6. Kultur
im Spannungsfeld von Tradition und Innovation
Wahre
Tradition scheidet Bleibendes von Vergänglichem.
Franz
Kardinal König
[323]
Der
Schwerpunkt dieser Arbeit lag bei den "
Formen
der kulturellen Transmission".
In diesem letzten Abschnitt soll eine kurze Darstellung der Innovation folgen.
Bazon
Brock erinnert uns in seiner "Theorie der Avantgarde" daran,
[324]
wie die kulturelle Tradition aus dem "Jetzt" bestimmt wird:
Traditionen
sind nichts anderes als die sich aus der jeweiligen Zeitgenossenschaft nach
rückwärts ergebenden Auffassungen von den Zusammenhängen
historischer Ereignisse... Traditionen wirken nicht, wie der gesunde
Menschenverstand behauptet, aus der Geschichte in die jeweiligen Gegenwarten,
sondern aus der Gegenwart in das Gefüge historischer Sachverhalte,
insofern sie sie zur "Geschichte" zusammenschließen.
[325]
Unter
Verweis auf Klotz führt Brock weiter aus:
Das
Neue in den Künsten der jeweiligen Zeitgenossenschaften wird nur
substantiell erfahren in den jeweils neuen Kunstgeschichten. Die Funktion des
zeitgenössisch Neuen besteht darin, dasjenige Alte aneignen zu
können, zu dem wir ansonsten keinen Zugang hätten. Erst darin werden
auch die alten Bestände über ihre historische Faktizität hinaus
zu geschichtlichen Ereignissen in ihrer Unverwechselbarkeit und jeweiligen
Einmaligkeit. Die historischen Bestände werden erst aus der Blickrichtung
des zeitgenössisch Neuen als unwiederholbare und deswegen bewahrenswerte
bestimmbar. Deshalb unsere These: Avantgarde ist nur das, was uns
veranlaßt, die angeblich gesicherten Bestände der Tradition auf neue
Weise zu sehen, d. h., neue Traditionen aufzubauen.
Im
vorliegenden Kontext soll diese Darstellung auf den gesamten Bereich der
kulturellen Transmission ausgedehnt werden. Es ist die (anzustrebende) Aufgabe
der Avantgarde, den Gesamtbestand der kulturellen Transmissionen aus der
Perspektive
[326]
des "Jetzt" zu erfassen, zu bewerten, und neu zu kreieren und zu inszenieren.
[327]
Natürlich ist dies angesichts der ungeheuren Massen akkumulierter
"Kulturgüter" in Bibliotheken, Museen, und Archiven eine eher uchronische
Vorstellung.
[328]
Aber diese Formulierung eignet sich gut dazu, den anderen, dynamischen Pol des
"Spannungsfelds von Tradition und Innovation" darzustellen, dessen statischer
Gegenpol die
Bibliosphäre
der gesammelten materiellen Aufzeichnungen und Darstellungen menschlicher
kultureller Produktion der letzten ca. 5000 Jahre ist.
[329]
Doch
hier treten noch andere, sehr viel akutere Spannungen auf, nämlich die der
sozialen Gruppen einer Gesellschaft, die als Agenten der jeweiligen Pole
handeln. Dieser Aspekt des "Spannungsfelds von Tradition und Innovation"
läßt sich in Paraphrase von Wilhelm Busch darstellen: "
Innovation
wird als gefährlich oft empfunden, weil stets sie mit Veränderung
verbunden
".
Es
lassen sich die folgenden Fragen stellen:
1)
Wer wünscht Veränderung, (
Druck,
Drang),
wer möchte sie verhindern (
Inertia,
Widerstand)?
Generell sind die unterprivilegierten und jungen Gruppen einer Gesellschaft
mehr an Veränderung interessiert als die alten und privilegierten. In
diesem Spannungsfeld entsteht Konfliktpotential: zwischen Generationen, und
zwischen {Klassen / Schichten / Interessensgruppen} einer Gesellschaft.
[330]
2)
Wer ist
befähigt,
Innovation einzuleiten/ durchzuführen, wer hat die Erlaubnis (
Lizenz)
dazu? Zwar haben unterprivilegierte Gruppen sicher den größten
Drang
nach Veränderung der Verhältnisse, aber es ist zu bezweifeln, ob
damit auch die
Befähigung
verbunden ist, wie die Erfahrung nach diversen Revolutionen zeigt, bei denen
die neuen Herrschaftsschichten sich meist als erheblich unfähiger und
korrupter als die alten erwiesen. Als Gegenbeispiel hat z.B. in einer streng
hierarchischen Organisation wie der römisch-katholischen Kirche der Papst
die oberste unanfechtbare Autorität, und damit die
Lizenz,
zur Einführung von Veränderungen, aber die geschichtliche Erfahrung
zeigt, daß (aus welchen Gründen auch immer) davon recht selten
Gebrauch gemacht wurde.
