previous next Title Contents Index

9. Ex Archaes von Sprache und Schrift


Somit wollen wir noch einmal einen großen Bogen schlagen, und uns auf eine große Zeitreise begeben. Wieder zurück, dahin, wo alles anfing:

9.1. Trojanisches Pferd oder phönizischer Stier ?

Irgendwann vor ziemlich langen Zeiten, es ist schon so lange her, daß man sich nicht mehr genau daran erinnert, fand der merk- und denkwürdigste Kulturaustausch aller Zeiten statt:
Der griechische Gott Zeus fand Gefallen an einer schönen Semitin, genannt Europa, einer Königstochter aus dem phönizischen Königreich Sidon. (ANM:SIDON [13] ) Dieser Zeus verwandelte sich in einen Stier, und als die schöne Europa eines Tages mit ihren Freundinnen am Meeresstrand spazierenging, kam ihr der Stier entgegen, und war so zutraulich und so lieb, daß Europa sich auf seinen Rücken setzte, und ihn ein wenig reiten wollte. Darauf hatte der Stier nur gewartet, und mit einem Mal setzte er sich wie ein Sturmwind in Bewegung, die schöne Europa auf dem Rücken, und lief auf das offene Meer hinaus, und lief mit ihr bis nach Kreta, zu dem Geburtsort des Zeus. In der Höhle, in der ihn seine Mutter Rhea nach seiner Geburt vor den Nachstellungen des Kronos versteckt hatte, waren sie auch sicher genug vor der allzeit wachenden Eifersucht der Hera, die sonst der Europa manches Unheil angehext hätte. Dann wurden die Rollen vertauscht, und Zeus verbrachte, wieder in menschlichere Gestalt zurückverwandelt, so manches Schäferstündchen mit ihr, und Europa gebar in der Folge mehrere Söhne, von denen der größte und bekannteste Minos war, der sagenhafte Wäger, Richter, und Gesetzgeber, der damit als Begründer der europäischen Kultur gilt. (Siehe auch den entsprechenden platonischen Dialog "Minos"). Er scheint offenbar einen ägyptischen Namensvetter Menes, und einen anderen Namensvetter, Mani, in Indien gehabt zu haben, die sich beide ebenfalls als große Richter und Gesetzgeber hervorgetan haben.

9.2. Aleph der Stier

Die Frage des Leerstellendenkens ist, ob die wohlmeinenden Mythenerzähler nicht in ihrem dramaturgischen Eifer die Sache umgedreht hatten -- ob nicht jene phönizische Prinzessin Europa auf Einladung des Königs Minos (oder seines Vaters) nach Kreta mit dem Stier im Gepäck gekommen war (es muß ja nicht immer der Tiger im Tank sein). Nun ist der Stier das Zeichen des Aleph, und Aleph ist das erste Zeichen des semitisch/phönizisch/aramäischen Aleph-Bayt Systems. Schon zu den Zeiten des minoischen Reiches gab es intensive Kulturkontakte in östlichen Mittelmeerraum zwischen den dort ansässigen Völkern. Etwa zu dieser Zeit entwickelte sich die phönizische Aleph-Bayt Schrift aus semitischen Ursprüngen. Haarmann nimmt eine wesentliche kretische Einflußnahme auf die Ausbildung der phönizischen Schrift an. (BIB:HAARMANN-SCHRIF T, 267-320) Herodot nennt die griechischen Buchstaben "phoinikeia grammata" nimmt also die phönizische Herkunft an. Einem anderen Mythos zufolge war es der phönizische Königssohn Kadmos, der den Griechen die Schrift gebracht hatte. Kadmos leitet sich von der semitischen Wurzel kedem ab, die heißt: Aus dem Osten, vom Sonnenaufgang her, früher, ursprünglich (BIB:KABBALA-WEINRE B, p. 58).
Wir befinden uns also ca. 800 Jahre vor Plato, zur Zeit der Archae der europäisch- semitischen Zivilisationen. Das war die Zeit, als die Phönizier begannen, ihr Handelsreich aufzubauen, die Zeit als Salomon mit Hilfe des phönizischen Königs Hiram seinen Tempel in Jerusalem baute (denn nur die Phönizier hatten die Handwerker, die technetes und tektones, die dieses Wunderwerk bauen konnten). In dieser Zeit entstand das, was im semitisch/phönizisch/aramäischen Kulturkreis Aleph-Bayt genannt wurde, bei uns aber das Alpha-Beta.

