11. Die europäische Mönchstradition und die
Genesis des Turingschen
Menschen
David Bolter hat in seinem Buch "Turing's Man" (Der Digitale
Faust, 1990) ein Bild des neuen Menschen des Computerzeitalters gezeichnet, den
man im Sinne Gotthard Günthers auch als den ersten Vorläufer einer
neuen Rasse des transklassischen Menschen bezeichnen kann. Hier handelt
es sich wohl um die Ausbildung eines Menschentyps, wie er vor allem in
Kalifornien unter dem Einfluß der modernen Technik, und des neuen Mythos
der SciFi entsteht, der sich ja in keiner Weise an der althergebrachten
metaphysischen Tradition der alten Welt
orientiert.
[185] Diese neue Rasse ist
ahistorisch, wenn nicht sogar anti-historisch. Die Entwicklung wurde von einer
ursprünglich sehr kleinen Gruppe getragen, von Menschen, die wie Steve
Jobs, Bill Gates, und viele Mitstreiter, schon als halbe Kinder mit dem Computer
vertraut wurden, und diesen in einer völlig anderen Weise kennenlernten,
als es zum Beispiel bei Informatikstudenten passiert, die ersteinmal Numerische
Mathematik büffeln dürfen, bevor sie an die Maschine gelassen werden.
Heute ist diese Gruppe der "Computer-Kids" wesentlich größer, aber
ihre Chance, die Geschicke der Industrie zu bestimmen, vermindert sich in dem
Maße, wie diese Industrie zu einem Großkapitalsystem auswächst,
in dem die Mechanismen des Kapitals wie bei allen anderen Industrien
beherrschend sind, und die Coca-Cola Manager das Geschehen bestimmen. Ob und
inwieweit Bolters Projektion des Turingschen Menschen, oder sonst eine, bisher
weder geplante noch gedachte, letztlich den Gang der Geschichte weiterbestimmten
wird, ist abzuwarten.
Der Turingsche Mensch hat kein Gefühl
für den historischen oder intellektuellen Kontext seiner Arbeit. Er neigt
dazu, in der Vergangenheit eine unbestimmte Ausdehnung der technischen Gegenwart
zu sehen.
11.1. Die historischen Wurzeln des Turingschen Menschen
Will man den Turingschen Menschen
verstehen, so muß man sich für das Handwerk des alten Griechenland
und Rom (von der Bronzezeit bis etwa zum 5. Jahrhundert n.Chr.) ebenso
interessieren, wie für das spätere Maschinenzeitalter in Westeuropa
und Nordamerika. Gewiß, Wissenschaft und Technik der industriellen
Revolution haben die technischen Errungenschaften hervorgebracht (wie etwa
Elektrodynamik und Werkzeugmaschinenbau), auf welchen die heutige Entwicklung
des Computers basiert. Dazu trugen Wissenschaft und Handwerk des Altertums nicht
unmittelbar bei. Die Erfahrung des alten Griechenland und Rom ist viel weiter
von unserer entfernt, doch in bestimmter Hinsicht liegt in dieser Entfernung
auch ihr Wert. Zwar waren die Alten nicht besonders erfindungsreich, was ihr
Handwerk und ihre Werkzeuge angeht, doch ihre Literatur zeichnet sich durch eine
phantasievolle Reaktion auf die Technik aus. Paradoxerweise führen einige
Aspekte der Elektronik weg vom Denken der nahen Vergangenheit und näher an
die Welt der Antike. In mancher Hinsicht ist das Zeitalter des Computers eine
Rückkehr ins Zeitalter der Töpferscheibe.
11.2. Das symbolische Universum des Computers
Für den Programmierer löst sich
der heroische Kampf gegen die Natur, der die Technik des Abendlandes zumindest
seit dem Mittelalter kennzeichnete, in einen harmlosen Streit auf, bei welchem
der Gegner weniger die konkrete Welt selbst ist als vielmehr die fast
metaphysischen Grenzen des elektronischen Universums. Dieses Universum ist teils
natürlich (schließlich besteht es aus Elektronen), teils
künstlich (als Wissenschaft der symbolischen Logik). Der Programmierer wird
mit der Dichotomie von Vernunft und Notwendigkeit konfrontiert, betrachtet
jedoch die ihm von der Notwendigkeit auferlegten Grenzen gelassener.
