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8. Der Siebte Brief: Plato's Digest


@:SIEBTER_BRIEF
Der siebte Brief gibt uns dann einen Einblick in das Denken von Plato, daß wir versucht sind, hier den kleinen Schlüssel zu der kleinen Hintertür von Platos Gesamtwerk zu sehen. Plato schrieb diesen Brief in seinen letzten Lebensjahren, und als ob er den offenen oder unbewußten Wunsch gehabt hätte, hier ein Resumee seines ganzen Lebens zu geben, erfahren wir hier Zusammenhänge, die uns einen "Reader's Digest" des Lebens und Wirkens Platos, also einen "Plato's Digest" ahnen lassen. Er erzählt uns von seinen politischen Verwicklungen und Entäuschungen in seinen Jugendjahren, seine bitteren Enttäuschungen, seinen Schmerz um die Verurteilung des Sokrates, seinen Rückzug in die innere Emigration, seine so gründlich enttäuschte Hoffnung, in Syrakus eine Gelegenheit zur Verwirklichung seiner Ideen zu finden, seine Hoffnungen, die er auf Dion gesetzt hatte, seine nie enden wollenden Verwickelungen mit den Ränken des Dionysios. In diese menschliche, allzu menschliche "never ending story" eingebettet, finden wir einige Kernsätze seines Denkens, so als ob er hier einmal, und nie wieder, den Außenseitern, die die nicht durch seine Schule gegangen waren, den idiotas also (wie Cusanus gesagt hätte), einen Einblick gewähren wollte, den er sonst stets sorgfältig zu verschleiern verstand.

8.1. Platos Prüfungsmethode für die philosophischen Kandidaten

BIB:PLATO-BRIEFE Brief 7, p. 70 ff

Nach meiner Ankunft hielt ich es für meine erste Aufgabe, Gewißheit darüber zu erlangen, ob Dionysios in Wahrheit Feuer und Flamme für die Philosophie wäre oder ob nichts wäre an den vielen Gerüchten, die darüber nach Athen gekommen waren. Es gibt nun ein gewisses Verfahren, dies auszuprobieren,... das in der Tat ganz angemessen ist... bei solchen, die den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philosophischen Lehren.

8.1.1. Die Merkmale des guten Kandidaten

Man muß nämlich solchen Leuten die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Umfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die ganzen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe deutlich zu erkennen geben. Ist nämlich, wer das hört, ein wahrhafter Freund der Weisheit, ... so will er lieber auf das Leben verzichten als auf dieses Ziel. Und so mutet er denn sich und dem Führer auf diesem Weg die äußerste Anstrengung zu und läßt nicht locker, bis er entweder das Ziel erreicht oder die Fähigkeit erlangt hat, ohne den Wegweiser sein eigener Führer zu sein. Von dieser Anschauung durchdrungen... geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach,... bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine alltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächtnis, und sein Denkvermögen in innerer Nüchternheit bis zum denkbar höchsten Grade steigert (66), während die dieser entgegengesetzte ihm für immer aufs Tiefste verhaßt ist.

8.1.2. Woran man den Ausschuß erkennt

Ganz anders diejenigen, die mit der Philosophie nicht wahrhaft verwachsen sind, sondern sich in dem nur äußerlichen Farbenschimmer bloßer Meinungen gefallen, gleichend den Leuten, deren Körper von der Sonne gebräunt ist: wenn sie den Umfang des Wissensgebietes und das hohe Maß der erforderlichen Anstrengung gewahr werden und sehen, daß die streng sittliche Lebensweise die einzig für diese Aufgabe passende ist, so erscheint ihnen die Sache schwierig und über ihre Kräfte hinausliegend ; sie versagen also im Dienste der Philosophie; einige von ihnen aber betrügen sich selbst mit der Einbildung, sie hätten durch das Gehörte schon eine genügende Vorstellung des Ganzen und könnten sich weitere Bemühungen sparen.

Das ist die klare und die sicherste Art der Vergewisserung bei Genußmenschen, die zu ansharrender Anstrengung unfähig sind. So geprüft, können sie die Schuld nie auf den Führer schieben, sondern nur auf sich selbst, auf ihre Unfähigkeit nämlich, alles für die Erfüllung der Aufgabe Erforderliche zu leisten.