9.3. Die verborgenen Inhalte des Aleph-Bayt Systems

Das, wovon jetzt erzählt werden soll, kommt aus sehr verschiedenen Quellen, und die direkte Überlieferung, auf die wir uns beziehen, läßt sich geschichtlich auf die Blütezeit der islamischen Wissenschaft im maurischen Spanien zurückverfolgen, ins Jahr 1200, als in Granada unter der aufgeklärten Regierung der damaligen Kalifen Muslime und sephardische Juden eine hohe, hinterher nicht wieder erreichte Stufe des semitischen Wissens erreichten.

9.4. Die unterschiedliche Struktur des semitischen Wissens

Das semitische Wissen und Denken unterscheidet sich entscheidend von dem indogermanischen: In der Struktur der Sprachen, die die Völker entwickelt hatten. Die unterschiedliche Sprachstruktur bedingt eine völlig verschiedene Denkstruktur. (Nach der Sapir/Whorf Hypothese.) Die heilige Sprache des Q'uran ist arabisch, die heilige Sprache der Bibel, bzw. der Torah ist hebräisch. Die zugrundeliegenden Strukturen beider Sprachen sind identisch und die Schrift beruht auf einem identischen Zeichensystem, das nur anders geschrieben wird. Die Abstammungsgeschichte der Schriften der Araber und Juden ist verwickelt. Die bekannte hebräische Quadratschrift geht auf das Aramäische zurück, und entstand ca. -600 in der Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft. Die bekannten arabischen Schriften sind erst nach der Islamisierung entstanden, so ist die Kufi-Schrift seit dem Jahre 690 dokumentiert. (BIB:HAARMANN-SCHRIF T, 299-324). Alle lassen sich aber auf dieselbe gemeinsame Schriftwurzel zurückführen, die ca. -1200-1000 über die griechische Diffusion das Alpha-Beta System geschaffen hatte. Die Wortstruktur der semitischen Sprachen beruht auf einem System von drei Konsonanten, dem Autiot oder othioth. (BIB:KABBALA-WEINRE B, p. 23, 24). Diese Konsonanten bilden das Grundgerüst eines Wortes, und werden durch verschiedene Vokale differenziert.
Im modernen europäischen Alphabet sind die Namen der Buchstaben nichts als die Laute, die sie bezeichnen. Im griechischen Alpha-Beta scheint noch das semitische Aleph-Bayt durch, das jedem Zeichen einen Namen gegeben hatte, und nicht nur einen phonetischen Wert. Um die Sache noch interessanter zu machen, schrieb man damals die Zahlen mit den Alphabet-Zeichen. Aleph war Eins, Bayt war Zwei, und Ghimel war Drei, und so weiter. Zehn wurde mit Yod bezeichnet, 20 mit Kaf, und Qof, Raysh, Sheen und Tav waren 100, 200, 300 und 400. Aus dieser Wurzel entstand ein Interpretationssystem, das uns durch die sephardischen Juden als Kabbala überliefert wird. Man setzte die Zahlenwerte der Worte in den heiligen Schriften in einen Bedeutungszusammenhang, der es erlaubte, völlig andere (esoterische) Interpretationen zu erhalten, als was die offensichtlichen (exoterischen) Wortbedeutungen ergaben. Da uns die moderne Esoterikwelle die geheimsten Geheimlehren aller Völker und Kulturen in die Buchläden geschwappt hat, die nun dort für 29,80 DM zu kaufen sind, sind wir in der glücklichen Lage, uns in irgendeinem dieser Buchläden ein Buch über die Kabbala zu kaufen. Und dort lesen wir:
Aleph: Das Eine. Aleph bedeutet Haupt, vor allem das Haupt des Stieres. Aleph hat keinen Eigenlaut, er ist das Ausatmen. Er wird je nach Kontext verschieden, als a, e, i, o, u, oder auch garnicht ausgesprochen. Aleph ist das Vor-Schöpfungs-Zeichen. Es ist das Grundprinzip der Buchstaben. Sie gehen aus ihm hervor. Aleph symbolisiert ein Konzept, das unvorstellbar und undenkbar ist, aber es kann benutzt werden.
In unseren Worten also: Aleph ist das Zeichen der archae. Aleph symbolisiert die unbeschränkte Potentialität der archae, aber nicht als Anfang, der vor irgendwelchen Zeiten einmal erfolgte, sondern den immerwährenden Anfang, die unendliche Potentialität, die im Augenblick liegt.
Bayt: Die Zwei. Bayt heißt "Haus" und ist das Symbol für jede irgendwie geartete Form von Behältnis.
Ghimel: Die Drei. Ghimel heißt "Kamel" und symbolisiert jede irgendwie geartete Form von Transformation und energetische Umwandlung.
Dallet: Die Vier. Dallet symbolisiert Widerstand in jeder beliebigen Form.