Vielleicht wird sich der zu schreibende Schöpfungsmythos mit einem Hohen
Programmierer als Schöpfer-Gott wesentlich von den griechischen und
christlichen Mythen unterscheiden, ebenso wie von jenen der Aufklärung
und des Marxismus. Der Programmierer-Gott erschafft die Welt nicht sofort und
ein für alle Mal, sondern immer wieder von neuem, indem er ihre
Bausteine so umstellt, daß sie zu jedem Schöpfungsprogramm passen.
Diese Welt läuft dann wie ein Programm ab, bis zum Schluß oder zu
einem Wirrwarr; dann wird die Tafel abgewischt, und ein neues Spiel
beginnt.
Diese Beschreibung paßt ziemlich gut
zur Art, in der die üblichen Mythen der modernen Physik entstehen. Der
Kosmos begann mit einer großen Explosion, und jetzt spaltet sich die ganze
Materie mit stets abnehmender Geschwindigkeit. Eines Tages könnte sie
haltmachen, sich zurückbilden und in einem vernichtenden Kollaps enden.
Dann entstünde vielleicht ein neuer Kosmos. Selbstverständlich hat
Elektrotechnik mit der Aufstellung dieser auf der Astronomie und der
Quantenphysik beruhenden Theorie nichts zu tun, doch die vom Computer angeregte
Vorstellung von Kreativität könnte eine Hilfe sein, um die Einstellung
der modernen Welt gegenüber den Mutmaßungen der Physiker zu
definieren. Meist waren die früheren abendländischen Denker zu ernst,
um die Welt als ein aus der Vorstellung eines spielerischen Gottes erwachsenes
Spiel zu betrachten, doch östliche Philosophen scheuten nicht davor
zurück. Eine solche Auffassung würde einen grundsätzlichen Wandel
bedeuten, das Ende des Glaubens an den unendlichen Fortschritt und an das
unendliche Streben der abendländischen Seele, und ein neues Denkmodell
für den Einzelnen und die Gesellschaft könnte
entstehen.
Bolter (1990), 224,225
11.3. Programmieren und Glasperlenspiel
Der Computer fördert das Probieren,
das Spielen mit den elektronischen Möglichkeiten, so daß man kaum der
Versuchung widerstehen kann, Programmieren als das "Spiel aller Spiele" zu
betrachten. Schließlich ist es auch ein den Regeln der endlichen Automaten
und den Grenzen der elektronischen Bauteile unterworfenes "Turing-Spiel". Im
Laufe seiner Arbeit entwickelt der Programmierer neue Regeln, welche die
zulässigen Datenstrukturen und deren Verarbeitung bestimmen. So ist jedes
Programm ein Spiel im Spiel. Wie der Spieler, der die Figuren auf dem
Schachbrett bewegt, kontrolliert der Programmierer die ihm zur Verfügung
stehenden elektronischen Mittel vollkommen und infolgedessen beinahe
desinteressiert.
Bolter (1990), p.223
"Der Programmierer... ist der Schöpfer
von Welten, deren alleiniger Gesetzgeber er ist. Gewiß gilt dies auch
für den Entwerfer jedweden Spiels ... (Programme) gehorchen bereitwillig
den Gesetzen und stellen ihr gehorsames Verhalten voll zur Schau. Kein
Dramatiker, kein Bühnendirektor, kein Kaiser, wie mächtig sie auch
gewesen sein mochten, beherrschte je mit solch uneingeschränkter Macht eine
Bühne oder ein Schlachtfeld und konnte solch unerschütterlich
pflichtbewußten Schauspielern oder Truppen Befehle erteilen"
Weizenbaum (1976),
[186]
115
Welche schöpferische Kraft zeigt sich
in einem gut gespielten Spiel? Wir sind wahrscheinlich erst seit kurzer Zeit
bereit, das Spiel als eine schöpferische Tätigkeit anzuerkennen.
