Somit wollen wir noch einmal einen großen Bogen schlagen, und uns auf eine große Zeitreise begeben. Wieder zurück, dahin, wo alles anfing:
Irgendwann
vor ziemlich langen Zeiten, es ist schon so lange her, daß man sich nicht
mehr genau daran erinnert, fand der merk- und denkwürdigste
Kulturaustausch aller Zeiten statt:
Der griechische Gott Zeus fand Gefallen an einer schönen Semitin, genannt
Europa, einer Königstochter aus dem phönizischen Königreich
Sidon. (ANM:SIDON
[13]
)
Dieser Zeus verwandelte sich in einen Stier, und als die schöne Europa
eines Tages mit ihren Freundinnen am Meeresstrand spazierenging, kam ihr der
Stier entgegen, und war so zutraulich und so lieb, daß Europa sich auf
seinen Rücken setzte, und ihn ein wenig reiten wollte. Darauf hatte der
Stier nur gewartet, und mit einem Mal setzte er sich wie ein Sturmwind in
Bewegung, die schöne Europa auf dem Rücken, und lief auf das offene
Meer hinaus, und lief mit ihr bis nach Kreta, zu dem Geburtsort des Zeus. In
der Höhle, in der ihn seine Mutter Rhea nach seiner Geburt vor den
Nachstellungen des Kronos versteckt hatte, waren sie auch sicher genug vor der
allzeit wachenden Eifersucht der Hera, die sonst der Europa manches Unheil
angehext hätte. Dann wurden die Rollen vertauscht, und Zeus verbrachte,
wieder in menschlichere Gestalt zurückverwandelt, so manches
Schäferstündchen mit ihr, und Europa gebar in der Folge mehrere
Söhne, von denen der größte und bekannteste Minos war, der
sagenhafte Wäger, Richter, und Gesetzgeber, der damit als Begründer
der europäischen Kultur gilt. (Siehe auch den entsprechenden platonischen
Dialog "Minos"). Er scheint offenbar einen ägyptischen Namensvetter Menes,
und einen anderen Namensvetter, Mani, in Indien gehabt zu haben, die sich beide
ebenfalls als große Richter und Gesetzgeber hervorgetan haben.
Die
Frage des Leerstellendenkens ist, ob die wohlmeinenden Mythenerzähler
nicht in ihrem dramaturgischen Eifer die Sache umgedreht hatten -- ob nicht
jene phönizische Prinzessin Europa auf Einladung des Königs Minos
(oder seines Vaters) nach Kreta mit dem Stier im Gepäck gekommen war (es
muß ja nicht immer der Tiger im Tank sein). Nun ist der Stier das Zeichen
des Aleph, und Aleph ist das erste Zeichen des
semitisch/phönizisch/aramäischen Aleph-Bayt Systems. Schon zu den
Zeiten des minoischen Reiches gab es intensive Kulturkontakte in östlichen
Mittelmeerraum zwischen den dort ansässigen Völkern. Etwa zu dieser
Zeit entwickelte sich die phönizische Aleph-Bayt Schrift aus semitischen
Ursprüngen. Haarmann nimmt eine wesentliche kretische Einflußnahme
auf die Ausbildung der phönizischen Schrift an. (BIB:HAARMANN-SCHRIF
T,
267-320) Herodot nennt die griechischen Buchstaben "phoinikeia grammata" nimmt
also die phönizische Herkunft an. Einem anderen Mythos zufolge war es der
phönizische Königssohn Kadmos, der den Griechen die Schrift gebracht
hatte. Kadmos leitet sich von der semitischen Wurzel kedem ab, die
heißt: Aus dem Osten, vom Sonnenaufgang her, früher,
ursprünglich (BIB:KABBALA-WEINRE
B,
p. 58).
Wir befinden uns also ca. 800 Jahre vor Plato, zur Zeit der Archae der
europäisch- semitischen Zivilisationen. Das war die Zeit, als die
Phönizier begannen, ihr Handelsreich aufzubauen, die Zeit als Salomon mit
Hilfe des phönizischen Königs Hiram seinen Tempel in Jerusalem baute
(denn nur die Phönizier hatten die Handwerker, die technetes und
tektones, die dieses Wunderwerk bauen konnten). In dieser Zeit entstand
das, was im semitisch/phönizisch/aramäischen Kulturkreis Aleph-Bayt
genannt wurde, bei uns aber das Alpha-Beta.
