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11. Die europäische Mönchstradition und die
Genesis des Turingschen Menschen

David Bolter hat in seinem Buch "Turing's Man" (Der Digitale Faust, 1990) ein Bild des neuen Menschen des Computerzeitalters gezeichnet, den man im Sinne Gotthard Günthers auch als den ersten Vorläufer einer neuen Rasse des transklassischen Menschen bezeichnen kann. Hier handelt es sich wohl um die Ausbildung eines Menschentyps, wie er vor allem in Kalifornien unter dem Einfluß der modernen Technik, und des neuen Mythos der SciFi entsteht, der sich ja in keiner Weise an der althergebrachten metaphysischen Tradition der alten Welt orientiert. [185] Diese neue Rasse ist ahistorisch, wenn nicht sogar anti-historisch. Die Entwicklung wurde von einer ursprünglich sehr kleinen Gruppe getragen, von Menschen, die wie Steve Jobs, Bill Gates, und viele Mitstreiter, schon als halbe Kinder mit dem Computer vertraut wurden, und diesen in einer völlig anderen Weise kennenlernten, als es zum Beispiel bei Informatikstudenten passiert, die ersteinmal Numerische Mathematik büffeln dürfen, bevor sie an die Maschine gelassen werden. Heute ist diese Gruppe der "Computer-Kids" wesentlich größer, aber ihre Chance, die Geschicke der Industrie zu bestimmen, vermindert sich in dem Maße, wie diese Industrie zu einem Großkapitalsystem auswächst, in dem die Mechanismen des Kapitals wie bei allen anderen Industrien beherrschend sind, und die Coca-Cola Manager das Geschehen bestimmen. Ob und inwieweit Bolters Projektion des Turingschen Menschen, oder sonst eine, bisher weder geplante noch gedachte, letztlich den Gang der Geschichte weiterbestimmten wird, ist abzuwarten.

Der Turingsche Mensch hat kein Gefühl für den historischen oder intellektuellen Kontext seiner Arbeit. Er neigt dazu, in der Vergangenheit eine unbestimmte Ausdehnung der technischen Gegenwart zu sehen.
Bolter (1990) , 275

11.1. Die historischen Wurzeln des Turingschen Menschen

Will man den Turingschen Menschen verstehen, so muß man sich für das Handwerk des alten Griechenland und Rom (von der Bronzezeit bis etwa zum 5. Jahrhundert n.Chr.) ebenso interessieren, wie für das spätere Maschinenzeitalter in Westeuropa und Nordamerika. Gewiß, Wissenschaft und Technik der industriellen Revolution haben die technischen Errungenschaften hervorgebracht (wie etwa Elektrodynamik und Werkzeugmaschinenbau), auf welchen die heutige Entwicklung des Computers basiert. Dazu trugen Wissenschaft und Handwerk des Altertums nicht unmittelbar bei. Die Erfahrung des alten Griechenland und Rom ist viel weiter von unserer entfernt, doch in bestimmter Hinsicht liegt in dieser Entfernung auch ihr Wert. Zwar waren die Alten nicht besonders erfindungsreich, was ihr Handwerk und ihre Werkzeuge angeht, doch ihre Literatur zeichnet sich durch eine phantasievolle Reaktion auf die Technik aus. Paradoxerweise führen einige Aspekte der Elektronik weg vom Denken der nahen Vergangenheit und näher an die Welt der Antike. In mancher Hinsicht ist das Zeitalter des Computers eine Rückkehr ins Zeitalter der Töpferscheibe.
Bolter (1990) , 29