Obwohl wir den erzieherischen Wert des Spiels für Kinder nicht leugnen
wollen, liegt das Spielen immer zwischen ernster technischer,
schöpferischer Tätigkeit (Maschinen bauen, die Arbeit leisten) und
hoher Kunst, zwischen Arbeit und Freizeit. Wir erholen uns durch Spiele, um zur
Arbeit zurückkehren zu können, und wahrscheinlich tun wir damit das
Richtige. Dagegen besteht die Arbeit des Programmierers im Spielen. Seine
Kreativität ist jedoch begrenzter als jene, die wir vom Künstler
erwarten...
Bolter (1990), 223
11.4. Das Leibniz-System und Symbolator-Denken
Ich möchte die Diskussion des Transklassischen
Bewußtseins anhand der Überlegungen von Bolter und meiner eigenen
Erfahrungen weiterführen. Ich kann eine auffallende Parallelität
zwischen Bolters Gedanken und den eigenen Erfahrungen feststellen. Ich war auf
meiner eigenen Suche nach den Wurzeln des transklassischen Bewußtseins bei
den selben Personen und Abläufen angekommen: Leibniz und seine
Characteristica Universalis, Giordano Bruno
, Benjamin Lee
Whorf
und die Theorie von der Entwicklung des Denkens und
der Sprachen. Es gibt allerdings auch einige sehr wesentliche Unterschiede, die
es lohnt, herauszuarbeiten.
11.5. Die metaphysische Seite des Programmierens
Zunächst läßt sich bemerken, daß gewisse
psychische Erscheinungen, die in der Literatur als Hackertum
bezeichnet werden, nicht
notwendigerweise so zu interpretieren sind, wie Bolter und Weizenbaum es sehen.
Bolter übernimmt im Wesentlichen die Ansicht Weizenbaums
von der Psychopathologie des Hackertums
(ANM:INZEST
[187]
).
Etwas eingehender wird in dem Buch "Hackers" (Levy 1984) versucht, die
Persönlichkeit des Hackers auf noch anderen Ebenen zu erforschen. Die von
Levy beschriebene Hacker-Ethik (so. z.B. in dem Kapitel zu Richard Stallmann)
entspricht in vielen Aspekten den eingangs genannten Wesenszügen des
Mentaten. Aber alle diese Ansätze verstehen nicht die metaphysiche
Komponente, sie übersehen die völlig faustische Seite des Hackers, und
damit des Turingschen Menschen. Bolter stellt das so dar:
In der Tat kann die hypnotische Wirkung des
Programmierens eine Art "Süchtigen" erzeugen, den Joseph Weizenbaum als
"Hacker" bezeichnet, einen manischen Programmierer, für den die
Tätigkeit selbst wichtiger ist als das Problem: "Überall, wo
Rechenzentren eingerichtet wurden," schreibt er, "kann man intelligente junge
Männer mit zerzaustem Haar und leuchtenden, eingesunkenen Augen vor einem
Computer sitzen sehen, mit angespannten Armen auf den Augenblick wartend, in dem
sie ihre startbereiten Finger auf die Knöpfe und Tasten loslassen
dürfen, auf welche sie ihren Blick mit der gleichen gespannten
Aufmerksamkeit heften, wie der Spieler auf den rollenden Würfel. Sind sie
nicht in dieser Stellung angewurzelt, entdeckt man sie an einem Tisch ,
über einen Stoß ausgedruckter Blätter gebeugt, wie besessene
Gelehrte beim Studium eines kabbalistischen Textes" (Die Macht der Computer und
die Ohnmacht der Vernunft, S. 116).
Der Hacker verbringt Stunden mit der
Verfeinerung von Programmen ohne wirklichen oder einleuchtenden Zweck. Alchimist
oder Zauberer des 20. Jahrhunderts, ist er von der
Wichtigkeit seiner neuen Idee überzeugt, ohne klar einsehen zu können,
wohin sie führen soll. So kann er nur solipsistisch mit den
Systembausteinen spielen, in der Hoffnung, beinahe zufällig etwas von
großer Bedeutung zusammenzubasteln. Jeder Programmierer kennt die
Faszination des elektronischen Spiels als Selbstzweck, den Reiz der Suche nach
der korrekten und zugleich eleganten Lösung. Der Hacker karikiert eine
wirklich positive Programmierereigenschaft, das Streben, ein sauberes, logisch
zusammenhängendes Programm zu schreiben.