Wir erhalten in diesen Abschnitten einige sehr intime Einblicke in seine Lehrmethode, wie er prospektive Schüler auf ihre Eignung prüft. Weiterhin gibt diese Stelle einen Einblick in das, was man das "Yoga" der platonischen Philosophie nennen könnte, also den Lebenswandel, den der Kandidat führen sollte (oder muß) um sein Ziel zu erreichen. Vergleichen wir diese Stellen mit anderen, so aus den indischen Yoga-Schriften oder aus den buddhistischen Mönchs-Anweisungen, so fällt auf, daß hier wie dort ungefähr dasselbe erscheint. Das ist wohl auch nicht sonderlich verwunderlich, da Plato seine Anweisungen sicher von den Pythagoräern hatte, welche sie von den Ägyptischen Mysterienpriestern übernommen haben.

8.2. Von der Problematik der Schriftlichkeit

In diesem Sinne wurde denn auch damals mein Vortrag (67) vor Dionysios gehalten. Ich trug ihm also nicht alles vor und Dionysios verlangte auch nicht danach. Denn vieles und gerade das Wichtigste gab er sich den Anschein schon zu wissen, zur Genüge unterrichtet durch das, was er gelegentlich von den anderen gehört hatte. Späterhin hat er, wie ich höre, über das damals Gehörte sich auch schriftstellerisch ausgelassen, als wäre das in der Schrift Mitgeteilte seine eigene Erfindung, die mit dem Gehörten nichts zu tun hätte. Mir selbst ist nichts davon vor Augen gekommen. Gewisse andere Leute haben allerdings, wie ich weiß, über eben diese Gegenstände geschrieben, doch wissen sie selbst nicht über sich Bescheid (68). So viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben über den Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben.

8.2.1. Die völlig andere Natur der Lehre, die die Schrift transzendiert

Denn es steht damit nicht so, wie mit anderen Lehrgegenständen: es läßt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst. So viel weiß ich indes, daß es am besten immerhin noch von mir selbst vorgetragen würde, nicht minder auch, daß es bei schlechter schriftlicher Abfassung mir sehr viel Herzenskummer bereiten würde.

8.2.2. Das Wesentliche ist nicht aufschreibbar

Wäre es aber meiner Ansicht nach möglich, diese Dinge in einer für das Publikum befriedigenden Weise niederzuschreiben oder mündlich vorzutragen, was könnte ich dann für ein schöneres Werk aufweisen in meinem Leben als der Menschheit durch solche Schrift ein großes Heil zu bescheren und das Wesen der Dinge für alle ans Licht gezogen zu haben? Aber meines Erachtens bringt ein dahin gerichteter (69) Versuch schwerlich einen Gewinn für die Menschen, höchstens für die wenigen, die auf einen kleinen Wink hin selbst imstande sind es zu finden; die übrigen aber würden dadurch sehr zum Schaden der Sache teils mit einer übel angebrachten Verachtung der Philosophie erfüllt werden teils mit einem ganz übertriebenen und hohlen Selbstbewußtsein, als wären sie im Besitze wer weiß welcher hohen Weisheit.

Doch empfiehlt es sich, wie ich mir sage, mich darüber noch etwas ausführlicher auszulassen. Denn vielleicht dürfte meine obige Behauptung (70) durch diese Ausführung noch mehr Licht erhalten. Es gibt eine unwiderleglich wahre Gegeninstanz gegen jeden Versuch, irgend etwas der Art schriftmäßig zu behandeln, oft genug von mir schon früher besprochen, doch wert, wie es scheint, auch jetzt wieder zur Sprache gebracht zu werden.

8.2.3. Die notwendigen Voraussetzungen der Erkenntnis

Für jedes Ding kommen als notwendige Voraussetzungen seiner Erkenntnis drei Punkte in Betracht (71), -- - als vierter Punkt aber die Erkenntnis selbst, - als fünftes muß man dasjenige setzen, was der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis und das wahrhaft Seiende ist --

1) nämlich erstens der Name (onoma), 2) zweitens der Begriff (logos), 3) drittens das Abbild (eidolon), ---------------------------------------------------------------------------------- 4) viertens die wissenschaftliche Erkenntnis (episteme) (72). 5) das Seiende, die Idee

Will man sich das damit Gesagte klar machen, so halte man sich an ein bestimmtes Beispiel, das uns zum Verständnis aller möglichen Fälle verhelfen soll.

ad 1) "Kreis" z. B. ist ein sprachlich bezeichnetes Ding, dem eben der Name zukommt, den wir jetzt aussprechen.

ad 2) Das Zweite ist dann der Begriff des Kreises, der sich zusammensetzt aus Haupt- und Zeitwörtern, nämlich "was allseitig von den Endpunkten bis zum Mittelpunkt die gleiche Entfernung hat", das dürfte wohl der Begriff dessen sein, was den Namen "Rund", "Gleichförmig gebogen" und "Kreis" trägt.