Das, wovon jetzt erzählt werden soll, kommt aus sehr verschiedenen Quellen, und die direkte Überlieferung, auf die wir uns beziehen, läßt sich geschichtlich auf die Blütezeit der islamischen Wissenschaft im maurischen Spanien zurückverfolgen, ins Jahr 1200, als in Granada unter der aufgeklärten Regierung der damaligen Kalifen Muslime und sephardische Juden eine hohe, hinterher nicht wieder erreichte Stufe des semitischen Wissens erreichten.
Das
semitische Wissen und Denken unterscheidet sich entscheidend von dem
indogermanischen: In der Struktur der Sprachen, die die Völker
entwickelt hatten. Die unterschiedliche Sprachstruktur bedingt eine völlig
verschiedene Denkstruktur. (Nach der Sapir/Whorf Hypothese.) Die heilige
Sprache des Q'uran ist arabisch, die heilige Sprache der Bibel,
bzw. der Torah ist hebräisch. Die zugrundeliegenden Strukturen
beider Sprachen sind identisch und die Schrift beruht auf einem identischen
Zeichensystem, das nur anders geschrieben wird. Die Abstammungsgeschichte der
Schriften der Araber und Juden ist verwickelt. Die bekannte hebräische
Quadratschrift geht auf das Aramäische zurück, und entstand ca. -600
in der Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft. Die bekannten arabischen
Schriften sind erst nach der Islamisierung entstanden, so ist die Kufi-Schrift
seit dem Jahre 690 dokumentiert. (BIB:HAARMANN-SCHRIF
T,
299-324). Alle lassen sich aber auf dieselbe gemeinsame Schriftwurzel
zurückführen, die ca. -1200-1000 über die griechische Diffusion
das Alpha-Beta System geschaffen hatte. Die Wortstruktur der semitischen
Sprachen beruht auf einem System von drei Konsonanten, dem Autiot oder
othioth. (BIB:KABBALA-WEINRE
B,
p. 23, 24). Diese Konsonanten bilden das Grundgerüst eines Wortes, und
werden durch verschiedene Vokale differenziert.
Im modernen europäischen Alphabet sind die Namen der Buchstaben nichts als
die Laute, die sie bezeichnen. Im griechischen Alpha-Beta scheint noch das
semitische Aleph-Bayt durch, das jedem Zeichen einen Namen gegeben hatte, und
nicht nur einen phonetischen Wert. Um die Sache noch interessanter zu machen,
schrieb man damals die Zahlen mit den Alphabet-Zeichen. Aleph war Eins,
Bayt war Zwei, und Ghimel war Drei, und so weiter. Zehn wurde mit
Yod bezeichnet, 20 mit Kaf, und Qof, Raysh,
Sheen und Tav waren 100, 200, 300 und 400. Aus dieser Wurzel
entstand ein Interpretationssystem, das uns durch die sephardischen Juden als
Kabbala überliefert wird. Man setzte die Zahlenwerte der Worte in den
heiligen Schriften in einen Bedeutungszusammenhang, der es erlaubte,
völlig andere (esoterische) Interpretationen zu erhalten, als was die
offensichtlichen (exoterischen) Wortbedeutungen ergaben. Da uns die moderne
Esoterikwelle die geheimsten Geheimlehren aller Völker und Kulturen in die
Buchläden geschwappt hat, die nun dort für 29,80 DM zu kaufen sind,
sind wir in der glücklichen Lage, uns in irgendeinem dieser Buchläden
ein Buch über die Kabbala zu kaufen. Und dort lesen wir:
Aleph: Das Eine. Aleph bedeutet Haupt, vor allem das Haupt des Stieres.
Aleph hat keinen Eigenlaut, er ist das Ausatmen. Er wird je nach Kontext
verschieden, als a, e, i, o, u, oder auch garnicht ausgesprochen. Aleph ist das
Vor-Schöpfungs-Zeichen. Es ist das Grundprinzip der Buchstaben. Sie gehen
aus ihm hervor. Aleph symbolisiert ein Konzept, das unvorstellbar und undenkbar
ist, aber es kann benutzt werden.
In unseren Worten also: Aleph ist das Zeichen der archae. Aleph
symbolisiert die unbeschränkte Potentialität der archae, aber
nicht als Anfang, der vor irgendwelchen Zeiten einmal erfolgte, sondern den
immerwährenden Anfang, die unendliche Potentialität, die im
Augenblick liegt.
Bayt: Die Zwei. Bayt heißt "Haus" und ist das Symbol für jede
irgendwie geartete Form von Behältnis.
