapancah), ihn, den trefflichsten der Lehrer, verehre ich.
Weder aus sich, noch aus anderem, noch aus
beiden, noch ohne Grund sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge
entstanden.
Denn das eigene Wesen der Dinge ist in den
Ursachen usw. nicht vorhanden. Wenn aber kein eigenes Wesen vorhanden ist, dann
ist auch kein fremdes Wesen vorhanden.
Es gibt vier Ursachen, den Grund, den
Anhaltspunkt, die unmittelbar vorhergehende und die bestimmende Ursache. Eine
fünfte Ursache gibt es nicht.
Die Wirkung hat keine Ursache. Die Wirkung
ist aber auch nicht ohne Ursache. Ebenso sind die Ursachen nicht ohne Wirkung,
sie haben aber auch keine Wirkung.
Wovon das Enstehen eines (Dinges)
abhängt, das gilt als seine Ursachen. Solange es aber nicht entsteht,
wieso sollten sie solange nicht Nichtursachen sein?
Weder bei einem nichtseienden noch bei
einem seienden Gegendstand ist die Ursache am Platz. Denn wessen Ursache ist
sie, wenn er nicht ist? Wenn er aber ist, wozu dient dann die
Ursache?
Wenn weder eine seiende, noch eine
nichtseiende, noch eine seiende und nichtseiende Gegebenheit entsteht, wieso ist
dann ein hervorbringender Grund möglich?
Von der seienden Gegebenheit wird gelehrt,
daß sie ohne Anhaltspunkt ist. Wenn sie aber ohne Anhaltspunkt ist, woher
sollte dann ein Anhaltspunkt kommen?
Solange die Gegebenheiten nicht entstanden
sind, kommt die Vernichtung nicht zustande. Daher ist die unmittelbar
vorhergehende Ursache nicht möglich. Ist dagegen die Vernichtung
eingetreten, was soll dann Ursache sein?
Da es bei wesenlosen Dingen kein Sein gibt,
ist es unzulässig, zu sagen: Wenn dieses ist, wird jenes.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 178-180
Nagarjunas Diskussion folgt in ihrer Form den Paradoxien des
Zeno, geht aber in genau die entgegengesetzte Richtung. Seiendes ist ewig und
kennt keine Ursache. Dies wird auch von Plato in dem Timaios-Zitat oben schon
so formuliert. Ein werdendes Ding benötigt eine Ursache, um zu werden.
Damit etwas werden kann, muß irgendeine Form, ein Gedanke oder eine Idee
dieses Dings schon existieren. Dies wäre aber wieder ein Seiendes, das
keine Ursache benötigt. Also sind Ursachen unmöglich. Dies ist eine
Problematik der Unterscheidung zwischen den Begriffen, die wir uns von den
Dingen machen, und der stillschweigenden Annahme, daß da irgendwelche
Dinge für sich existieren. Wir können in der Diskussion Nagarjunas
natürlich nicht von "einem Ding-an-sich" nach Kant oder aristotelischen
Kategorien des Seienden reden, da er diese ja gerade explizit ausschließt.
Die Diskussion Nagarjunas ist eine petitio principii, und daher nicht
widerlegbar. Daher kann man Nagarjuna auch nicht so ohne weiteres einen
Trugschluß anhängen, wie Frauwallner es tut (a.a.o. p.
176).
8.4.7.2. Vigrahavyavartani
Hier einige Auszüge aus Vigrahavyavartani
(Streitabwehrerin). Es ist ein Dialog mit einem
Herausforderer, der behauptet:
"Wenn es überall bei allen Dingen kein
eigenes Wesen gibt, dann ist deine eigene Rede wesenlos und nicht imstande, ein
eigenes Wesen zu widerlegen."
Worauf Nagarjuna sagt:
Wenn meine Rede weder in den Gründen,
Ursachen und ihrer Gesamtheit,
noch in getrenntem Zustande vorhanden ist,
dann ist doch die Leerheit der Dinge
erwiesen,
eben wegen ihrer Wesenlosigkeit.
Das abhängige Entstehen der Dinge wird
nämlich Leerheit genannt. Denn ein Ding, das abhängig entsteht, ist
wesenlos.
Ohne die Leerheit der Dinge zu verstehen
und
ohne den Sinn der Leerheit zu kennen,
hast du es unternommen, einen Tadel
vorzubringen,
(indem du sagst):
Wegen der Leerheit deiner Rede ist deine
Rede wesenlos.