11.2. Das symbolische Universum des Computers

@:SCH
Für den Programmierer löst sich der heroische Kampf gegen die Natur, der die Technik des Abendlandes zumindest seit dem Mittelalter kennzeichnete, in einen harmlosen Streit auf, bei welchem der Gegner weniger die konkrete Welt selbst ist als vielmehr die fast metaphysischen Grenzen des elektronischen Universums. Dieses Universum ist teils natürlich (schließlich besteht es aus Elektronen), teils künstlich (als Wissenschaft der symbolischen Logik). Der Programmierer wird mit der Dichotomie von Vernunft und Notwendigkeit konfrontiert, betrachtet jedoch die ihm von der Notwendigkeit auferlegten Grenzen gelassener. Vielleicht wird sich der zu schreibende Schöpfungsmythos mit einem Hohen Programmierer als Schöpfer-Gott wesentlich von den griechischen und christlichen Mythen unterscheiden, ebenso wie von jenen der Aufklärung und des Marxismus. Der Programmierer-Gott erschafft die Welt nicht sofort und ein für alle Mal, sondern immer wieder von neuem, indem er ihre Bausteine so umstellt, daß sie zu jedem Schöpfungsprogramm passen. Diese Welt läuft dann wie ein Programm ab, bis zum Schluß oder zu einem Wirrwarr; dann wird die Tafel abgewischt, und ein neues Spiel beginnt.

Diese Beschreibung paßt ziemlich gut zur Art, in der die üblichen Mythen der modernen Physik entstehen. Der Kosmos begann mit einer großen Explosion, und jetzt spaltet sich die ganze Materie mit stets abnehmender Geschwindigkeit. Eines Tages könnte sie haltmachen, sich zurückbilden und in einem vernichtenden Kollaps enden. Dann entstünde vielleicht ein neuer Kosmos. Selbstverständlich hat Elektrotechnik mit der Aufstellung dieser auf der Astronomie und der Quantenphysik beruhenden Theorie nichts zu tun, doch die vom Computer angeregte Vorstellung von Kreativität könnte eine Hilfe sein, um die Einstellung der modernen Welt gegenüber den Mutmaßungen der Physiker zu definieren. Meist waren die früheren abendländischen Denker zu ernst, um die Welt als ein aus der Vorstellung eines spielerischen Gottes erwachsenes Spiel zu betrachten, doch östliche Philosophen scheuten nicht davor zurück. Eine solche Auffassung würde einen grundsätzlichen Wandel bedeuten, das Ende des Glaubens an den unendlichen Fortschritt und an das unendliche Streben der abendländischen Seele, und ein neues Denkmodell für den Einzelnen und die Gesellschaft könnte entstehen.
Bolter (1990), 224,225

11.3. Programmieren und Glasperlenspiel

Der Computer fördert das Probieren, das Spielen mit den elektronischen Möglichkeiten, so daß man kaum der Versuchung widerstehen kann, Programmieren als das "Spiel aller Spiele" zu betrachten. Schließlich ist es auch ein den Regeln der endlichen Automaten und den Grenzen der elektronischen Bauteile unterworfenes "Turing-Spiel". Im Laufe seiner Arbeit entwickelt der Programmierer neue Regeln, welche die zulässigen Datenstrukturen und deren Verarbeitung bestimmen. So ist jedes Programm ein Spiel im Spiel. Wie der Spieler, der die Figuren auf dem Schachbrett bewegt, kontrolliert der Programmierer die ihm zur Verfügung stehenden elektronischen Mittel vollkommen und infolgedessen beinahe desinteressiert.
Bolter (1990), p.223

"Der Programmierer... ist der Schöpfer von Welten, deren alleiniger Gesetzgeber er ist. Gewiß gilt dies auch für den Entwerfer jedweden Spiels ... (Programme) gehorchen bereitwillig den Gesetzen und stellen ihr gehorsames Verhalten voll zur Schau. Kein Dramatiker, kein Bühnendirektor, kein Kaiser, wie mächtig sie auch gewesen sein mochten, beherrschte je mit solch uneingeschränkter Macht eine Bühne oder ein Schlachtfeld und konnte solch unerschütterlich pflichtbewußten Schauspielern oder Truppen Befehle erteilen"
Weizenbaum (1976), [186] 115