Wir würden hierzu eher "Definition" sagen.

ad 3) Ein drittes ist dann das körperliche Bild, gezeichnet und wieder weggewischt, oder vom Drechsler hergestellt und der Vernichtung preisgegeben, Veränderungen, von denen der Kreis an sich, auf den sich alles dies bezieht, nicht betroffen wird, da er etwas davon Verschiedenes ist.

ad 4) Das Vierte sodann ist die wissenschaftliche Erkenntnis und die vernünftige Einsicht und die wahre Meinung von diesen Dingen, alles Tätigkeiten, die sich zusammenschließen zu einer Einheit, welche nicht in sprachlichen Lauten oder in körperlichen Gebärden sich geltend macht, sondern in der Seele ihren Sitz hat, wodurch denn klar wird, daß sie verschieden ist sowohl von der Natur des Kreises selbst (72) wie auch von jenen vorhergenannten Punkten.


Die Erkenntnis ist das Gedankenbild, das sich in der Seele formt. Dieses ist wohl zu unterscheiden von dem sinnlich wahrnehmbaren Bild, das man malen, sprechen, singen, oder in Material schaffen kann. Plato unterscheidet es noch von der Idee, indem er betont, daß die Idee nicht "unsere" ist, sondern für sich ist.

ad 5) Am nächsten nun nach Verwandtschaft und Ähnlichkeit steht dem fünften (der Idee) die vernünftige Einsicht, während die anderen Momente ihr ferner stehen.

Das Nämliche wie von der gerundeten Gestalt gilt natürlich auch von der geraden, und so auch von der Farbe, vom Guten und Schönen und Gerechten, von jedem Körper, dem künstlich hergestellten wie dem von Natur entstandenen, von Feuer, Wasser und allen Elementen, von jedem lebenden Wesen und jeder Seelenverfassung, von jedem Tun und Leiden.

Denn wer an einem dieser Dinge nicht irgendwie jene vier Abstufungen erfaßt. hat (74), der wird niemals der Erkenntnis des fünften in vollem Maße teilhaftig werden. Dazu kommt noch, daß diese vier unteren Stufen ebenso sehr darauf ausgehen die qualitative Beschaffenheit eines jeden Dinges aufzuzeigen als das eigentliche Wesen desselben und zwar mit Hilfe der unzulänglichen sprachlichen Darstellungsmittel (75).

Daher wird kein Vernünftiger es jemals wagen das von ihm mit dem Geiste Erfaßte diesen unzulänglichen sprachlichen Mitteln anzuvertrauen und noch dazu, wenn dieselben ein für allemal festgelegt sind, wie es bei dem in Buchstaben Niedergeschriebenen der Fall ist. Zum Verständnis dessen soll uns wieder das obige Beispiel verhelfen. Jeder Kreis, der mit Mitteln der Sinneswelt gezeichnet oder von dem Drechsler hergestellt wird, zeigt eine Fülle von Eigenschaften, die in Widerspruch stehen mit jener fünften Erkenntnisstufe -- denn der sinnliche Kreis gerät überall in das Gehiet des Geraden (76) -- während, wie wir behaupten, der Kreis an sich von der gegensätzlichen Natur gar nichts an sich hat, weder viel noch wenig.

8.2.4. Namen sind relativ und austauschbar

Was aber den Namen der Dinge anlangt, so hat dieser keinen festen Bestand, vielmehr kann, was jetzt rund heißt (77), ohne weiteres auch gerade heißen und was gerade heißt, rund. Die Wortvertauschung und entgegengesetzte Benennung ändert an dem festen Bestand der Sache selbst gar nichts. Und auch mit der Begriffsbestimmung (Definition) steht es ebenso (78): sofern sie sich aus Haupt- und Zeitwörtern zusammensetzt, entbehrt sie durchaus der vollen Festigkeit. Und so läßt sich noch Tausenderlei anführen zum Erweis der mangelhaften Deutlichkeit dieser vier Stufen.