Bolter (1990), 209
Bolter programmiert offenbar nicht selber, und muß sich
in seinen softwaretheoretischen Ausführungen auf die Meinung von Experten
verlassen. Und so ist seine Darstellung charakeristisch für die Meinung des
Computer-Managements und der akademischen Informatik. Wie anhand des
folgenden Zitats gezeigt werden kann, entspricht die alchimistische
Tätigkeit des Hackers dem faustischen Muster der abendländischen
Tradition identisch. Es gibt strukturell keinen Unterschied zwischen den
frühchristlichen Denker/Asketen-Mönchen in ihren Zellen und Klausen,
und den Hackern der 70er/80er Jahre an ihren Terminals. Hier wie dort wurde
in der Geschichte der Menschheit ein geistiges Tor aufgestoßen, und die
dieses Tor damals öffneten, ließen sich zwar von einer extensiven
Religiosität leiten, aber ihr intensives Vorgehen war forschend
und entdeckend. Heute mag der extensive Forscherdrang der Hacker
äußerlich wenig mit Religion zu tun haben, aber es ist unverkennbar,
daß es sich auch hier um eine intensive Entdeckungsreise des
Geistes handelt, eines Geistes, der auf sich selbst reflexiv projizierend wirkt.
Wenn man auf der Suche nach etwas grundsätzlich Neuem ist, dann kann man
eben nicht sehen, wohin die Suche führt. Und wenn man es vielleicht ahnt,
kann man es kaum jemandem erklären, der aufgrund seiner feststehenden
Meinung von der Natur der Dinge sich nie dazu herablassen würde, eine
grundsätzlich andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
Gotthard Günther hat dies so aus Spengler zitiert:
11.5.1. Hacker, Mönche und die
Kirche der Informatik
Entdecken, das was man nicht sieht,
in die Lichtwelt des inneren Auges ziehen, um sich seiner zu bemächtigen,
das war vom ersten Tage an ihre hartnäckigste Leidenschaft. Alle ihre
großen Erfindungen sind in der Tiefe langsam gereift, durch vorwegnehmende
Geister verkündigt und versucht worden, um mit der Notwendigkeit eines
Schicksals endlich hervorzubrechen. Sie waren alle schon dem seligen
Grübeln frühgotischer Mönche ganz nahe gerückt. Wenn
irgendwo, so offenbart sich hier der religiöse Ursprung alles technischen
Denkens. Diese inbrünstigen Erfinder in ihren Klosterzellen, die unter
Beten und Fasten Gott sein Geheimnis abrangen, empfanden das als einen
Gottesdienst. Hier ist die Gestalt Fausts entstanden, das große
Sinnbild einer echten Erfinderkultur... Das bedeutet der Traum jener seltsamen
Dominikaner wie Pertrus Peregrinus vom Perpetuum Mobile, mit dem Gott seine
Allmacht entrissen gewesen wäre. Sie erlagen diesem Ehrgeiz immer wieder;
sie zwangen der Gottheit ihr Geheimnis ab, um selber Gott zu sein. Sie
belauschten die Gesetze des kosmischen Taktes, um sie zu vergewaltigen, und
sie schufen so die Idee der Maschine als eines kleinen Kosmus, der nur noch dem
Willen des Menschen gehorcht. Aber damit überschritten sie jene feine
Grenze, wo für die anbetende Frömmigkeit der anderen die Stunde
begann, und daran gingen sie zugrunde, von Bacon bis Giordano Bruno. Die
Maschine ist des Teufels: so hat der echte Glaube immer wieder
empfunden.
Die grenzenüberschreitende spekulative
Forschertätigkeit eines Giordano Bruno war den damaligen Machthabern
suspekt und eine tödliche Bedrohung, genauso wie die Datenreisen der
heutigen Hacker in unerlaubte Paßworte, mit denen sie die Gesetze des
Computer-Establishment unterwandern und untergraben, und mit ihrem Wissen die
Schranken des Computermanagements überwinden. Deshalb werden die Hacker
heute auf dieselbe Weise gesehen, wie damals Giordano Bruno.