Welche schöpferische Kraft zeigt sich in einem gut gespielten Spiel? Wir sind wahrscheinlich erst seit kurzer Zeit bereit, das Spiel als eine schöpferische Tätigkeit anzuerkennen. Obwohl wir den erzieherischen Wert des Spiels für Kinder nicht leugnen wollen, liegt das Spielen immer zwischen ernster technischer, schöpferischer Tätigkeit (Maschinen bauen, die Arbeit leisten) und hoher Kunst, zwischen Arbeit und Freizeit. Wir erholen uns durch Spiele, um zur Arbeit zurückkehren zu können, und wahrscheinlich tun wir damit das Richtige. Dagegen besteht die Arbeit des Programmierers im Spielen. Seine Kreativität ist jedoch begrenzter als jene, die wir vom Künstler erwarten...
Bolter (1990), 223

11.4. Das Leibniz-System und Symbolator-Denken

Ich möchte die Diskussion des Transklassischen Bewußtseins anhand der Überlegungen von Bolter und meiner eigenen Erfahrungen weiterführen. Ich kann eine auffallende Parallelität zwischen Bolters Gedanken und den eigenen Erfahrungen feststellen. Ich war auf meiner eigenen Suche nach den Wurzeln des transklassischen Bewußtseins bei den selben Personen und Abläufen angekommen: Leibniz und seine Characteristica Universalis, Giordano Bruno , Benjamin Lee Whorf und die Theorie von der Entwicklung des Denkens und der Sprachen. Es gibt allerdings auch einige sehr wesentliche Unterschiede, die es lohnt, herauszuarbeiten.

11.5. Die metaphysische Seite des Programmierens

Zunächst läßt sich bemerken, daß gewisse psychische Erscheinungen, die in der Literatur als Hackertum bezeichnet werden, nicht notwendigerweise so zu interpretieren sind, wie Bolter und Weizenbaum es sehen. Bolter übernimmt im Wesentlichen die Ansicht Weizenbaums von der Psychopathologie des Hackertums (ANM:INZEST [187] ). Etwas eingehender wird in dem Buch "Hackers" (Levy 1984) versucht, die Persönlichkeit des Hackers auf noch anderen Ebenen zu erforschen. Die von Levy beschriebene Hacker-Ethik (so. z.B. in dem Kapitel zu Richard Stallmann) entspricht in vielen Aspekten den eingangs genannten Wesenszügen des Mentaten. Aber alle diese Ansätze verstehen nicht die metaphysiche Komponente, sie übersehen die völlig faustische Seite des Hackers, und damit des Turingschen Menschen. Bolter stellt das so dar:

In der Tat kann die hypnotische Wirkung des Programmierens eine Art "Süchtigen" erzeugen, den Joseph Weizenbaum als "Hacker" bezeichnet, einen manischen Programmierer, für den die Tätigkeit selbst wichtiger ist als das Problem: "Überall, wo Rechenzentren eingerichtet wurden," schreibt er, "kann man intelligente junge Männer mit zerzaustem Haar und leuchtenden, eingesunkenen Augen vor einem Computer sitzen sehen, mit angespannten Armen auf den Augenblick wartend, in dem sie ihre startbereiten Finger auf die Knöpfe und Tasten loslassen dürfen, auf welche sie ihren Blick mit der gleichen gespannten Aufmerksamkeit heften, wie der Spieler auf den rollenden Würfel. Sind sie nicht in dieser Stellung angewurzelt, entdeckt man sie an einem Tisch , über einen Stoß ausgedruckter Blätter gebeugt, wie besessene Gelehrte beim Studium eines kabbalistischen Textes" (Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, S. 116).

Der Hacker verbringt Stunden mit der Verfeinerung von Programmen ohne wirklichen oder einleuchtenden Zweck. Alchimist oder Zauberer des 20. Jahrhunderts, ist er von der Wichtigkeit seiner neuen Idee überzeugt, ohne klar einsehen zu können, wohin sie führen soll. So kann er nur solipsistisch mit den Systembausteinen spielen, in der Hoffnung, beinahe zufällig etwas von großer Bedeutung zusammenzubasteln. Jeder Programmierer kennt die Faszination des elektronischen Spiels als Selbstzweck, den Reiz der Suche nach der korrekten und zugleich eleganten Lösung. Der Hacker karikiert eine wirklich positive Programmierereigenschaft, das Streben, ein sauberes, logisch zusammenhängendes Programm zu schreiben.
Bolter (1990), 209