Mit deiner wesenlosen Rede ist aber eine
Widerlegung
des Wesens der Dinge nicht möglich."
Das abhängige Entstehen der Dinge ist
nämlich ihre Leerheit.
Wieso? Wegen ihrer
Wesenlosigkeit.
Dinge, welche abhängig entstanden
sind,
sind ohne eigenes Wesen, weil ihnen ein
eigenes Wesen fehlt.
Wieso? Weil sie von den Gründen und
Ursachen abhängig sind.
Wenn die Dinge einem eigenen Wesen nach
bestünden,
dann würden sie auch ohne
Rücksicht auf Gründe und Ursachen bestehen.
Das ist aber nicht der
Fall.
Daher sind sie wesenlos.
Und weil sie wesenlos sind, werden sie leer
genannt.
Somit ist erwiesen, daß auch meine
Rede,
weil sie abhängig entstanden ist,
wesenlos ist, und weil sie wesenlos ist,
leer ist.
Wie aber Wagen, Kleider, Töpfe
usw.,
obwohl sie abhängig entstanden und
daher
von eigenem Wesen leer sind, trotzdem ihre
verschiedenen Wirkungen ausüben,
nämlich das Holen von Holz, das Holen
von Erde,
das Enthalten von Honig, Wasser und Milch,
das Schützen gegen Kälte, Wind
und Hitze usw.,
ebenso führt diese meine Rede, obwohl
sie
abhängig entstanden und daher wesenlos
ist,
trotzdem den Nachweis der Wesenlosigkeit
der Dinge.
Wenn du daher gesagt hast: Deine Rede ist
wegen ihrer Wesenlosigkeit leer und
wegen ihrer Leerheit ist es nicht
möglich,
durch sie das eigene Wesen aller Dinge zu
widerlegen,
so ist das nicht richtig.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 200-202
8.4.8. Die Lehre Nagarjunas für
die heutige Zeit
Die Erlebnisqualität einer längerdauernden
Beschäftigung mit Nagarjunas Lehren ist das Gefühl einer gewissen
Leere in der Magengrube. Irgendwie fühlt man sich an das berühmte
ägyptische Märchen vom Krokodildoktor erinnert:
Krankheit weg, Patient gefressen, Krododil satt, alles
paletti.
Oder wir können sagen, hier haben wir den Erfinder der
universellen Relativitätstheorie vor uns, 1700 Jahre vor Einstein. Alles
ist relativ zu allem anderen. Nichts ist sicher, fest, bekannt,
verläßlich.
(ANM:RELATIV
[130]
)
Der aristotelische westliche Verstand steht vor einem riesigen Scherbenhaufen
von zerschmetterten Konzepten über die Realität der Dinge und fragt
sich, ob das Ganze nicht vielleicht doch nur ein grober Unsinn gewesen ist.
Aber das wäre ein Fehlschluß. Die Shunyata-Lehre
Nagarjunas kann nicht allein für sich betrachtet werden. Ebenso wie er
alle Dinge als gegenseitig abhängig betrachtet, und nichts allein für
sich, so ist sein System abhängig von dem scholastischen System des
Abidharma und den brahmanischen Systemen seiner Zeit. Gegen diese richtet er
seine Dialektik, aber ohne sie wäre sie tatsächlich völlig
unsinnig. Das ist das Problem des heutigen Verständnisses, da wir diesen
Kontext nicht mehr sehen. Nagaruna verneint keinesfalls die Gültigkeit
konventioneller Weisheit, und als solche bezeichnet er die Lehren des Wissens,
gegen die er argumentiert. Im Gegenteil: Ebenso wie er wohl alle brahmanischen
Schriften und die Abhidarma-Lehren kannte und vielleicht sogar auswendig
rezitieren konnte, so muß die Anwendung dieses Wissens vom Wißbaren
geschehen, mit seiner Shunyata-Lehre als immer präsente Mahnung und
Warnung, nicht dem verführerischen Zauber der Sprache zu verfallen. Und
diese Warnung gilt für die heutige Wissenschaft ebenso wie damals:
It is the danger of language to posit an
essential reality within ideas.