3)
Welche Bereiche einer Gesellschaft sind für Innovation offen (und erleben
schnelle Veränderungen), welche nicht
?
[331]
Hier ist als bestes Beispiel der Bereich der
Mode
zu nennen, der aber sicher (und wohlkalkuliert) keine Bereiche politischer
Relevanz tangiert.
4)
Aufgrund welcher Bedingungen / Umstände treten Veränderungen welcher
Art, und welcher Tragweite auf? Hier gibt es äußere Einflüsse,
wie z.B. Klimafaktoren, und Seuchen, sowie Kontakte mit anderen Gesellschaften,
incl. Kriege und Eroberungen, und innere, wie Revolutionen und kulturelle und
technisch- wirtschaftliche Veränderungen.
[332]
5)
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen den Eigenschaften der Hauptmedien
der kulturellen Transmission und ihrer Flexibilität bzw.
Regenerativität? Einige Faktoren wurden schon oben genannt unter:
"Faktoren der Dynamik in der kulturellen Transmission". Allgemein ist eine
Korrelation von dynamischen (heißen) Gesellschaftsformen und
vorherrschender Transmission mit speichernden Medien (Schrift), sowie von
statischen (kalten) Gesellschaftsformen und performativer Transmission zu
beobachten.
[333]
Ein wesentlicher Aspekt dieser Verknüpfung ist, daß performative
Transmission immer mit intensiver persönlicher Verbindung zwischen Lehrer
und Schüler verbunden ist, und meist persönliche
Abhängigkeitsverhältnisse involviert, während das Lernen
über Bücher depersonalisiert ist und vom Lernenden autonom gesteuert
werden kann.
[334]6)
Und natürlich die Kernfrage:
Welches
sind die wirklichen Wirk-Mechanismen der sozio-kulturellen Dynamik
?
Diese
Frage, nach den
Wirk-Mechanismen,
stellt heute eine besonders heiß umkämpfte wissenschaftspolitische
Front dar
.
[335]
Ein Kernthema ist die Grenze zwischen phylogenetischer und ontogenetischer
Transmission, und im weiteren Sinne, zwischen "Natur" und "Kultur". Einige
Leitthemen dieser Auseinandersetzung heißen z.B. "Nature vs. Nurture",
Soziobiologie,
[336]
Sozialdarwinismus,
[337]
Memetik,
[338]
(Radikaler) Konstruktivismus,
[339]
"Die Welt als sozialer Diskurs", "Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit"
[340].
Im Zuge der "Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften" (Kittler
1980) dringen naturwissenschaftliche und biologistische Ansätze in den
Kulturbereich vor, während das sozialwissenschaftliche Lager z.T. herbe
politische Niederlagen einstecken muß (wie in der Sokal-Affäre).
[341]
Auf der anderen Seite zeigen Arbeiten wie die von Dieter Straub,
[342]
daß es im heute vorherrschenden physikalischen Grundlagensystem durchaus
politische Diskurse gibt, bei denen es ganz realpolitisch um die Kontrolle bei
der Verteilung politischer Macht und über Billionen-Geldwerte in Forschung
und Ausbildung (etwa die Vergabe der Ordinarienpositionen an den
Universitäten) geht. Straub demonstriert, wie in diesem Verteilungskampf
die Mathematik systematisch als Waffe eingesetzt wird, um über extreme
Formalisierung einen Bereich zu schaffen, der nur von einer extrem kleinen
Insider-Gruppe von Experten verstanden und kontrolliert werden kann, damit aber
einer demokratischen Kontrolle durch die Öffentlichkeit völlig
entzogen ist. Wie weiter oben, in "Der Bereich des Inter-Organischen"
dargestellt wurde, lassen sich die Prozesse der Biosphäre auch unter dem
Relationenparadigma
[343]
betrachten, obwohl bei den anfallenden ungeheuren Datenmengen das Unterfangen
mit den heute verfügbaren formalen Mitteln noch etwas impraktikabel
wäre. Das spricht aber nicht gegen die grundsätzliche Gangbarkeit des
Weges, für den andere formale Techniken auch noch erfunden werden
können (z.B. die Ansätze von Rene Thom).