Bolter programmiert offenbar nicht selber, und muß sich in seinen softwaretheoretischen Ausführungen auf die Meinung von Experten verlassen. Und so ist seine Darstellung charakeristisch für die Meinung des Computer-Managements und der akademischen Informatik. Wie anhand des folgenden Zitats gezeigt werden kann, entspricht die alchimistische Tätigkeit des Hackers dem faustischen Muster der abendländischen Tradition identisch. Es gibt strukturell keinen Unterschied zwischen den frühchristlichen Denker/Asketen-Mönchen in ihren Zellen und Klausen, und den Hackern der 70er/80er Jahre an ihren Terminals. Hier wie dort wurde in der Geschichte der Menschheit ein geistiges Tor aufgestoßen, und die dieses Tor damals öffneten, ließen sich zwar von einer extensiven Religiosität leiten, aber ihr intensives Vorgehen war forschend und entdeckend. Heute mag der extensive Forscherdrang der Hacker äußerlich wenig mit Religion zu tun haben, aber es ist unverkennbar, daß es sich auch hier um eine intensive Entdeckungsreise des Geistes handelt, eines Geistes, der auf sich selbst reflexiv projizierend wirkt. Wenn man auf der Suche nach etwas grundsätzlich Neuem ist, dann kann man eben nicht sehen, wohin die Suche führt. Und wenn man es vielleicht ahnt, kann man es kaum jemandem erklären, der aufgrund seiner feststehenden Meinung von der Natur der Dinge sich nie dazu herablassen würde, eine grundsätzlich andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Gotthard Günther hat dies so aus Spengler zitiert:

11.5.1. Hacker, Mönche und die Kirche der Informatik

@:HACKER_MOENCHE
Entdecken, das was man nicht sieht, in die Lichtwelt des inneren Auges ziehen, um sich seiner zu bemächtigen, das war vom ersten Tage an ihre hartnäckigste Leidenschaft. Alle ihre großen Erfindungen sind in der Tiefe langsam gereift, durch vorwegnehmende Geister verkündigt und versucht worden, um mit der Notwendigkeit eines Schicksals endlich hervorzubrechen. Sie waren alle schon dem seligen Grübeln frühgotischer Mönche ganz nahe gerückt. Wenn irgendwo, so offenbart sich hier der religiöse Ursprung alles technischen Denkens. Diese inbrünstigen Erfinder in ihren Klosterzellen, die unter Beten und Fasten Gott sein Geheimnis abrangen, empfanden das als einen Gottesdienst. Hier ist die Gestalt Fausts entstanden, das große Sinnbild einer echten Erfinderkultur... Das bedeutet der Traum jener seltsamen Dominikaner wie Pertrus Peregrinus vom Perpetuum Mobile, mit dem Gott seine Allmacht entrissen gewesen wäre. Sie erlagen diesem Ehrgeiz immer wieder; sie zwangen der Gottheit ihr Geheimnis ab, um selber Gott zu sein. Sie belauschten die Gesetze des kosmischen Taktes, um sie zu vergewaltigen, und sie schufen so die Idee der Maschine als eines kleinen Kosmus, der nur noch dem Willen des Menschen gehorcht. Aber damit überschritten sie jene feine Grenze, wo für die anbetende Frömmigkeit der anderen die Stunde begann, und daran gingen sie zugrunde, von Bacon bis Giordano Bruno. Die Maschine ist des Teufels: so hat der echte Glaube immer wieder empfunden.
Guenther (1980) , p.223

Die grenzenüberschreitende spekulative Forschertätigkeit eines Giordano Bruno war den damaligen Machthabern suspekt und eine tödliche Bedrohung, genauso wie die Datenreisen der heutigen Hacker in unerlaubte Paßworte, mit denen sie die Gesetze des Computer-Establishment unterwandern und untergraben, und mit ihrem Wissen die Schranken des Computermanagements überwinden. Deshalb werden die Hacker heute auf dieselbe Weise gesehen, wie damals Giordano Bruno. Hackertum ist Computer-Häresie. "Der Hacker karikiert eine wirklich positive Programmierereigenschaft, das Streben, ein sauberes, logisch zusammenhängendes Programm zu schreiben." Dieser Satz aus dem obigen Zitat von Bolter ist natürlich die Meinung des Managements (das den Programmierer dafür bezahlt, daß er nur von der Kirche der Informatik abgesegnetes tue).