BIB:BUDDH-STRENG, p. 53
8.4.9. Die Weisheit in
Freiheit
Die Weisheit des Buddhismus ist prajna, die
Beziehung-der-Leere zu allen Dingen, in totaler Freiheit. Weisheit als der Weg
zur Erlangung der totalen Freiheit ist die größte Gefahr einer
unentrinnbaren Kettung. Wenn Weisheit als "Ding-an-Sich" erfaßt und
begriffen wird, dann verwandelt sie sich sofort in eine verführerische
Spiegelung. Wenn sie als eine fixierte Position errichtet wird, wird sie zur
mentalen Falle, und entwickelt die ihr eigene zerstörerische Dynamik.
Die prajnaparamita ist Weisheit ohne ein Objekt des
Wissens.
frei nach BIB:BUDDH-STRENG, p. 82
8.4.10. Die Archae:
Gemeinsamer Urgrund westlichen und
östlichen Denkens
Im griechischen Denken finden wir Hinweise auf ein Konzept,
das der shunyata ähnlich ist, die archae.
8.4.10.1. Hesiod und das Chaos: Im Anfang war die Leere
Wir finden in der Theogonie Hesiods den Ausspruch: "Im Anfang
war das Chaos." Chaos wird in seiner normalen heutigen Bedeutung als
"ungeordnet", "unwirklich", eben "chaotisch" verstanden. Die wesentliche
Bedeutung für Hesiod ist aber: Der leere, unermeßliche Raum. Die
absolute Leere. Die Archae, der Ursprung, ist etwas, das mit den Kategorien
des Seienden nicht zu erfassen ist, und für diese Kategorien daher leer.
Hier liegt der Urgrund, aus dem die gegensätzlichen Denksysteme der
Europäer und des Buddhismus entstanden sind. Plato war sich noch durchaus
dieser Bedeutung der archae bewußt, denn er hat im Timaios, 48 c
explizit angegeben, daß der Ursprung der Dinge außerhalb der
Behandlung mit Worten und Begriffen liegt:
Über den "Ursprung von allem" oder
die
"Ursprünge" oder wie man es sonst
damit hält, soll jetzt nicht
gesprochen werden, und zwar aus keinem
anderen Grunde,
als weil es schwierig ist, unsere Meinung
bei der gegenwärti-
gen Weise der Behandlung deutlich
darzulegen. Glaubt also
ihr nicht, ich müsse darüber
sprechen, noch dürfte ich selbst
imstande sein, mir selbst einzureden,
daß ich mich wohl mit
Fug an ein solches Unternehmen wagen
dürfe.
8.4.10.2. Das Wort Archae
Das griechische Wort archae hat eine Mehrfachbedeutung,
deren zeitlose Vielgestaltigkeit uns heute noch begegnet: In vielen
Lehnwörtern, die unser westliches Denken den bahnbrechenden Leistungen der
griechischen Philosophen verdankt, ist eine oder andere Bedeutung von archae
erhalten: Archäologie, archaisch, Archiv, Monarchie, Oligarchie, Anarchie,
Hierarchie, Patriarch, Arch-Bishop, Archangel.
Das Wort archae bedeutet:
1) Anfang, Beginn, Anfangspunkt, Ursache, erste Veranlassung,
(phil.) Prinzip.
2) Anführung, Herrschaft, Obrigkeit
3) Reich, Gebiet, Statthalterschaft
4) Ur-Grund, Wesensgrund
8.4.10.3. Die Suche nach der Archae
Das Bestreben der vorsokratischen Philosophen richtete sich
auf die Nennung einer Ursubstanz, aus der alle Dinge der faßbaren Welt
entstanden sein sollten. Hier schieden sich somit die Geister westlichen und
östlichen Denkens. Die westliche Philosophie blieb in der Folge dem
Substanzbegriff verhaftet. Man versuchte, wahlweise das Wasser, das Feuer, oder
andere Elemente zur Ursubstanz zu erklären. Es könnte scheinen, als
ob die Griechen der damaligen Zeit eine Art naiven Realismus als Grundlage ihrer
impliziten Erkenntnistheorie genommen hätten. Das "Seiende" des Parmenides
und einige Aussagen des Heraklit weisen darauf hin. Allerdings muß hier,
wie bei allen Deutungsversuchen der vorplatonischen Zeit, sehr darauf geachtet
werden, daß wir nicht unsere heutigen Denkkategorien den damaligen
Begriffen aufzwingen. Daher auch die oben genannte Differenzierung der
griechischen Sprache. Wenn Heraklit sagt: "Feuer ist vernunftbegabt" so hatte
er sicher keine naive Vorstellung von dem Herdfeuer als intelligent, sondern er
bezog sich auf eine Tradition von mindestens einer Million Jahren in der Archae
des Menschengeschlechtes, während der das Feuer das wesentliche Kultobjekt
war. So gesehen, ist die Feueranbetung der Zoroastrischen Religion der letzte
Überrest dieses ältesten Kultus der Menschheit. Das Feuer als
quasi-autonomer Prozess, der sich aus seiner eigenen Dynamik ernährt, hat
Eigenheiten, die es tatsächlich sehr in die Nähe von Intelligenz
rücken.