Die Hauptsache bleibt aber doch immer das, was wir kurz vorher anführten. Nämlich während die Seele, was die zwei genannten Beziehungen, das Wesen und die Beschaffenheit, anlangt, nicht nach der Beschaffenheit sondern nach dem eigentlichen Wesen forscht, beruft jede der vier Erkenntnißstufen in Wort und Wirklichkeit sich auf das nicht Gesuchte und da sie das Gesagte oder Vorgezeigte auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung leicht widerlegbar macht (79), bringt sie fast ausnahmslos jedermann in einen Zustand der Ratlosigkeit und Unsicherheit.

8.2.5. Kein Schutz gegen Sophisterei bei Dingen der fünften Stufe

Bei Gegenständen nun, bei denen wir infolge mangelhafter Vorbildung überhaupt gar nicht gewohnt sind nach der Wahrheit zu forschen, so daß schon das vorgehaltene Abbild genügt, kommt es nicht dahin, daß sich die Mitunterredner von den Hauptunterrednern, die sich auf die Zurückweisung und Widerlegung der vier Unterstufen verstehen, lächerlich gemacht sehen. Bei solchen Gegenständen dagegen, wo wir dem Antwortenden keine andere Möglichkeit lassen als auf die fünfte Erkenntnisstufe sich einzulassen und sich darüber zu erklären, da hat immer der Widerlegungskundige, wenn er nur will, gewonnenes Spiel (80) und stellt den, welcher in Rede, Schrift oder Antwort seine Gedanken zum Ausdruck bringt, der Mehrzahl der Zuhörer als einen Stümper hin auf dem von ihm in Schrift oder Wort be rührten Gebiet. Dabei haben die Hörer mitunter gar keine Ahnung davon, daß eigentlich nicht das, was die Seele denkt, widerlegt wird, sondern die von Haus aus unzulängliche Natur einer jeden der vier Erkenntnisstufen.

Und mag die Beschäftigung mit diesen Fragen auch in alles eingedrungen sein und sich immer wieder bald diesem bald jenem Punkt zugewandt haben, so kommt es doch kaum dahin, daß sie ein wirkliches Wissen des seiner Natur nach Vollkommenen erzeugt und auch dies nur in einem von Natur reich beanlagten Geist. Wo es aber mit der natürlichen Anlage schlecht bestellt ist, wie es bei der großen Masse hinsichtlich der Empfänglichkeit der Seele für wissenschaftliche Belehrung und für die sogenannte Sittlichkeit teils von Haus aus, teils infolge zerstörender Einflüsse der Fall ist, da kann auch ein Lynkeus (81) dem trüben Auge nicht zu voller Sehkraft verhelfen. Kurz und gut: wer sich nicht innerlich mit der Sache verwandt fühlt, den kann auch Fassungskraft und Gedächtnisstärke hier nicht zum Ziele führen; denn bei widerstrebender Geistesrichtung schlägt die Philosophie in der Seele überhaupt nicht Wurzel. Wer also nicht innerlich verwachsen und verwandt ist mit dem Gerechten und sittlich Schönen überhaupt, mag auch der eine von ihnen für dieses, der andere für jenes Wissensgebiet mit leichter Fassungskraft und Gedächtnisstärke begabt sein, ja auch wer sich ihm verwandt fühlt, dabei aber der Fassungskraft und Gedächtnisstärke ermangelt, der wird, und zwar ohne Ausnahme, niemals den denkbär höchsten Grad der Erkenntnis von dem wahren Wesen der Tugend und des Lasters erreichen ; denn beide, Tugend und Laster, gehören für die Erkenntnis notwendig zusammen (82), wie denn für das ganze Seinsgebiet Irrtum und Wahrheit gleichzeitig und verbunden miteinander in unermüdlicher Anstrengung und mit reichlichem Zeitaufwand erkannt werden müssen, wie ich gleich zu Anfang bemerkte (83).