11.5.2. Programmierung und Selbst-Reflexion

Die metaphysische Komponente des transklassischen Denkens kann sich daher wohl nur außerhalb der strikten Regeln des Computer-Managements entfalten. Ich habe mir in den Jahren von 1983 bis 1992 mit dem LPL System ein privates symbolisches Universum geschaffen, in dem ich völlig unabhänig von irgendwelchen Management-Entscheidungen der alleinige Gott und Herrscher war. In dieser Zeit lernte ich vieles, das zum Teil ähnlich war, dann aber wieder ganz anders, als sie Bolter in seinem Programmierer-Schöpfungsmythos beschrieben hat. Ich habe es in einem Artikel so dargestellt:

Ein solches Software-System stellt eine Reflexion auf die eigenen Wissens- und Denk-Muster dar. Es ist, wenn es einmal einen gewissen Umfang gewonnen hat, praktisch ein eigenes Universum für sich. Es ist auch für seinen Schöpfer nicht mehr überschaubar, und gewinnt völlig andere Qualitäten: Es wird Er-Leb-bar. D.h. die Re-Aktionen des Systems, die eigentlich völlig deterministisch aufgrund der programmierten Logik ablaufen, sind aufgrund der unüberschaubaren Menge der möglichen internen Zustände, nicht mehr exakt planbar, und gewinnen eine aktive Qualität. Der menschliche Benutzer des Systems, der Operator, erhält in seinem Erleben den Eindruck der Interaktion mit einem eigenständigen, mehr oder weniger unabhängigen Wesen, eben einem Aktor.

Da das geschaffene System nach den Gesetzmäßigkeiten der Denkstruktur des Schöpfers angelegt ist, ist es ein Spiegelbild, und zwar ein aktives Spiegelbild des Schöpfers. Dies nimmt ein altes Thema der Mythologie in neuer Form wieder auf. Und somit kann der Operator durchaus epische Dramen wahrhaft homerischer Qualität an einem Nachmittag aus- und durch-leben. Mal ist er der Blitze-schleudernde Zeus, der in seinem Universum nach belieben schaltet und waltet, hier kreiert, dort instanziiert, da alloziert und dort wiederum deletet und neu formatiert. Mal ist er der kühne Herkules, der mit heroischer Tat-Energie den Reset-Knopf betätigt, um den Augias-Stall auszumisten, und dann wieder ist er der tragische Laokoon, der von den Schlangen-Schlingen der sich gegenseitig aufrufenden Subroutinen verschlungen wird. [188]

11.5.3. Das Software-System als Virtual Reality

@:VIRTUAL_REALITY
Wie aus diesen Beschreibungen und von Erfahrungen anderer Programmierer deutlich ist, erkennen wir hier das Auftreten von eigenständigen Realitätssystemen. Diese stehen an Wirklichkeitsgehalt der Konsensus-Realität, also dem Realitätssystem, das unsere physisch erlebte Umwelt darstellt, kaum noch nach. Dieser Aspekt wird heute unter dem Oberbegriff "Virtual Reality " (VR) in größerem Stil umgesetzt. Es ist dabei aber deutlich, daß die "Accessories", die physikalischen Metaphern, mit denen man heute versucht, VR umzusetzen, eher ein Umweg sind, da die körperliche Metapher des drei-dimensionalen Raumes eben nur eine unter vielen möglichen ist - wenn sie auch als Einstiegsmetapher für die Mehrheit der Menschen unserer Kultur die geeignete und bevorzugte darstellt. Für die weitere Diskussion soll hier festgehalten werden, daß VR zwar objektiv in dem Sinne ist, als es sich um eine Computersimulation handelt, andererseits das Erlebnis der Realität, also das für den Menschen wahrnehmbare Phänomen (im Sinne der Phänomenologie ) aber rein der subjektiven Kategorie angehört. Das heißt: Der Computer erzeugt ein Ensemble von Sinnes-Stimulatoren (Cues), die nur in einer bestimmten systematischen Weise untereinander verknüpft sein müssen, um in dem Menschen sofort das Gefühl zu erwecken, er bewege sich in einer "objektiven" Realität, was objektiv-empirisch überhaupt nicht der Fall ist. Erstaunlich ist, daß es in keiner Weise nötig ist, das komplette Spektrum sinnlicher Wahrnehmungen aus der physikalischen Umwelt zu erzeugen, um diese Illusion zu erlangen. Es genügen einige rudimentäre Markierungen, aber eine genaue Relation muß unbedingt vorhanden sein: die Reaktions-Zeitkonstante. Wenn das System zu große Verzögerungen enthält, tritt ein merkwürdiger Effekt auf: die VR-Sickness. "Realität" ist eine Funktion von Latenz-Zeiten. Dies ist auch der Grund, warum Filme, die auf Folgen von Einzelbildern bestehen, die mit mehr als 30 Bildern pro Sekunde gezeigt werden, die Illusion von realer Bewegung erzielen.