9.5. Das Bewegungsprinzip des chi

Das Prinzip ghimel taucht übrigens in der griechische Wortwurzel kine... auf. Die griechischen Buchstaben gamma, chi, kappa und ix haben eine Verbindung zu dem Prinzip ghimel. Die Wurzel von techne/tekton/texis enthält ebenfalls das Element der Transformation. Die obige Herausarbeitung des Chiastos, der Transformationsformel

" - X - "

beruht auf dieser Verwandschaft. Ob mit, oder ohne wissenschaftlich nachweisbare Verbindung, läßt sich noch auf bekannte asiatische Prinzipien, wie das Chi oder Ki hinweisen, die ebenfalls eine archetypische dynamische Bedeutung haben. Das bekannte I Ging, Buch der Wandlungen, gehört ebenfalls in diesen Kontext.

9.6. Die Zeichen im Kern

Weinreb beschreibt die Charakteristik des kabbalistischen Systems so: Ein Zusammenhang zwischen Erzählen und Zählen ist sowohl im Hebräischen als auch in allen germanischen und romanischen Sprachen gegeben (p. 20). Wörter und Zahlen hängen irgendwie zusammen, und Wörter stellen die Äußerung einer Welt dar, in der Proportionen und Relationen das Bestimmende sind (p. 20). Ursprache und absolute Zahl sind identisch (p. 23). Die Ursprache enthält eine Mitteilung der Namen von Lauten und Zeichen. Diese Namen sind nur verständlich in der Welt der absoluten Proportionen. Dort nämlich bilden diese Namen die Urtypen der Schöpfung. Sie gehen hervor aus dem Wissen der absoluten Proportionen. Im Absoluten sind die Namen entscheidend für die Bedeutung, für die Bestimmung im Ganzen; sie zeigen auch auf, was diese Laute und Zeichen im Relativen bedeuten. Denn man kann wohl ohne weiteres vom Absoluten auf das Relative schließen, nicht aber vom Äußeren auf das Absolute, und wenn schon, so ist es jedenfalls äußerst schwierig und langwierig (p. 23) (BIB:KABBALA-WEINRE B).
Plato sagt in Timaios 28 c:

Also den Urheber und Vater dieses Weltalls aufzufinden ist schwer und, nachdem man ihn auffand, ihn allen zu verkünden, unmöglich.

9.7. Der Archae-Typ von Wort und Zahl

Diese Beispiele sollen für den augenblicklichen Zweck genügen. Die Durchsicht der Materialien zur Kabbala zeigt, daß hier anscheinend eine Konzeption vorliegt, die der Konzeption Platos im Timaios strukturell analog erscheint. Hier wie dort ist eine Schöpfung aus einem System von Prinzipien und Ideen beschrieben. Es wäre eine interessante Frage, ob eine Abstammung aus gemeinsamen Wurzeln vorhanden ist, oder ob die Kabbala auf Einflüsse des Platonismus zurückzuführen ist. Die ersten schriftlichen Quellen sollen das Sepher Jetzirah, nach Rabbi Akiba um das Jahr 120 sein, und der Sepher ha Zohar, auch Sohar genannt von Simeon Ben Jochai, um ca. 160. Dies fällt in die Zeit des ausgehenden Altertums, wo sich östliche Religion und westliche Philosophie vermischten. Die sicher datierbaren Quellen der Kabbala sind aber Rabbi Ezra im 12. Jh. und Moses de Lyon im Jahre 1305. (BIB:KABBALA-LOVE, p. 50) Die damalige islamische Blütezeit war ja die Zeit der Wiederentdeckung der platonischen und aristotelischen Schriften, so daß man in der Kabbala platonistische Elemente vermuten kann.
Man sollte nicht auf den Fehler verfallen, und die Kabbala als etwas spezifisch und exklusiv jüdisches zu interpretieren. Das mögen die jüdischen Autoren zwar entweder selber gerne glauben oder uns glauben machen, und damit die Einzigartigkeit der jüdischen Religion zu unterstreichen versuchen, ebenso wie es die Muslime mit ihrer, weniger bekannten, Koranauslegung tun mögen. Eine Q'abala ist ein logisches System, das durch die Struktur der semitischen Sprachen und der Aleph-Bayt Schrift gegeben ist.