Die
vielleicht wesentliche Bedeutung der Thermodynamik hierbei wurde schon genannt.
Daher sollen hier noch einige der Kernthemen aus dem Werk von
Gumilev
(1990) referiert werden, der auf Basis der Thermodynamik und Systemtheorie in
"Ethnogenesis and the Biosphere" ein kohärentes Bild der
Wirk-Mechanismen
der sozio-kulturellen Dynamik
darstellt
.
In seiner Darstellung werden kohärente Verhaltensmusterkomplexe, also
synchron und diachron (horizontal und vertikal) stabile
cultural
patterns
,
[344]
Ethnoi
genannt.
Wie
oben angedeutet, birgt der Aufbau von neuen Traditionen potenziell sozialen
Sprengstoff, denn: "
Innovation
wird als gefährlich oft empfunden, weil stets sie mit Veränderung
verbunden
".
Wirklich kritisch wird die Bildung von neuen Traditionen da, wo sich
Verhaltensmusterkomplexe (
cultural
patterns
)
bei ganzen Bevölkerungsgruppen herausbilden, die mit denen der
Restbevölkerung incompatibel sind.
[345]
In diesem Fall sieht sich die Mehrheit zu mehr oder weniger scharfen Sanktionen
gegen die "Abweichler" gezwungen, und für diese dreht es sich dann meist
ums nackte Überleben.
[346]
Solche Entwicklungen sind daher meist nur dann in die Weltgeschichte
eingegangen, wenn es der betreffenden Gruppe gelang, ihr Überleben und
ihre Vermehrung zu sichern, wie etwa in der biblischen Geschichte Israels, der
Entstehung des Christentums, des Islam, oder den amerikanischen Pilgrim
Fathers. Doch den bekannten, erfolgreichen Beispielen stehen tausende andere,
untergegangene, gegenüber, von denen wir nichts wissen, weil sie nicht in
die Geschichte eingegangen sind. Geschichtlich bekannt geworden sind aber viele
Fälle der Vernichtung ganzer Ethnien
,
das dunkle Menschheitskapitel der Genozide
.
[347]
Gumilevs
Theorie zeigt sowohl die Übergänge, als auch die wesentlichen
Unterschiede, zwischen der Entwicklung (phylo-) genetischer Populationen und
ontogenetischer
Ethnoi
(171-202). Ethnoi sind spezifisch der menschlichen Sphäre zuzuordnen, bei
Tieren gibt es nur Populationen (171). Frühere Theorien, die ein
Organismus-Modell der Kultur annahmen, übersahen die fundamentalen
Unterschiede (171).
[348]
Endogamie innerhalb eines Ethnos ist ein häufiges Phänomen, und
fördert die Stabilisation, Exogamie ist oft eine Degenerationserscheinung
(172). Gegnerschaft zwischen Ethnoi ist ebenfalls häufig und fördert
ebenfalls die Stabilisation (172). Die Bildung eines Ethnos geschieht über
unbewußte Attraktionsfaktoren (177-178).
[349]
Der kritische Faktor der Ethnogenese ist eine relativ seltene genetische
Veranlagung, die
Energeia:
"Tatkraft, Potential um
Werke,
oder
Taten
zu vollbringen" (203-243)
.
[350]
Selbstlosigkeit, oder Selbstaufopferungsbereitschaft, sind ebenfalls Aspekte von
Energia.
Personen mit
Energeia
werden
von ihrem Potential zu ungewöhnlichen Taten getrieben, und gehen oft dabei
zugrunde. Typische Vertreter waren Alexander, Hannibal, Sulla, Jeanne D'Arc,
Alexius Murzuphlus, Jan Huss, Napoleon (207-215). Aber nicht nur aufgrund der
hohen Todesrate gehen solche Individuen unter, sondern sie werden auch oft
marginalisiert, sind für die Normalbevölkerung untragbar, und sterben
kinderlos (224-225).
[351]
Daher tendiert ihr genetisches Potential dazu, in einer Population verloren zu
gehen (223-225). Dann aber setzt unweigerlich die Degeneration des Ethnos ein
(231-241).
[352]
Die meisten Menschen einer Population gehören anderen genetischen Typen
an, die Gumilev die "Harmonischen", die "Philister", und die "Degeneraten"
nennt (226-231). Die "Harmonischen" stellen die große Mehrheit in der
Bevölkerung, sie sind die guten Familienväter, anständig und
tüchtig,
[353]
die an die Wahrung des Besitzstandes ihrer Familie denken, und das Risiko
scheuen.