All diese Erkenntnisse wiederholen aber nur im neuen Gewande die Inhalte einer uralten Wissenstradition der Menschheit, die in Europa früher als Alchimie bezeichnet wurde, und aus den indigenen Kulturen als Schamanismus bekannt ist. Besonders Carlos Castaneda hat mit seinen Geschichten/Berichten [189] ausführliche Darstellungen von parallelen oder alternativen Realitäten gemacht, die in vielerlei absonderlichen (und keinesfalls logischen oder hierarchischen) Konstellationen mit der Konsensus-Realität stehen. [190]

11.6. Der Symbolator als Erweiterung des Nervensystems

Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, daß der Symbolator [191] wesentliche Veränderungen in den Denk- und Arbeitsstrukturen des Menschen bewirken kann, der ihn benutzt, sich damit aber gleichzeitig den Gesetzen des Denkzeugs unterwirft. Bevor ich einen Computer als kreatives Werkzeug zur Verfügung hatte, hatte ich keinerlei Neigung zum Schreiben, da mir der mechanische Prozeß der Handschrift oder per Schreibmaschine zu mühsam war. Erst durch die Korrektur- und Umorganisations- Möglichkeiten der Textverarbeitung konnte ich mich von der Mühsal des Schreibens genügend befreien und meine Experimente machen. Das erste, was ich tat, als ich 1983 einen Microcomputer ganz zu meiner eigenen Verfügung hatte, war ein Buch zu schreiben: "Werkzeuge für den Aufbruch", dessen Fortsetzung das "Leerstellendenken" ist. [192] Es war mir sofort klar, daß ich hier das Mittel für einen "geistigen Bootstrap" zur Verfügung hatte, mit dem ich mich selbst aus meiner damaligen Position in eine andere hieven konnte (am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen, wie es Münchhausen formuliert hatte).

In der Folge entwickelte ich eine Art Symbiose mit dem Computer. Ich gelangte im Laufe von zehn Jahren dahin, daß ich mir mit dem Leibniz-System eine eigene, komplette, und eigenständige Software-Technologie schuf. Ich habe den Computer zu einer Erweiterung meines Nervensystems gemacht. Diese Eigenschaft scheint darauf zu beruhen, daß es gelingt, Reiz-Reaktions-Feedback-Zyklen zwischen der Maschine und dem Operator einzurichten, die innerhalb der Latenz-Zeit des Nervensystems liegen.