8.2.6. Der langwierige Prozess des Verstehens

Und erst wenn alles Einzelne, Namen, Begriffsbestimmungen, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in mühsamer Arbeit nach ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander in einem trotz aller Widerlegungen stets versöhnlichen Tone erörtert und ohne alle Gereiztheit bei Fragen und Antworten (84) durchgeprüft ist -- erst dann lassen Einsicht und Vernunft ihr Licht erstrahlen über jeglichen Gegenstand, mit einer Kraft, die sich bis zur Grenze des für Menschen überhaupt Erreichbaren steigert. Daher ist denn jeder ernsthafte Mann weit entfernt, durch Veröffentlichung schriftlicher Auslassungen über hochernste Dinge diese der Streitsucht und den Zweifeln der Menschen preiszugeben. Kurz, es ergibt sich aus dem Gesagten folgende Lehre: wenn man auf schriftliche Auslassungen stößt, sei es von einem Gesetzgeber zur Erläuterung von Gesetzen (85) oder sonst auf Schriften irgend welcher Art, so war diese Schriftstellerei, wenn anders er selbst ein ernsthafter Mann ist, nicht sein voller Ernst... hat er das aber wirklich in vollem Ernst als Schriftwerk veröffentlicht, dann haben -- zwar nicht die Götter, wohl aber -- sterbliche Menschen ihn aller Besinnung beraubt (87).

BIB:PLATO-BRIEF E, Brief 7, p. 77
Plato vermittelt uns eine Sicht des Wissens "von Innen". Was aber der Meister als lebendiges Gebilde in seiner Seele nährt, kann nur Bruchstück- und Scheibchen- weise über das Medium der Sprache an seine Zuhörer übertragen werden. Die können dann nur versuchen, diese Bruchstücke in ihrer Seele wieder architektonisch zusammenzusetzen. Der Meister muß immer wachen und Feedback einholen, und prüfen, ob die Schüler das Wissen auch richtig wieder zusammensetzen. Wenn die Schüler aber ein Buch lesen, wenn sie keinen Meister haben, kann schon beim ersten Satz, bei der ersten Seite ein systematischer Fehler auftreten, der ihnen die Erkenntnis durch alle tausend oder zehntausend Seiten des folgenden Textes verbaut. Kant ist es offenbar gelungen, die Architektonik des Wissens und des Wißbaren zu rekonstruieren, und über Kant hinausreichend ist da noch das ungeheure Feld dessen, was wir nie werden wissen können, dessen Architektonik uns aber dennoch zugänglich ist.

8.3. Plato der Kreter

Wir müssen jetzt die große Frage des Leerstellendenkens stellen, die Frage, die uns allwöchentlich im "Wort zum Sonntag" präsentiert wird: Was sagt uns all dieses? Erklärt uns Plato hier mit freundlichen Worten, daß all die anderen Schriften, die er uns hinterlassen hat, diese tausende von Seiten, die hunderttausende von Worten, nichts als Schall und Rauch sind? Wir haben hier in etwas anderer Form, eben platonisch, das alte logische Rätsel: "Alle Kreter sind Lügner". Plato selber erzählt uns in aller Deutlichkeit, daß seinen Schriften nicht zu trauen ist. Dies ist ein Fall par Excellence für das Leerstellendenken. Wenn es sich im eine Frage des Wissens handelte, dann könnte man es mit den normalen aristotelischen Methoden abhandeln. Hier aber haben wir eine große, unübersehbare, nicht wegzudividierende, und wegzuinterpretierende systematische Leerstelle im Gedankengebäude des Plato. Wozu dienen aber dann all die Werke Platos? Plato hat sich ja diese große Mühe nicht nur aus Jux und Zeitvertreib gemacht. Er wollte etwas für seine Schüler hinterlassen, so daß diese, wenn sie den Schlüssel einmal hatten, den Zugang zu dem großen Palast der Mnemosyne erhalten konnten, den er erbaut hatte. Aber was ist aus dem Schlüssel geworden? Haben wir hier die berühmte aristotelische Kiste vor uns, in der wir stecken, und deren Anleitung zum Öffnen an der Außenseite steht?

8.3.1. Plato und die Metanoia

Vergleichen wir die Aussagen des siebten Briefs mit solchen, die wir von Buddha kennen, so fällt sofort der identische Ton auf. Auch Buddha betonte immer und immer wieder, daß das Wesentliche nicht aussagbar und nicht aufschreibbar sei. Deshalb wurde im Buddhismus die Lehre von der Shunyata geformt. Wir finden hier den Kernsatz, der darauf hinweist, daß Plato mit seinem System so etwas wie eine Einweihung verband, die aber nicht von außen gesteuert werden konnte, sondern spontan, von innen, erfolgen muß:
Dann... tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.
Der griechische Begriff hierfür ist metanoia. Dieser Kernsatz weist übrigens direkt auf die Logoslehre des Heraklit und seinen Ausspruch: "Das Feuer ist vernunftbegabt", wobei wir hier mit "Vernunft" eben den transzendenten Aspekt zu sehen haben, den Plato oben andeutet. Die Autonomie des Prozesses: "es nährt sich von selbst" ist genau die Beobachtung, die die Menschen seit einer Million Jahren mit dem Feuer gemacht haben, und warum es für sie göttliche Natur hatte.