[354]
Die "Philister" sind solche, denen die Mehrung des Besitzstandes das
höchste Ziel ist, und deren Berufswahl meist in Richtung auf Banken,
Stock-Brokerage, Versicherungen, Kaufmanns-, Rechts- und
Bürokratiegeschäfte geht.
[355]
Die "Degeneraten" sind Landsknechtstypen, solche, die jede Form von Gewalt und
Niedertracht für die niedrigsten Zwecke bedenkenlos einsetzen (227-229).
Eine
mögliche Anwendung der Theorie Gumilevs wäre die Interpretation der
Geschichte Deutschlands der letzten 150 Jahre als ein
"Sozio-Design"-Programm
zur praktisch vollständigen Elimination des Potentials von
Energeia.
Nach 1848, in der Depression, und in der Zeit des Nationalsozialismus wanderten
über etwa vier Generationen mehrere Millionen der Intelligentesten,
Tatkräftigsten und Kreativsten aus. Die früheren Wellen bestanden
hauptsächlich aus den unterprivilegierten Gruppen der Bevölkerung,
während die Vertreibung der Nazizeit eine außerordentlich genaue
Selektionsfunktion auf die kulturellen Eliten ansetzte.
[356]
Dann wurden im 1. und 2. WK weitere Millionen von ihnen praktisch ausgerottet,
die begeisterungsfähigsten
und selbstaufopferungsbereiten der männlichen Jugend, diejenigen, die mit
dem sprichwörtlichen "Zarathustra im Tornister" in den Krieg zogen, und
nicht mehr zurückkamen. Die Überlebenden waren entweder zu jung, zu
alt, oder sonstwie untauglich, hatten mit Glück den Krieg überlebt,
bzw. sich im Kriegsgeschehen zurückgehalten, oder waren psychisch vom
Krieg "ausgebrannt"
.
Diese psychisch-genetische Mixtur prägte dann im Nachkriegsdeutschland
mit ihren Vorstellungen und Werten, und in zeitlicher Dauerwirkung, über
Gesetze und Institutionen das gesellschaftliche System Deutschlands. Heute
mehren sich die Stimmen, die über Verkrustungserscheinungen der deutschen
Gesellschaft klagen.
[357]
Elwert
(1997, 72) stellt zur heutigen gesellschaftlichen Situation in Deutschland
fest: "Der Schein trügt. Unsere Gesellschaft wirkt hyper-jugendlich; sie
ist es aber nicht. Denn nirgendwo sind die Freiräume der Jugend so gering
wie bei uns. Da geht es den afrikanischen Jugendlichen besser... Eine
Gesellschaft, die ihrer Jugend keine Chancen für Selbsterprobung und
Experiment bietet, verliert ihre Innovationsfähigkeit".
Jünger
(1998: 21 ff.) spricht in seiner Gesellschaftsdiagnose der "kulturellen Krise"
von dem "Bürger in uns" als Leitsyndrom der kulturellen Degeneration. Nach
Gumilev
(340-374) handelt es sich hier um eine typische Vergreisungserscheinung der
Ethnogenese, oder "Ethnische Inertia". Nach
Elwert
(1997: 76) müßte dringend ein Raum für die Entfaltung der neuen
Generationen geschaffen werden, so daß nicht nur die "abhängigen,
bewußt höflichen jungen Leute dominieren" sondern auch die "jungen
Krieger" (also nach Gumilev die Personen mit
Energeia)
ihren Eingang und "Integration in die Statuslinien der Gesellschaft" finden
können.
[358]
Es
gibt verschiedene Formen der "Ethnischen Inertia". Viele indigene Völker
befinden sich in diesem Stadium (Gumilev 370-374). Die Australischen Aborigines
bis ca. 1850 sind ein weiteres gutes Beispiel. Ihre Kultur löste sich beim
Kontakt mit den Weißen rapide auf. Dies nicht immer nur wegen der
großen Brutalität der Weißen, die Treibjagden auf die
Aborigines unternahmen,
[359]
sondern auch mit tatkräftiger Mithilfe vieler junger Aborigines, die ihnen
als Fährtenleser halfen, ihre eigenen Stammesbrüder
auszulöschen. Warum? In Australien herrschte eine starre Gerontokratie,
und die jungen Männer sahen bei den Weißen ihre Chancen, schnell zu
einem besseren Leben zu kommen, anstatt über 20 oder 30 Jahre den
Ältesten in harter Fron zu dienen, und ihnen die jungen Frauen zu
überlassen (
Strehlow
1947-1996,
Roheim
1945). Es ist also möglich, eine völlig starre Transmission über
Jahrtausende durchzuführen, aber dies hat einen hohen Kostenfaktor. So
besteht ein wesentliches Ziel der "Kultivierung der Kultur" (Eu-Kultur), in
einem ausgewogenen
Balanceverhältnis
von Tradition und Innovation
.