( Weiteres Material dazu in: "The Symbolator Reports: Project Memosys" )
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/symbol.htm


[185] Wie Howard Bloom darstellt, kann die Bildung einer neuen Menschen-"Rasse" innerhalb von sehr kurzer Zeit auftreten. Siehe Howard Bloom: "Instant Evolution", (URL) http://www.howardbloom.net
Individuen dieser Sub-Rassen können sich (wie bei den Hunden) zwar noch mit Individuen anderer Rassen paaren und Nachkommen zeugen, aber es bilden sich Endogamie-Gemeinschaften, die erstaunlich stabil sind. Natürlich muß man heute aufgrund der allgemeinen ideologischen Vergiftung den "Rasse"-Begriff im Zusammenhang mit Menschen mit äußerster Vorsicht benutzen, und eine bloße Erwähnung in einem wissenschaftlichen Kontext ist aus Gründen der "politcal correctness" schon für sich allein Grund genug, um mit der professionellen Fatwa einen Wissenschaftler aus der Kollegengemeinde auszstoßen und zur "persona non grata" zu erklären. (Der sog. Kalte Giordano-Bruno-Effekt).
Dazu noch ein neuer Literaturhinweis nach einer email vom 23.12.01, von Allan L Combs <combs@bulldog.unca.edu> Reply-To: fis@listas.unizar.es
N. Katherine Hayles: HOW WE BECAME POSTHUMAN: VIRTUAL BODIES IN
CYBERNETICS, LITERATURE, AND INFORMATICS. University of Chicago Press.
"investigates the fate of embodiment in a an information age. Ranging
widely across the history of technology and culture, Hayles relates three
interwoven stories: how information lost its body, that is, how it came to
be conceptualized as an entity separate from material forms; the culture
and technological construction of the cyborg; and the dismantling of the
liberal humanist subject in cybernetic discourse"
[186] Weizenbaum, J.: Computer Power and Human Reason, Freeman, San Francisco 1976
[187]ANM:INZEST
Die wunderbare Wortprägung Weizenbaums, vom inzestuösen Programmierer darf hier keinesfalls ausgelassen werden. Vermutlich hat Weizenbaum den in der Computerei so beliebten Ausdruck des "mindfucking" im Hinterkopf gehabt. Ob er wohl wußte, auf was für einen reichen "pay dirt" einer mythologischen Goldader er hier gestoßen war? Der "informatische Inzest" ist die mythologische Neufassung reinster Form der uralten Vorstellung vom Oruborus, der Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt. Auf menschliche Maße übertragen, erfordert dies fürwahr eine akrobatische Leistung. So hat es der "mindfucker" schon wesentlich leichter. In der Tat beinhalten viele alt-weltliche Schöpfungsmythen die Komponente eines sich selbst begattenden Gottes, und zwar ganz ohne pornographischen Hintersinn. (Siehe auch H.v. Dechend: "Hamlet's Mill").
[188] Goppold (1992m)
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/lpl07.htm
Goppold (1995b)
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/lpl11.htm
[189] Über die Geschichten/Berichte von Castaneda gibt es verschiedene Meinungen, ob sie entweder als als rein belletristisch oder zumindest basierend auf seinen persönlichen ethnographischen Forschungen zu interpretieren sind. Dies ist im Sinne der "Trickster"-Definition des Schamanismus durchaus positiv zu bewerten. Ein Schamane ist nach dieser Auffassung eben auch ein Schelm, der die Leute gern hinters Licht führt und ihnen Streiche spielt. Und der Schamane stellt keinerlei Anspruch wie unsere Priester oder Wissenschaftler, so etwas wie eine "einzig wahre, unumstößliche Wahrheit" darstellen zu wollen. Dies ist ganz und gar ein Konzept, eine Methode, und eine Erfindung der oben genannten Macht-Gruppen, die ja genau dadurch ihre Macht zementieren, daß sie die Menschen auf eine (und zwar die von ihnen lizensierte) Version der Welt festnageln wollen. Castaneda spinnt eben das Garn des Schamanen in unserer heutigen Zivilisation weiter, und setzt damit diese Tradition im neuen Gewande fort.
->: NEWAGE_SHAMAN, p. 10
[190] (URL) (CD_local) http://www.noologie.de/neuro01.htm
[191] "Symbolator" ist die Bezeichung für Computer in seinem Gebrauch als Bewußsteins-Erweiterungs-Instrument. Siehe auch:
Goppold (1995b)
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/lpl11.htm
Goppold (1995-2000)
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/symbol.htm
[192] Goppold (1994b): "Umrisse des Leerstellendenkens"


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