[114]As far as I gather,
project Perseus has collected the materials. Now one only needs to get
them.
[115]Es gab, um das
Übel voll zu machen, zwei Dionysiosse, von denen er schreibt. Ich
fühle mich versucht, einmal die Geschichte von "Dion und seinem Ysios" zu
schreiben. Denn dieses Rührstück is ohne Zweifel genau ein Versatz der
uralten griechischen Spaltung des Dionysischen und Apollinischen. Wobei
natürlich Plato der Vertreter des Apollinischen ist, und der Erzfeind des
Dionysischen. Dies vor allem in seiner Geringschätzung alles Leiblichen,
und, oh-Gott-bewahre, alles Geschlechtlichen. Und wenn schon geschlechtlich,
dann nur mit der Araete, also mit Männern. Dann dient es wenigstens einem
höheren Ziel. Plato jedenfalls mochte am liebsten den "Dion ohne seinem
Ysios".
Plato gibt uns selber die Antwort auf diese Frage, wenn auch
indirekt.
Das Happy-End eines jeden Hollywood-Schinkens besteht darin,
daß der Held seine dumme Pute dann endlich heiratet - womit der Film
endet. Was sich jeder dazu denken kann, ist daß er dann sofort mit ihr
daran geht, viele ebenso süße wie dumme Kinderchen zu zeugen, auf
daß es da noch eine Generation von Helden und Heroinen gibt, die in diesen
Filmen auftreten können. Und es muß immer genügend Leute geben,
die sich solche Filme ansehen, damit sich die Anstrengungen der Filmproduzenten
auch ausreichend rentieren - so daß dieses Helden- und Schurken-Spiel bis
in alle Ewigkeit weitergespielt wird.
Timaios zeigt uns nicht das Ende, sondern wie alles anfing.
Und wenn wir dann das Ende vom Anfang aufschlagen, finden wir allen andere als
ein Happy End, nämlich die gar grausliche Mär, wie die
Geschlechtlichkeit und die Frauen entstanden. Und nun muß man sich
garnicht mehr wundern, warum die Heldinnen in den Hollywood-Schinken so dumm
sind. Sie haben eben Timaios gelesen:
Darum ist auch bei den Männern die Natur der
Geschlechtsteile ungehorsam und selbstherrlich geworden wie ein der Vernunft
nicht gehorchendes Tier und versucht, durch ihre wütenden Begierden alles
zu beherrschen. Aus eben denselben Gründen aber wird andererseits bei den
Frauen das, was man Gebärmutter und Uterus nennt und was ein auf
Kindererzeugung begieriges Lebewesen in ihnen ist, wenn es entgegen seiner Reife
lange Zeit ohne Frucht bleibt, unwillig und nimmt es übel, irrt
allenthalben im Körper umher, versperrt die Durchgänge der Atemluft,
läßt das Atmen nicht zu, bringt die Frauen in äußerste
Ratlosigkeit und führt zu mannigfachen Krankheiten, solange bis die
Begierde und der Trieb der beiden Geschlechter sie zusammenbringen, gleichsam
von den Bäumen die Frucht pflücken, in die Gebärmutter wie in
Ackerland auf Grund ihrer Winzigkeit unsichtbare und ungestaltete Lebewesen
aussäen und sie wieder gliedern, im Innern großziehen und hiernach
ans Licht bringen und so die Erzeugung der Lebewesen vollenden. So sind also
die Frauen und alles Weibliche entstanden.