Dieser
Aspekt des "Sozio-Design" gibt uns den wohl paradoxesten Aspekt von Eu-Kultur:
Was können wir uns unter einer "Transmissionsdynamik von Innovation"
vorstellen, oder um es in Paraphrase von Nietzsche auszudrücken: "Worin
besteht die unendliche
Wiederkehr
des ewig Ungleichen?" Brock führt dazu das Wort von Goethe an, daß
"der Wechsel die einzige Form von Dauer" sei. In Frankreich hat man
hierfür eine sehr elegante Formulierung: "le plus ça change, le
plus ça reste le même." Dasselbe läßt sich auch mit
Derrida kurz formulieren: "Vive la différance!" Vornehmlich aus
Frankreich kommt auch die auffälligste Form von "unendlicher
Wiederkehr
des ewig Ungleichen" in der Form der
Mode.
[360]
Am letzten Beispiel ist zu erkennen, wie die permanente oberflächliche
Veränderung, die die Menschen beständig in Atem zu hält,
angewandt wird, um die Grundstrukturen des Systems zu stabilisieren,
[361]
an denen nichts geändert werden darf. Ebenso dazu gehört auch das
überquellende Angebot von multimedialer Unterhaltung, das nur noch
virtuelle Möglichkeiten der Betätigung bietet. (
Elwert
1997: 76).
6.1. Social
Design als Balanceakt in Spannungsfeldern
Als
Beispiel für die angewandte Kunst des "Social Design" als Balanceakt unter
den Zwängen des Faktischen und der begrenzten verfügbaren Mittel, der
zu bewahrenden sozialen Stabilität (und der Machtverhältnisse) im
eigenen Staat gegen innere Umsturzversuche, und der Sicherung gegen die
ständige existenzielle Bedrohung durch
mächtige
äußere Feinde, im optimalen Einsatz der gestalterischen Freiheit,
soll das Werk von Lars
Karbe
(1995) genannt werden: "Venedig oder Die Macht der Phantasie". Karbe liefert
gewichtige Argumente für eine Esszenz der Kultur im Grad der immer neu zu
schaffenden Gestaltungsfreiheit, die sich in Venedig in einer soliden Tradition
von 1000 Jahren fortwährend neu inszeniert hat. Dies ist ein sehr subtiler
Balanceakt, denn die im Moment der Freiheit gestaltete Schöpfung wird nur
allzuleicht, sobald sie faktisch und Vergangenheit, und damit auch Besitzstand,
Pfründe, und Privilegien geworden ist, zur Einschränkung und zur
Last, die mit ihrem Ballast die Kultur ersticken kann. Das Schlüsselwort
Karbes ist die "
Not-Wendigkeit",
also die
Wendigkeit,
um
aus
der Not
einen
Vorteil
oder eine
Erfindung
zu machen, das damit auf die Wortspiele in unserem Titel-Thema: "Design und
Zeit" und die Einleitung: "Design oder Nicht-Sein" zurückverweist.
[362]
Die Denkweise der Venezianer beruhte auf der Dynamik des Wasser-Elements, das
auch so bestimmend im Werk Goethes war. (
Karbe
1995: 20, 34).
[363]
Als geistige Nachfolgerin der griechischen und phönizischen
Seefahrerstaaten hatte Venedig damit eine grundsätzlich unterschiedliche
Ausrichtung gegenüber den sonst vorherrschenden land- und
territorial-basierten Staatsformen. Sicher nicht ohne Relevanz in dieser
Betrachtung ist der Mythos der Venus, der Namenspatronin Venedigs (und Mutter
des Aeneas, des mythologischen Stammvaters von Rom), als Schaum- (
aphros
= heftig bewegtes Wasser-) geborene. (
Hesiod).
Eine
besondere Rolle spielte in Venedig die sorgfältige Installation von
sozialen Spannungsfeldern im Herrschafts
system.