Hackertum ist
Computer-Häresie.
"Der Hacker karikiert eine
wirklich positive Programmierereigenschaft, das Streben, ein sauberes, logisch
zusammenhängendes Programm zu schreiben." Dieser Satz aus dem obigen Zitat
von Bolter ist natürlich die Meinung des Managements (das den Programmierer
dafür bezahlt, daß er nur von der Kirche der Informatik abgesegnetes
tue).
11.5.2. Programmierung und
Selbst-Reflexion
Die metaphysische Komponente des transklassischen Denkens kann
sich daher wohl nur außerhalb der strikten Regeln des Computer-Managements
entfalten. Ich habe mir in den Jahren von 1983 bis 1992 mit dem LPL System ein
privates symbolisches Universum geschaffen, in dem ich völlig
unabhänig von irgendwelchen Management-Entscheidungen der alleinige Gott
und Herrscher war. In dieser Zeit lernte ich vieles, das zum Teil ähnlich
war, dann aber wieder ganz anders, als sie Bolter in seinem
Programmierer-Schöpfungsmythos beschrieben hat. Ich habe es in einem
Artikel so dargestellt:
Ein solches Software-System stellt eine
Reflexion auf die eigenen Wissens- und Denk-Muster dar. Es ist, wenn es einmal
einen gewissen Umfang gewonnen hat, praktisch ein eigenes Universum für
sich. Es ist auch für seinen Schöpfer nicht mehr überschaubar,
und gewinnt völlig andere Qualitäten: Es wird Er-Leb-bar. D.h. die
Re-Aktionen des Systems, die eigentlich völlig deterministisch aufgrund der
programmierten Logik ablaufen, sind aufgrund der unüberschaubaren Menge der
möglichen internen Zustände, nicht mehr exakt planbar, und gewinnen
eine aktive Qualität. Der menschliche Benutzer des Systems, der Operator,
erhält in seinem Erleben den Eindruck der Interaktion mit einem
eigenständigen, mehr oder weniger unabhängigen Wesen, eben einem
Aktor.
Da das geschaffene System nach den
Gesetzmäßigkeiten der Denkstruktur des Schöpfers angelegt ist,
ist es ein Spiegelbild, und zwar ein aktives Spiegelbild des
Schöpfers. Dies nimmt ein altes Thema der Mythologie in neuer Form
wieder auf. Und somit kann der Operator durchaus epische Dramen wahrhaft
homerischer Qualität an einem Nachmittag aus- und durch-leben. Mal ist er
der Blitze-schleudernde Zeus, der in seinem Universum nach belieben schaltet und
waltet, hier kreiert, dort instanziiert, da alloziert und dort wiederum deletet
und neu formatiert. Mal ist er der kühne Herkules, der mit heroischer
Tat-Energie den Reset-Knopf betätigt, um den Augias-Stall auszumisten, und
dann wieder ist er der tragische Laokoon, der von den Schlangen-Schlingen der
sich gegenseitig aufrufenden Subroutinen verschlungen wird.