8.3.2. Wer oder was ist Timaios?

Wir wollen uns ein paar im Folgenden einige Begriffe aus dem Timaios ansehen, die wichtig erscheinen. Taylor nahm an, daß Timaios ein eleatischer Staatsmann gewesen ist. Wenn wir ins Wörterbuch schauen, so finden wir die Wortwurzel timao:
timao: Wägen, Erwägen, Richten, Belohnung, Strafe
timios: geschätzt, Wert habend.
timetos: Prozeß, wo die Strafe der Schätzung des Richters überlassen bleibt.
Bei Gerichtsverfahren, wie auch Sokrates' Verurteilung hatte dieses timao eine entscheidende Bedeutung: Es war ein langer Strich auf der Stimmtafel, mit der über den Angeklagten entschieden wurde.
Plato spricht im Timaios ausdrücklich von der Sphäre des relativen Urteils, und spricht das Verfahren des timetos in 27b und 29d implizit an (euch, meine Richter...).

8.3.3. Demiourgos und Tekton

Eine weitere Frage drängt sich auf, warum Platon für seinen Werkmeister das recht seltsame Wort demiourgos verwendet hat, und nicht tekton. Leider kann ich das nur als Frage formulieren, weil mein Wörterbuch zu dem etymologischen Bedeutungsfeld von demiourgos nichts aussagt. Das kann darauf hinweisen, daß es kein besonders gebräuchliches griechisches Wort gewesen ist. tekton ist dagegen ein sehr gebräuchliches Wort. Um nicht zu sagen: Es ist eines der Schlüsselworte des gesamten Abendlandes. Nicht zu vergessen daß der Titel unserer Schrift "Die Archae-Tektonik" lautet, also eine direkte Verbindung zu diesem Begriff herstellt.
Plato spricht in Timaios von dem tekton einmal, in 69a. Dort kommt auch der von Aristoteles so bekannte Begriff der hyle vor. Immerhin ist der tekton derjenige, der der hyle die morphe gibt. Und das sind offenbar die Kernbegriffe der aristotelischen Philosophie. Plato scheint damit noch nichts anfangen zu wollen, denn für ihn ist die hyle noch genau das, was es für die Griechen schon immer war: Bauholz.

Da nun vor uns wie vor Zimmerleuten als Baumaterial die Arten der Ursachen gesondert bereitliegen, aus denen die noch verbleibende Untersuchung zusammengewebt wer- den muß, so wollen wir in aller Kürze wieder zum Aus- gangspunkt zurückkehren und uns rasch an die gleiche Stelle begeben, von woher wir hierher gekommen sind...


Wir können, wenn wir wollen, einmal zurückblättern, und eine auffallende Parallele in der Architektonik Kants mit der Wortwahl im Timaios feststellen. Anscheinend hatte er mit seiner Architektonik das Programm des Timaios weitergeführt.

Es ist schlimm, daß nur allererst (erst dann), nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee... viele dahin sich beziehenden (darauf hinzielende) Erkenntnisse, als Bauzeug (Rohmaterial) gesammelt (und)... zusammengesetzt haben, es uns dann allererst (letztendlich) möglich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.

A835/B863
Suchen wir uns die entsprechenden Begriffe zu tekton aus dem Wörterbuch, die reichlich vorhanden sind. Wir müssen beachten, daß es drei verschiedene Schreibweisen gibt. Mit kappa, chi, und xi:
tekton: Zimmermann, Baumeister, Schöpfer, Erzeuger
tektaino: zimmern, schmieden
tektonike: Die Kunst, Holz zu bearbeiten (hyle und morphe)
tekmar: Ein Ziel setzen, ein Zeichen bestimmen, schließen, vermuten, beurteilen
schließen aus Kennzeichen
tekno: Kinder zeugen
techne: Kunst, Gewerbe, Geschick, List, Betrug
Von Hugo Kükelhaus habe ich einmal gehört, daß techne auch die Segelkunst, also das "gegen den Wind kreuzen" bedeutet. Das habe ich aber in keinem Wörterbuch wiedergefunden.
texis: Schmelzen, Zerfließen
etaxen: durch Auflösung in etwas übergehen.
taxis Ordnung
Schauen wir uns diese Liste an, so sehen wir ein eindrucksvolles Bedeutungsfeld, das uns das Wesen der modernen europäischen Kultur spiegelt. Wir sind eine Kultur der technetes, der Techniker. Die Bedeutung der texis ist für uns insofern von speziellem Interesse, weil hier ein Umwandlungs- und Transformationsprozess angesprochen ist, der oben in der metanoia erwähnt wurde.