Ein etwas simplistisches Beispiel soll hier zeigen, wie die
Fokussierung auf Gewußtes und Wißbares unter gleichzeitiger
Vernachlässigung des Nichtgewußten und nicht Wißbaren ein sehr
schiefes Bild eines betrachteten Gegenstandes bilden kann:
Die Zeit von der vermuteten Entstehung der biologischen
Spezies "homo xxx" vor ca. 2 Millionen Jahren bis zu etwa -7000, also die
weitaus längste Periode der menschlichen Existenz auf diesem Planeten, war
eine Periode reger menschlicher Aktivität und kulturellen Schaffens. 99%
der kulturellen Schöpfungen der damaligen Menschen waren entweder in Form
von Rhythmen, Gesängen, und Ritualen, Geschichten und Mythen, oder in Form
von Gegenständen, die aus verwitterbarem Material gemacht worden waren:
Holz, Pflanzenfasern, Fell, Leder, Federn. Weniger als 1 % der kulturellen
Schöpfungen waren aus haltbarem Material, Stein gemacht. Weil aber nur
diese steinernen Relikte zu uns herübergekommen sind, hat man dieses
Zeitalter "Steinzeit" genannt, und in weiten Kreisen (und nicht nur bei den
Laien) stellt man sich dieses Zeitalter als ein primitives vor, in dem die
Menschen dumpf dahinvegetierten, und gegen deren Zustand sich unser heutiges
technisches Zeitalter wie der Himmel auf Erden ausnehmen soll. Eine auch
einigermaßen aufrichtige Beschäftigung mit einem Thema wie diesem
muß immer mit dem Satz beginnen: "Wir können aufgrund der
Umstände der Dokumentation nur 0,1% der damaligen Umstände bestenfalls
nur grob und schemenhaft zu begreifen hoffen, und wir müssen daher eine
Leerstelle einrichten, die wir in allen unseren Überlegungen sichtbar
mitführen müssen, als sichtbares Zeichen, daß wir hier einen so
riesigen Bereich haben, den wir nie werden wissen können."
119ANM:DATIERUNG
Wir nehmen uns hier eine gewisse kreative Freiheit in der
Datierung. Die Wissenschaft ist sich insbesondere in der Datierung der
Östlichen Meister keineswegs einig. Buddha ist auch bis in die Zeit von
-300 zu datieren. (BIB:BECHERT82) Bei Zarathustra gehen die Datierungen bis auf
-1200. Dies würde ihn damit umso sicherer als den originalen Urheber des
Dualismus feststellen. Ebenso variabel ist die Gestalt und die Datierung des
Lao Tsu. Auch seine Existenz als historische Person ist keinesfalls erwiesen.
Wenn man sich auf geschichtliche Tatsachen zurückziehen will, so ist
vermutlich die wichtigste die Gründung des persischen Reiches und die
Einrichtung der Seidenstraße, die als völlig
überpersönliches kulturelles Medium die östlichen und westlichen
Kulturen verbunden hat.
Die Idee von Fokusperioden, in denen globale Entwicklungen
offenbar gehäuft auftreten, wurde nach Jaspers auch als Achsenzeit
bezeichnet. Wie fast alles in der Geschichte, ist auch eine solche
Bezeichnung abhängig von der Optik des Betrachters. Da aber im alten
Griechenland der geschichtliche Mensch sozusagen "erfunden" wurde, kann man hier
vielleicht mit größerer Berechtigung von einem Fokus der Geschichte
sprechen als in anderen Perioden.
Ein weiterer zu bemerkender Punkt ist die Notation der
Datierung vor unserer Zeitrechnung. Ich habe die mathematische Notation mit
negativen Zahlen anstelle der historisch üblichen Notation mit dem
Kürzel "v.Chr." aus folgenden Gründen gewählt: Erstens, weil ich
die Nullpunktsetzung für verfehlt halte. Der buddhistische
Kalender, der bei ca. -500 ansetzt, reflektiert paradoxerweise wesentlich
besser den Beginn der europäischen Geschichte (und damit der Kultur,
die die Geschichte erfunden hat), weil hier eben die Leute lebten, mit denen das
westliche Denken begann, wie ich oben ausführe. Zweitens: Es ist verfehlt,
die historische Datierung anhand von Personen machen zu wollen, deren Wirken
hauptsächlich mythischen Charakter hat. Das betrifft sowohl den Buddha,
als auch Issa ben Jussuf, den sie den Chrestos nannten. Man kann sogar sagen,
daß das größte Hindernis einer wirklichen Geschichtlichkeit
diese Fiktion des "v.Chr" und "n.Chr." ist, da hier mit aller Gewalt versucht
wird, einem Mythos geschichtliche Existenz anzudichten. Man soll dem Kaiser
geben, was des Kaisers ist, und dem Mythos, was des Mythos ist.