9.8. Die Kabbala im Timaios

Die Verwendung des Begriffs stoichea im Timaios ist ein Hinweis darauf, daß Plato auf etwas anspielt, das ihm durch die phönizische Überlieferung der Schrift noch vertrauter war als uns: Nämlich, daß die Buchstaben noch eine andere Bedeutung hatten, als nur sinnleere Lautzeichen. Er verweist ja immer wieder, und so auch im Timaios, auf die so viel ältere Weisheit der Ägypter, gegen die das Wissen der Griechen wie Kinderspiel vorkomme. Und die gemeinsame Wurzel mit der Kabbala kann durchaus in den mythischen Begebenheiten liegen, zu der Zeit, als Moses, der Zögling des Pharao und Eingeweihte in die ägyptischen Geheimlehren, die Kinder Israel aus Ägypten herausführte.
Wir müssen uns sowohl and das halten, was er sagt, wie auch, was zu sagen er verweigert. Über das Eine, das Prinzip aleph, "den Ursprung von allem" will er nicht reden. Darüber kann man nach dem 7. Brief auch nichts sagen.
Die "Amme des Werdens" ab 48e ist mit dem Prinzip des Bayt, die Zwei, zu vergleichen. Wir finden dazu bei Aristoteles den Begriff der hyle, der ebenfalls ein völlig unstrukturiertes Behältnisprinzip ist, das keinerlei Eigenschaften für sich aufweist. Diese Eigenschaftslosigkeit beschreibt Plato in 50d bis 51b.
Das nächste wichtige Prinzip ist das Rüttelgerät in 52d. Dies ist eine Eigenschaft der Amme, wird aber in der Kabbala von dem Prinzip ghimel, die Drei, verkörpert.
Hiermit haben wir also die stoichea des Ursprungs, so wie sie sich Plato durch die pythagoräische Überlieferung hätte darstellen können, und er im Timaios re-kreiert. Plato ist natürlich an einer Exegese der Bibel oder irgendwelcher anderer heiligen Schriften der Juden oder Semiten kaum gelegen. Sein Interesse ist es, die Entstehung der Welt auf das Aufeinander-Einwirken von ein paar grundlegenden Urprinzipien zurückzuführen. Im Kabbala-System war die Encodierung der Zahlenverhältnisse in den Buchstaben selber gegeben, während Plato sie extern über eine Konstruktion durch geometrische Figuren herbeiführt. In der Kabbala ist die numerische Interpretation der Genesis also auf eine ähnliche Weise möglich, wie Plato sie in Timaios unternimmt. Das erste Wort der Genesis, BERESHYT wäre somit das Arbeitsprogramm für den Demiourgos. Man kann es dann als eine Art Kondensationskern für das Universum interpretieren. Wenn man annimmt, daß die Kabbala älter ist, als die mosaische Yahweh-Doktrin, und letztere als Aufpropfung interpretiert, ergäbe sich eine starke Wesensverwandtschaft zum Timaios. Ein Hinweis darauf ergibt sich aus der verbreiteten Verwendung von Schriftzeichen für Zahlen in den alten Schriftsystemen. Dies betrifft sowohl die Systeme der Hieroglyphen als auch die mesopotamischen Keilschriftsysteme.
Somit ist hier ein "informed guess" möglich, also eine Aussage des Leerstellendenkens: Vor der Dominanz der monotheistischen Systeme Judentum, Christentum und Islam, hat es eine konkurrierende geistige Strömung gegeben, die an die Stelle der früheren polytheistischen Systeme ein logisch konstruierbares kosmologisches Prinzip angesetzt hat, das auf der Harmonik beruht, und das der Schöpfung zugrundeliegt. Das ist bei Plato das agathon, und in den nicht-jahwistischen Ursprüngen der Kabbala ein analoges Prinzip. Im Hellenismus fanden diese Systeme ihre letzte Blüte, bevor der Siegeszug des Christentums alle Spuren und Erinnerungen daran auslöschte. Das Wissen um die Existenz, und vor allem die Wiederauffindbarkeit dieses Prinzips ist die größte, tödliche Gefahr für die seit ca. 5000 Jahren herrschenden Hierarchiestrukturen, und daher wurde alles menschenmögliche getan, um es zu verdecken. Es hatte sich früh gezeigt, daß die beste Strategie der Verschleierung darin liegt, ein möglichst logisch klingendes System als Attrappe zu erstellen, um die Sucher systematisch auf die falsche Fährte zu führen. Dies war in den letzten 5000 Jahren die Aufgabe der Theologie. Wie man sieht, war sie recht erfolgreich.


[13]ANM:SIDON
Da die Phönizier ab etwa -1200 in Erscheinung traten, muß sich die Geschichte um diese Zeit zugetragen haben.


previous next Title Contents Index