8.3.4. stoicheia - eine platonischen Wundertüte?

Nun kommen wir zu einer sehr wichtigen Stelle. In 48b verwendet Plato den sehr interessanten Begriff stoichea. Die Frage des Leerstellendenkens ist: Warum hat Plato hier nicht den Begriff grammata verwendet? Die Bedeutung dieses Abschnitts ist nicht zu unterschätzen. Zusammen mit 27/28 haben wir hier die architektonische Klammer, die den ganzen Timaios zusammenhält.
Der Blick ins Wörterbuch enthüllt ein äußerst interessantes Bedeutungsfeld dieses Begriffs:
stoicheoma: Element, Grundstoff
stoicheoo: die Anfangsgründe lehren
stoicheomata: die 12 Zeichen des Tierkreises
stoicheon: Buchstabe
stoichos: Stab an der Sonnenuhr, der den Schatten wirft, mit dem die Zeit angezeigt
wird.
Das Bedeutungsfeld sagt allein für sich schon Bände. Die erste Bedeutung rückt den Begriff in unmittelbare Nähe zur archae, wie Plato auch selber erwähnt. Die Tierkreiszeichen lassen sich nur in Verbindung mit der Sonnenuhr erklären. Dazu müssen wir aber sehr weit und tief zurückgreifen. Die Sonnenuhr wurde von Anaximander in Griechenland eingeführt. (BIB:HÖLSCHER-ANAXI M, p. 172) Dieser hatte sie wiederum aus Babylon. Das Ziffernblatt der Sonnenuhr aber ist eingeteilt in zwölf Abteilungen, entsprechend den Stunden des Tages. Gleichsam gilt die alte 12er-Einteilung aber auch für die babylonischen Tierkreiszeichen. Eingangs hat uns Plato den Timaios als den Sternkundigsten (27a) eingeführt. Und die Sternkunde lernte man damals eben am besten in Babylon, bei den Chaldäern. Wir können hier von einem kleinen, unauffälligen trojanischen Pferdchen, oder einer platonischen Wundertüte sprechen, in die einiges eingepackt ist, das sich uns erst nach einigem Wühlen enthüllen wird. Wir haben hier mehr oder weniger verhüllt, einen Hinweis auf die babylonische Kosmologie, die offenbar eine entscheidende Rolle in dem spielt, was Plato uns im folgenden eröffnen möchte.
Bevor wir uns das ansehen, noch zu dem schwersten Brocken: Wieso gibt es hier die Bedeutung des Buchstabens? Dazu nehmen wir uns das Bild der Sonnenuhr zu Hilfe. Wir sehen einen Stab, auf den die Sonne scheint, und der Stab wirft einen Schatten. Dann schauen wir in das Höhlengleichnis und sehen, was Plato meint: Die Buchstaben in einem Wort sind wie der Stab, der von der Sonne des reinen Logos angeleuchtet wird, und der Schatten, den sie auf dem Ziffernblatt werfen, ist die Bedeutung, die sie in unserem Bewußtsein erhalten. In seinem siebten Brief spricht er von der Mehrstufigkeit von Name, Begriff, geistigem Abbild und Idee. In dem Begriff der stoichea existiert ein äußerst komplexes Gleichnis von Sonne, Stab, Schatten und Bedeutung (Uhrzeit).
Schauen wir uns nun den Kontext an, in dem das Wort stoichea auftaucht:

So müssen wir also wieder zurückgehen und, indem wir für eben dieses einen zweiten angemessenen Anfang nehmen, so wie wir es beim Vorigen taten, jetzt bei diesem wieder von Anfang beginnen. Wir müssen also die Natur des Feuers und Wassers, der Luft und Erde für sich, vor dem Ent- stehen des Himmels, und ihre diesem vorausgegangenen Zustände betrachten. Denn bis jetzt hat noch niemand ihr Entstehen kundgetan, sondern als ob man wisse, was doch das Feuer und jedes, von ihnen sei, sprechen wir von ihnen als Ursprüngen, indem wir sie als Buchstaben (Grundbestand- teile) des Alls ansetzen, obwohl es nicht angemessen ist, daß der nur wenig Verständige auch nur mit den Gestalten der Silben sie treffend vergleiche.