Whitehead sagt in "Modes of Thought", p. 65:
There is reason to believe that human
genius reached its culmination in the twelve hundred years preceding and
including the initiation of the Christian Epoch... Of course, since then, there
has been progress in knowledge and technique. But it has been along the path
laid down by the activities of that golden age. The history of Europe during
the past eighteen hundred years is the sequel.
Das arische Indien verlor die Schreibkunst, und erlernte sie
erst tausend Jahre später wieder. Es bestehen starke Parallelen zu den
dorischen Invasionen, dem griechischen "dunklen Zeitalter" von -1200 bis -900,
das auch von dem Verlust des kretisch/minoischen Linear-A/B Schriftsystems
begleitet war, und sich erst einige Jahrhunderte später durch
Übernahme des phönizischen Aleph-Beth Systems wieder in eine
Schriftkultur entwickelte.
Die Inder haben eine für uns moderne
Europäer, deren Hirn von Druckerschwärze verfinstert ist,
unbegreifliche Fähigkeit ausgebildet, ungeheure Textmassen
gedächtnismäßig zu überliefern... ganze Bibliotheken
uralter heiliger Texte sind durch die gedächtnismäßige
Überlieferung wort- silben- und lautgetreu, sogar im Akzent der einzelnen
Silbe genau, durch die Jahrtausende zäh bewahrt. Heute stirbt diese
Tradition aus!
Nicht in Stein gemeißelt haben die
arischen Inder ihre Geisteswerke, sondern, was länger dauert als
verwitternder Stein, in die Gehirne von hundert nachfolgenden
Generationen...
BIB:VEDA-LOMMEL, 26,27
Die wichtigsten Werke dieser Überlieferung sind die Veden
ab ca. -1200: Rg Veda, Sama Veda, Atharva Veda, Yajur Veda, dann die Brahmanas
und die Upanishaden ab -800 bis -500. "Veda" heißt "Wissen". Der Veda
war das Wissen der vedischen Kultur. Diese Tradition wurde trotz der
Möglichkeit, sie in der Devanagari-Schrift festzuhalten von den Brahmanen
bis zum heutigen Tag mündlich überliefert. All diese Hunderttausende
von Verszeilen "lebten" in den Geistern dieser Gelehrten. Leider haben wir das
zweifelhafte Privilieg, das Aussterben auch dieser Tradition heute mitzuerleben.
So notwendig auch die Abschaffung der Privilegien der Brahmanen im Kastensystem
nach gesellschaftlichen Kriterien auch war: Es entzog den Brahmanen die
ökonomische Basis, auf der sich diese Kaste allein dem Studium dieser (und
anderer) Überlieferungen widmen konnte, und ihre Söhne von
Kindesbeinen (ab ca. 5 Jahre aufwärts) exklusiv auf die Übermittlung
dieser Informationen hin trainieren konnte. In einem modernen Schulsystem, wie
es von den Engländern eingeführt wurde, ist das nicht mehr
möglich.
Der Rg Veda ist das älteste Literaturdenkmal in einer
indogermanischen Sprache. Er ist in einer prä-grammatischen Form des
Sanskrit verfaßt, die noch so viele Ähnlichkeiten mit der alten
arischen Sprache der Perser im Awesta, aufweist, so daß man sie als zwei
Dialekte derselben Sprache erkennen kann. Man kann es auch anders darstellen:
Sanskrit ist aus dem Rg Veda entstanden, und man muß erst den Rg Veda
verstehen, bevor man Sanskrit verstehen kann. Die epische Struktur der Veden
arbeitet außer-mental, oder über-mental.
Die Lyrik... stellt dies nicht dar und
erklärt es nicht, es steht überall als Ganzheit dahinter und ist
unzerlegbar in einzelne Aussagen...