Ghimel: Die Drei. Ghimel heißt "Kamel" und symbolisiert jede
irgendwie geartete Form von Transformation und energetische Umwandlung.
Dallet: Die Vier. Dallet symbolisiert Widerstand in jeder beliebigen Form.
Das
Prinzip ghimel taucht übrigens in der griechische Wortwurzel
kine... auf. Die griechischen Buchstaben gamma, chi, kappa und ix haben
eine Verbindung zu dem Prinzip ghimel. Die Wurzel von techne/tekton/texis
enthält ebenfalls das Element der Transformation. Die obige
Herausarbeitung des Chiastos, der Transformationsformel
Weinreb
beschreibt die Charakteristik des kabbalistischen Systems so: Ein Zusammenhang
zwischen Erzählen und Zählen ist sowohl im Hebräischen als auch
in allen germanischen und romanischen Sprachen gegeben (p. 20). Wörter und
Zahlen hängen irgendwie zusammen, und Wörter stellen die
Äußerung einer Welt dar, in der Proportionen und Relationen das
Bestimmende sind (p. 20). Ursprache und absolute Zahl sind identisch (p. 23).
Die Ursprache enthält eine Mitteilung der Namen von Lauten und Zeichen.
Diese Namen sind nur verständlich in der Welt der absoluten Proportionen.
Dort nämlich bilden diese Namen die Urtypen der Schöpfung. Sie gehen
hervor aus dem Wissen der absoluten Proportionen. Im Absoluten sind die Namen
entscheidend für die Bedeutung, für die Bestimmung im Ganzen; sie
zeigen auch auf, was diese Laute und Zeichen im Relativen bedeuten. Denn man
kann wohl ohne weiteres vom Absoluten auf das Relative schließen, nicht
aber vom Äußeren auf das Absolute, und wenn schon, so ist es
jedenfalls äußerst schwierig und langwierig (p. 23)
(BIB:KABBALA-WEINRE
B).
Plato sagt in Timaios 28 c:
Also den Urheber und Vater dieses Weltalls aufzufinden ist schwer und, nachdem man ihn auffand, ihn allen zu verkünden, unmöglich.
Diese
Beispiele sollen für den augenblicklichen Zweck genügen. Die
Durchsicht der Materialien zur Kabbala zeigt, daß hier anscheinend eine
Konzeption vorliegt, die der Konzeption Platos im Timaios strukturell analog
erscheint. Hier wie dort ist eine Schöpfung aus einem System von
Prinzipien und Ideen beschrieben. Es wäre eine interessante Frage, ob eine
Abstammung aus gemeinsamen Wurzeln vorhanden ist, oder ob die Kabbala auf
Einflüsse des Platonismus zurückzuführen ist. Die ersten
schriftlichen Quellen sollen das Sepher Jetzirah, nach Rabbi Akiba um das Jahr
120 sein, und der Sepher ha Zohar, auch Sohar genannt von Simeon Ben Jochai, um
ca. 160. Dies fällt in die Zeit des ausgehenden Altertums, wo sich
östliche Religion und westliche Philosophie vermischten. Die sicher
datierbaren Quellen der Kabbala sind aber Rabbi Ezra im 12. Jh. und Moses de
Lyon im Jahre 1305. (BIB:KABBALA-LOVE, p. 50) Die damalige islamische
Blütezeit war ja die Zeit der Wiederentdeckung der platonischen und
aristotelischen Schriften, so daß man in der Kabbala platonistische
Elemente vermuten kann.
Man sollte nicht auf den Fehler verfallen, und die Kabbala als etwas spezifisch
und exklusiv jüdisches zu interpretieren. Das mögen die
jüdischen Autoren zwar entweder selber gerne glauben oder uns glauben
machen, und damit die Einzigartigkeit der jüdischen Religion zu
unterstreichen versuchen, ebenso wie es die Muslime mit ihrer, weniger
bekannten, Koranauslegung tun mögen. Eine Q'abala ist ein logisches
System, das durch die Struktur der semitischen Sprachen und der Aleph-Bayt
Schrift gegeben ist.