[188]
11.5.3. Das Software-System als Virtual
Reality
Wie aus diesen Beschreibungen und von Erfahrungen anderer
Programmierer deutlich ist, erkennen wir hier das Auftreten von
eigenständigen Realitätssystemen. Diese stehen an Wirklichkeitsgehalt
der Konsensus-Realität, also dem Realitätssystem, das unsere physisch
erlebte Umwelt darstellt, kaum noch nach. Dieser Aspekt wird heute unter dem
Oberbegriff "Virtual Reality
"
(VR)
in größerem Stil umgesetzt. Es ist dabei aber deutlich, daß die
"Accessories", die physikalischen Metaphern, mit denen man heute versucht, VR
umzusetzen, eher ein Umweg sind, da die körperliche Metapher des
drei-dimensionalen Raumes eben nur eine unter vielen möglichen ist - wenn
sie auch als Einstiegsmetapher für die Mehrheit der Menschen unserer Kultur
die geeignete und bevorzugte darstellt. Für die weitere Diskussion soll
hier festgehalten werden, daß VR zwar objektiv
in
dem Sinne ist, als es sich um eine Computersimulation handelt, andererseits das
Erlebnis der Realität, also das für den Menschen wahrnehmbare
Phänomen
(im Sinne der
Phänomenologie
) aber rein der subjektiven
Kategorie angehört. Das heißt: Der Computer
erzeugt ein Ensemble von Sinnes-Stimulatoren (Cues), die nur in einer bestimmten
systematischen Weise untereinander verknüpft sein müssen, um in dem
Menschen sofort das Gefühl zu erwecken, er bewege sich in einer
"objektiven" Realität,
was
objektiv-empirisch überhaupt nicht der Fall ist. Erstaunlich ist, daß
es in keiner Weise nötig ist, das komplette Spektrum sinnlicher
Wahrnehmungen aus der physikalischen Umwelt zu erzeugen, um diese Illusion zu
erlangen. Es genügen einige rudimentäre Markierungen, aber eine genaue
Relation muß unbedingt vorhanden sein: die Reaktions-Zeitkonstante. Wenn
das System zu große Verzögerungen enthält, tritt ein
merkwürdiger Effekt auf: die VR-Sickness. "Realität" ist eine Funktion
von Latenz-Zeiten. Dies ist auch der Grund, warum Filme, die auf Folgen von
Einzelbildern bestehen, die mit mehr als 30 Bildern pro Sekunde gezeigt werden,
die Illusion von realer Bewegung erzielen.
All diese Erkenntnisse wiederholen aber nur im neuen Gewande
die Inhalte einer uralten Wissenstradition der Menschheit, die in Europa
früher als
Alchimie bezeichnet wurde, und aus den indigenen Kulturen
als
Schamanismus bekannt ist. Besonders Carlos Castaneda hat mit seinen
Geschichten/Berichten
[189] ausführliche
Darstellungen von parallelen oder alternativen Realitäten gemacht, die in
vielerlei absonderlichen (und keinesfalls logischen oder hierarchischen)
Konstellationen mit der Konsensus-Realität
stehen.
[190]
11.6. Der Symbolator als Erweiterung des Nervensystems
Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, daß der
Symbolator
[191] wesentliche
Veränderungen in den Denk- und Arbeitsstrukturen des Menschen bewirken
kann, der ihn benutzt, sich damit aber gleichzeitig den Gesetzen des Denkzeugs
unterwirft. Bevor ich einen Computer als kreatives Werkzeug zur Verfügung
hatte, hatte ich keinerlei Neigung zum Schreiben, da mir der mechanische
Prozeß der Handschrift oder per Schreibmaschine zu mühsam war. Erst
durch die Korrektur- und Umorganisations- Möglichkeiten der
Textverarbeitung konnte ich mich von der Mühsal des Schreibens
genügend befreien und meine Experimente machen. Das erste, was ich tat, als
ich 1983 einen Microcomputer ganz zu meiner eigenen Verfügung hatte, war
ein Buch zu schreiben: "Werkzeuge für den Aufbruch", dessen Fortsetzung das
"Leerstellendenken" ist.
[192] Es war mir
sofort klar, daß ich hier das Mittel für einen "geistigen Bootstrap"
zur Verfügung hatte, mit dem ich mich selbst aus meiner damaligen Position
in eine andere hieven konnte (am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen, wie es
Münchhausen formuliert hatte).
In der Folge entwickelte ich eine Art Symbiose mit dem
Computer. Ich gelangte im Laufe von zehn Jahren dahin, daß ich mir mit dem
Leibniz-System eine eigene, komplette, und eigenständige
Software-Technologie schuf. Ich habe den Computer zu einer Erweiterung meines
Nervensystems gemacht. Diese Eigenschaft scheint darauf zu beruhen,
daß es gelingt, Reiz-Reaktions-Feedback-Zyklen zwischen der Maschine und
dem Operator einzurichten, die innerhalb der Latenz-Zeit des Nervensystems
liegen.