BIB:VEDA-LOMMEL, p. 30
Über die brahmanische Theokratie gibt es noch folgendes
Zitat:
... it was not in the interest of the
Rishis to help forward the progress of speculative thought in its advance
towards philosophy; but rather to hedge their own religious conceptions with a
wall of sancticity, and to bring within this compass the wandering fancies of
the people... Extraneous thought and criticism was to them a source of danger,
they sought, therefore, to obscure the doctrines of their theology by a
multiplication of complicated allusions and dark riddles, with which they might
occupy the minds of their hearers...
BIB:VEDA-WALLIS, p. 6
Die Diffusion der arabischen Ziffern (arab: sifr=die Leere)
von Indien nach Europa ist eine Abenteuergeschichte für sich: Sie wurden
ca. +600 erfunden, gelangten dann noch vor der islamischen Eroberung nach
Syrien, wurden von den Christen aber nicht angenommen (vermutlich, weil in der
Bibel nichts von Ziffern stand) und erst einmal von den Arabern nutzbringend
eingesetzt. Die Null war zur Zeit noch nicht erfunden worden, das geschah erst
ca. 800. Die Araber übernahmen sie aber so schnell, wie sie in Indien
erfunden wurde. Gerbert von Aurillac (der spätere Papst Sylvester II)
gebrauchte als einer der ersten im Abendland die arabischen "siffres", aber ohne
die Null. Er handelte sich damit den Ruch eines Ketzers ein. Als Papst konnte
man ihn nur schlecht verbrennen. Erst gegen 1200 wurde dann das heutige
mathematischen Stellenwertsystem mit der Null in Europa bekannt.
Jede Kultur hatte ihren Exklusivitätsanspruch. Die Juden
betrachteten sich als das auserwählte Volk, weil sie den exklusiven Bund
mit ihren Gott geschlossen hatten, und die Griechen betrachteten sich wegen
ihrer Sprache als auserwählt. Der ganze Rest der Welt waren nur Barbaren,
Leute die nur unsinniges Zeug redeten.
Wie oben schon angedeutet, ist das Seiende eine linguistische
Kategorie. Es existiert nur in dem Universum der Sprache. Dieses Universum ist
aber nur mehr oder weniger mit dem erlebbaren Universum der Erde, des Wassers,
der Winde, und der Sonne und Sterne in Übereinstimmung zu bringen, egal
sehr uns die Naturwissenschaft von einer Identität zu überzeugen
versucht. Dies ist nämlich eine völlig unbegründbare
(metaphysische) Grundannahme. Und davon ausgehend, kann man es nicht mehr
deduzierend beweisen. Das ist der Grundfehler aller naturwissenschaftlichen
Ontologien.
Die Alternative ist also klar zwischen Bewußt und Sein.
Das Wort Bewußtsein ist eine Chimäre, ebenso wie das
Werden. Bewußt ist der Gegenpol von Sein. Daher wird in der
Sprache des Kenomén auch der Begriff Men verwendet (s.a.
ANM:MEN).
In Metaphysik Buch 7 behandelt Aristoteles die Aspekte des
Seienden genauer. Die Begriffe "ousia" und "to ti en einai" sind hierbei von
Relevanz.
Die Frage der wechselseitigen Einflüsse der griechischen
und indischen Philosophie ist lange diskutiert worden. Es ist allerdings
völlig fruchtlos, dies allein auf Basis der überlieferten
schriftlichen Zeugnisse tun zu wollen. Da man damals kein Copyright System
hatte, zitierte kein Schriftsteller, außer in Ausnahmefällen,
namentlich von wem er seine Gedanken übernommen hatte. Plato machte in
seinen Schriften genauso bedenkenlos einen Neuaufguß aller seiner
Vorgängerphilosophen, wie auch Aristoteles, der sie nur erwähnt, wenn
er einmal etwas unfreundliches über sie zu sagen hat. Da die Zahl der
lesbaren Bücher ohnehin überschaubar war, wußte sowieso jeder
der gebildeten Leser oder Zuhörer, von wem die Idee stammte, die der
jeweilige Philosoph dann vortrug.
Wie schon erwähnt, gab es sogar zu den Zeiten der
sumerischen Kulturen, also um -3000 bis -2000 schon rege Kontakte zwischen dem
dravidischen Indien und der orientalischen Welt. Dieser Kontakt wurde durch das
Perserreich dann wieder aufgenommen, und nahm nach den alexandrinischen
Feldzügen noch zu. Er riß das ganze Altertum hindurch nicht mehr ab.