Die
Verwendung des Begriffs stoichea im Timaios ist ein Hinweis darauf,
daß Plato auf etwas anspielt, das ihm durch die phönizische
Überlieferung der Schrift noch vertrauter war als uns: Nämlich,
daß die Buchstaben noch eine andere Bedeutung hatten, als nur sinnleere
Lautzeichen. Er verweist ja immer wieder, und so auch im Timaios, auf die so
viel ältere Weisheit der Ägypter, gegen die das Wissen der Griechen
wie Kinderspiel vorkomme. Und die gemeinsame Wurzel mit der Kabbala kann
durchaus in den mythischen Begebenheiten liegen, zu der Zeit, als Moses, der
Zögling des Pharao und Eingeweihte in die ägyptischen Geheimlehren,
die Kinder Israel aus Ägypten herausführte.
Wir müssen uns sowohl and das halten, was er sagt, wie auch, was zu sagen
er verweigert. Über das Eine, das Prinzip aleph, "den Ursprung
von allem" will er nicht reden. Darüber kann man nach dem 7. Brief
auch nichts sagen.
Die "Amme des Werdens" ab 48e ist mit dem Prinzip des Bayt, die
Zwei, zu vergleichen. Wir finden dazu bei Aristoteles den Begriff der
hyle, der ebenfalls ein völlig unstrukturiertes
Behältnisprinzip ist, das keinerlei Eigenschaften für sich aufweist.
Diese Eigenschaftslosigkeit beschreibt Plato in 50d bis 51b.
Das nächste wichtige Prinzip ist das Rüttelgerät in 52d.
Dies ist eine Eigenschaft der Amme, wird aber in der Kabbala von dem Prinzip
ghimel, die Drei, verkörpert.
Hiermit haben wir also die stoichea des Ursprungs, so wie sie sich Plato
durch die pythagoräische Überlieferung hätte darstellen
können, und er im Timaios re-kreiert. Plato ist natürlich an einer
Exegese der Bibel oder irgendwelcher anderer heiligen Schriften der Juden oder
Semiten kaum gelegen. Sein Interesse ist es, die Entstehung der Welt auf das
Aufeinander-Einwirken von ein paar grundlegenden Urprinzipien
zurückzuführen. Im Kabbala-System war die Encodierung der
Zahlenverhältnisse in den Buchstaben selber gegeben, während Plato
sie extern über eine Konstruktion durch geometrische Figuren
herbeiführt. In der Kabbala ist die numerische Interpretation der Genesis
also auf eine ähnliche Weise möglich, wie Plato sie in Timaios
unternimmt. Das erste Wort der Genesis, BERESHYT wäre somit das
Arbeitsprogramm für den Demiourgos. Man kann es dann als eine Art
Kondensationskern für das Universum interpretieren. Wenn man annimmt,
daß die Kabbala älter ist, als die mosaische Yahweh-Doktrin, und
letztere als Aufpropfung interpretiert, ergäbe sich eine starke
Wesensverwandtschaft zum Timaios. Ein Hinweis darauf ergibt sich aus der
verbreiteten Verwendung von Schriftzeichen für Zahlen in den alten
Schriftsystemen. Dies betrifft sowohl die Systeme der Hieroglyphen als auch die
mesopotamischen Keilschriftsysteme.
Somit ist hier ein "informed guess" möglich, also eine Aussage des
Leerstellendenkens: Vor der Dominanz der monotheistischen Systeme Judentum,
Christentum und Islam, hat es eine konkurrierende geistige Strömung
gegeben, die an die Stelle der früheren polytheistischen Systeme ein
logisch konstruierbares kosmologisches Prinzip angesetzt hat, das auf der
Harmonik beruht, und das der Schöpfung zugrundeliegt. Das ist bei Plato
das agathon, und in den nicht-jahwistischen Ursprüngen der Kabbala
ein analoges Prinzip. Im Hellenismus fanden diese Systeme ihre letzte
Blüte, bevor der Siegeszug des Christentums alle Spuren und Erinnerungen
daran auslöschte. Das Wissen um die Existenz, und vor allem die
Wiederauffindbarkeit dieses Prinzips ist die größte, tödliche
Gefahr für die seit ca. 5000 Jahren herrschenden Hierarchiestrukturen, und
daher wurde alles menschenmögliche getan, um es zu verdecken. Es hatte
sich früh gezeigt, daß die beste Strategie der Verschleierung darin
liegt, ein möglichst logisch klingendes System als Attrappe zu erstellen,
um die Sucher systematisch auf die falsche Fährte zu führen. Dies war
in den letzten 5000 Jahren die Aufgabe der Theologie. Wie man sieht, war sie
recht erfolgreich.
[13]ANM:SIDON
Da die Phönizier ab etwa -1200 in Erscheinung traten, muß sich die
Geschichte um diese Zeit zugetragen haben.