Die erste Frage bei diesem Text drängt sich sofort auf: Mein Plato ganz unschuldig, daß er hier nur einen neuen Anlauf nehmen will, um die Geschichte zu klären, oder meint er hier, daß er hier eine zweite, höhere und tiefere Stufe der archae erläutern will? Daß er hier also "richtig in die Vollen" gehen wird? Gleich darauf folgt aber jener ominöse Satz, in dem er aussagt, daß er über den Ursprung der Ursprünge eigentlich nichts sagen möchte, was ja auch nach den Aussagen im siebten Brief jetzt sehr plausibel ist:

Jetzt sei demnach unser Verfahren folgendes : Über den ,,Ursprung von allem" oder die "Ursprünge" oder wie man es sonst damit hält, soll jetzt nicht gesprochen werden, und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil es schwierig ist, unsere Meinung bei der gegenwärti- gen Weise der Behandlung deutlich darzulegen.


Die Moglichkeiten sind verschiedene: Es könnte z.B. sein, daß die archae dreistufig ist. Über die allerletzte Stufe mag er uns nichts zu erzählen, aber über Stufe zwei läßt er sich noch aus. Das Leerstellendenken versucht nicht, Fragen dadurch zu lösen, daß es eine Antwort auf sie sucht, sondern es versucht, alle Fragen in einen architektonischen Zusammenhang zu bringen. In dem Augenblick, wo dieser Zusammenhang entdeckt ist, lösen sich alle Fragen schlagartig von selber. Das wollen wir auch hier machen.
Wir haben jedenfalls die Grundelemente vor uns, Feuer, Wasser, Luft und Erde, aus denen im ersten Teil (31b) der Körper des Alls gefertigt wurde. Dort hatte er sie als gegeben vorausgesetzt, ohne sich um ihre Eigenarten zu kümmern. Das holt er jetzt nach. Feuer, Wasser, Luft und Erde sind nun die Elemente, die die Vorplatoniker wahlweise mit der archae gleichgesetzt hatten. Hier sagt Plato, daß das nicht richtig ist. Der Schlüssel liegt in folgendem Satz, der philologisch äußerst verwickelt ist, und darauf untersucht werden sollte, ob nicht eine andere Übersetzung besser paßt:

... sprechen wir von ihnen als Ursprüngen, indem wir sie als Buchstaben (Grundbestandteile) des Alls ansetzen, obwohl es nicht angemessen ist, daß der nur wenig Verständige auch nur mit den Gestalten der Silben sie treffend vergleiche.

8.3.5. Das ABC des Timaios

Stellen Sie sich vor, liebe/r Leser/in: Sie wohnen einer Abschlußprüfung für Philosophie in den hohen und hehren Hallen einer Alma Mater bei, und der Prüfungskandidat bekommt die Frage: "Erklären Sie doch bitte die Bedeutung des Timaios." Und der Kandidat erklärt freundlich, aber bestimmt: "Ach ja, das ist ganz einfach. Das ist doch wie das ABC." Punkt. Die Reaktionen im erlauchten Prüfungskollegium wären wie bei der berühmten Prüfungsszene von Wilhelm Busch: Allgemeines Schütteln des Kopfes auf diese Antwort des Kandidaten Jobses.
Und trotzdem. Sie haben sich nicht verhört, und es war auch kein Scherz. Die Antwort ist wirklich das ABC. Und es ist einfach, und man muß nur darauf kommen. So wie bei Columbus mit seinem Ei. Wie, das wollen wir jetzt ein wenig erläutern. Wir gehen von dem obigen Satz im Timaios aus, wo Plato die Grundelemente mit den Buchstaben vergleicht. Offenbar nimmt er hier das Muster der alphabetischen Schrift als direktes Vorbild für den Aufbau des Kosmos. Dies können wir nur klären, wenn wir uns noch ein wenig tiefer in die archae begeben.


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