Um die Zeitenwende verkehrten jährlich 120 Schiffe zwischen dem
römischen Imperium und Indien. Ganze Landstriche in Südindien wie
Madras lebten vom Handel mit dem römischen Imperium. Als der Neoplatonist
Julian Apostata zum Kaiser aufstieg, besuchten ihn viele indische Delegationen,
aus so weit entfernten Gebieten wie Ceylon und von den Malediven. Die
Pali-Schrift "Questions of Milinda" sollen ein Dialog mit Menander gewesen sein,
dem König eines griechischen Territoriums in Indien um ca. -100.
(BIB:PLAT-INDIA, p. 10-18)
Plotin hatte am Feldzug des Gordian gegen die Perser
teilgenommen, vernehmlich, um mit ihm bis nach Asien zu gehen, und so die
indischen Philosophen und Gymnosophisten kennenzulernen. Gordian war aber nicht
Alexander und wurde schon zu Beginn des Feldzuges vernichtend geschlagen und
ermordet. Plotin konnte nur mit knapper Not sein Leben retten.
Ich habe selber bei einem Besuch in Bangkok eine Buddhastatue
gesehen, die im schönsten hellenistischen Stil gefertigt war, mit
griechischem Faltenmantel und griechischen Gesichtzügen und allem
(Ghandarva-Stil). Wenn nun eine Buddhastatue im griechischen Stil nicht nur in
Indien sondern noch einmal 2000 km weiter östlich, in Thailand zu finden
ist, gibt es wohl keinen schlagenderen Beweis dafür, daß zu den
damaligen Zeiten sehr intensive kulturelle Kontakte bestanden haben. Eine
hellenistische Buddhastatue beweist eine gegenseitige Durchdringung
östlicher und westlicher Denksysteme besser als 1000 Seiten gelehrte
Schriften. Der über Jahrtausende bewahrte Stilkanon der Buddhastatuen ist
nämlich identisch mit dem der antiken griechischen Plastiken: Die
Verkörperung des agathon im Bilde des Menschen. Die Buddhastatuen
sind sichtbare und jedem, auch den Ungebildeten und Analphabeten, greifbare
Zeugnisse des agathon. Wer diesen Kanon kennt, versteht in allen Kulturen
und zu allen Zeiten diejenigen, die sich mit diesem Kanon ausdrücken. Es
hatte also kaum einer Reise Plotins nach Indien bedurft.
Die Historiker haben sich lange und intensiv darüber
gestritten, warum Kulturen untergehen, so z.B. das große Werk von Spengler
"Der Untergang des Abendlandes". Meine Erklärung für den Untergang
der Kulturen ist diese: Eine Kultur tendiert dazu, ein semantisches Universum
zu errichten, das im Verlaufe der Reifung der Kultur immer komplexer (barocker,
byzantinischer, aztekischer, oder brahmanischer) wird. In den alten Kulturen
waren es die Priesterschaften, die dieses Wissen im Gedächtnis hielten.
Natürlich mußten all die Priester, die ihr ganzes Leben darauf
verwandten, dieses Wissen zu erlernen, zu erhalten, anzuwenden, und zu
tradieren, auch irgendwie ernährt werden. Also wurde ein immer
größerer Anteil der ökonomischen Energie einer Kultur in den
Unterhalt der Priesterschaften kanalisiert. Heute sind es nicht die Priester,
sondern die Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, und
Wissenschaftler unserer Gesellschaft, die die Hauptmasse der
Produktivkräfte der Gemeinschaft für sich aufbrauchen, nur um den
ungeheuren Wust der Gesetzeswerke und wissenschaftlichen Daten irgendwie zu
handhaben. Jede Generation von Priestern (oder Ärzte und Wissenschaftler)
produziert aber immer noch mehr Gesetzestexte, Vorschriften, und Wissensdaten,
so daß die Last des zu Lernenden und Anzuwendenden immer größer
wird. Solange, bis das System unter seiner eigenen selbstgeschaffenen Entropie
zusammenbricht. Früher warteten natürlich immer die
Steppenvölker in den Randgebieten der Imperien: Die Indo-Arier, die
Perser, die Germanen, die Mongolen. Heute gibt es keine unerschlossenen
Steppenvölker mehr, heute kommt der Zusammenbruch von innen.
Der russische Indologe Stcherbatsky hat Shunyata
konsistent mit Relativität übersetzt. Siehe: BIB:BUDDH-STCH