( Weiteres Material dazu in: "The Symbolator Reports:
Project Memosys" )
[185] Wie Howard Bloom
darstellt, kann die Bildung einer neuen Menschen-"Rasse" innerhalb von sehr
kurzer Zeit auftreten. Siehe Howard Bloom: "Instant Evolution",
(URL)
http://www.howardbloom.net
Individuen dieser Sub-Rassen können sich (wie bei den
Hunden) zwar noch mit Individuen anderer Rassen paaren und Nachkommen zeugen,
aber es bilden sich Endogamie-Gemeinschaften, die erstaunlich stabil sind.
Natürlich muß man heute aufgrund der allgemeinen ideologischen
Vergiftung den "Rasse"-Begriff im Zusammenhang mit Menschen mit
äußerster Vorsicht benutzen, und eine bloße Erwähnung in
einem wissenschaftlichen Kontext ist aus Gründen der "politcal correctness"
schon für sich allein Grund genug, um mit der professionellen Fatwa einen
Wissenschaftler aus der Kollegengemeinde auszstoßen und zur "persona non
grata" zu erklären. (Der sog. Kalte Giordano-Bruno-Effekt).
Dazu noch ein neuer Literaturhinweis nach einer email vom
23.12.01, von Allan L Combs <combs@bulldog.unca.edu> Reply-To:
fis@listas.unizar.es
N. Katherine Hayles: HOW WE BECAME POSTHUMAN: VIRTUAL BODIES
IN
CYBERNETICS, LITERATURE, AND INFORMATICS. University of
Chicago Press.
"investigates the fate of embodiment in a an information age.
Ranging
widely across the history of technology and culture, Hayles
relates three
interwoven stories: how information lost its body, that is,
how it came to
be conceptualized as an entity separate from material forms;
the culture
and technological construction of the cyborg; and the
dismantling of the
liberal humanist subject in cybernetic discourse"
[186] Weizenbaum, J.:
Computer Power and Human Reason, Freeman, San Francisco 1976
Die wunderbare Wortprägung Weizenbaums, vom
inzestuösen Programmierer darf hier keinesfalls ausgelassen werden.
Vermutlich hat Weizenbaum den in der Computerei so beliebten Ausdruck des
"mindfucking" im Hinterkopf gehabt. Ob er wohl wußte, auf was für
einen reichen "pay dirt" einer mythologischen Goldader er hier gestoßen
war? Der "informatische Inzest" ist die mythologische Neufassung reinster Form
der uralten Vorstellung vom Oruborus, der Schlange, die ihren eigenen Schwanz
verschlingt. Auf menschliche Maße übertragen, erfordert dies
fürwahr eine akrobatische Leistung. So hat es der "mindfucker" schon
wesentlich leichter. In der Tat beinhalten viele alt-weltliche
Schöpfungsmythen die Komponente eines sich selbst begattenden Gottes, und
zwar ganz ohne pornographischen Hintersinn. (Siehe auch H.v. Dechend: "Hamlet's
Mill").
Goppold (1995b)
[189] Über die
Geschichten/Berichte von Castaneda gibt es verschiedene Meinungen, ob sie
entweder als als rein belletristisch oder zumindest basierend auf seinen
persönlichen ethnographischen Forschungen zu interpretieren sind. Dies ist
im Sinne der "Trickster"-Definition des Schamanismus durchaus positiv zu
bewerten. Ein Schamane ist nach dieser Auffassung eben auch ein Schelm, der die
Leute gern hinters Licht führt und ihnen Streiche spielt. Und der Schamane
stellt keinerlei Anspruch wie unsere Priester oder Wissenschaftler, so etwas wie
eine "einzig wahre, unumstößliche Wahrheit" darstellen zu wollen.
Dies ist ganz und gar ein Konzept, eine Methode, und eine Erfindung der oben
genannten Macht-Gruppen, die ja genau dadurch ihre Macht zementieren, daß
sie die Menschen auf eine (und zwar die von ihnen lizensierte) Version der Welt
festnageln wollen. Castaneda spinnt eben das Garn des Schamanen in unserer
heutigen Zivilisation weiter, und setzt damit diese Tradition im neuen Gewande
fort.
[191] "Symbolator" ist die
Bezeichung für Computer in seinem Gebrauch als
Bewußsteins-Erweiterungs-Instrument. Siehe auch:
[192] Goppold (1994b):
"Umrisse des Leerstellendenkens"