Karbe beschreibt im Detail die pentarchische Struktur der hohen Räte der
Republik, die kein statisches Machtzentrum darstellte, sondern sich in immer
neuen Konfigurationen und Koalitionen neu ausbalancieren mußte (19-31,
125-186). Im Verzicht auf feste und explizite hierarchische Strukturen wurde
hier ein gelungenes Social Design der politischen Macht entwickelt, wie sein
langedauernder Erfolg beweist
.
http://www.uni-wuppertal.de/FB5-Hofaue/Brock/Schrifte/AGEU/Avantrad.html
(URL)Brock,
AGEU, p. 344-349, "Sind Lebensformen gestaltbar?"
http://www.uni-wuppertal.de/FB5-Hofaue/Brock/Schrifte/AGEU/Lebensfo.html
(URL)
Brock:
"Begriff und Konzept des Sozio-Design"
http://www.uni-wuppertal.de/FB5-Hofaue/Brock/Schrifte/AV/SozioDes.html
(URL)
[327]
Cassirer (1994: p. 111): "... warum die wahrhaft großen Werke der
Kultur uns niemals als etwas schlechthin Starres, Verfestigtes
gegenüberstehen, das in dieser Starrheit die freie Bewegung des Geistes
einengt und hemmt. Ihr Gehalt besteht für uns nur dadurch, daß es
ständig von neuem angeeignet und dadurch stets aufs neue geschaffen wird.
Und
weiter unten auf p. 111, die Erwähnung der Renaissance als
Neuschöpfung der damaligen Epoche und nicht bloße {Rezeption /
Transmission} antiker Inhalte.
Ebenfalls
hier demonstriert an dem Beispiel von Goethes Faust, das die antike Tradition
re-kreiert, und in der in der vorliegenden Arbeit wieder aufgenommenen
Re-Kreation spezieller Aspekte des Faust-Stoffs.
[328]
sprich: bei mehreren Millionen Jahren Lesezeit, die ein Mensch benötigte,
um das Material zu verarbeiten, außerhalb des menschlichen Zeithorizontes.
->:BIBLIOSPHERE,
p.
195 [329]
Cassirer (1994: 103-127) "Die Tragödie der Kultur"; Zitat von Simmel:
p.
109: Je weiter der Kulturprozess fortschreitet, um so mehr erweist sich das
Geschaffene als der Feind des Schöpfers. Das Subjekt kann sich in seinem
Werk nicht nur nicht erfüllen, sondern es droht zuletzt an ihm zu
zerbrechen. ...
p.
109-110: Es ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden
Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden
Lebendigkeit, der inneren Selbstverantwortung, den wechselnden Spannungen der
subjektiven Welt entgegenstellt; ...
zwischen
dem subjektiven Leben, das rastlos, aber zeitlich endlich ist, und seinen
Inhalten, die einmal geschaffen, unbeweglich, aber zeitlos gültig sind.
p.
123: So begegnen wir in den verschiedenen Kulturgebieten immer wieder
demselben, in seiner Grundbeschaffenheit einheitlichen Prozess. Der Wettstreit
und Widerstreit zwischen den beiden Kräften, von denen die eine auf
Erhaltung, die andere auf Erneuerung zielt, hört niemals auf. Das
Gleichgewicht, das zwischen ihnen bisweilen erreicht scheint, ist immer nur ein
labiles Gleichgewicht, das in jedem Augenblick in neue Bewegung umschlagen
kann. Dabei wird mit dem Wachstum und der Entwicklung der Kultur der Ausschlag
des Pendels immer weiter: die Amplitude der Schwingung wächst mehr und
mehr. Die inneren Spannungen und Gegensätze gewinnnen damit eine immer
stärkere Intensität... Die beiden Gegenkräfte wachsen
miteinander, statt sich wechselseitig zu zerstören. Der
schöpferischen Bewegung des Geistes scheint in den eigenen Werken, die sie
aus sich hervorbringt, ein Gegner zu erwachsen. Denn alles Geschaffene
muß [p. 124] seiner Natur nach dem, was neu entstehen und werden will,
den Raum streitig machen.
[331]
Bei
Erdheim (1984):
Anachronizität.
p. 53 f., 87, 95, 108, 111, 185 ff. 199, 327, 353.
[334]
Aber wenn Schrift an eine kleine Klasse von (privilegierten) Schriftkundigen
gebunden ist, dann unterstützt sie eher den "kalten" Typ der Gesellschaft.
[342]
Straub (1990), p. 7, 11, 12, 15, 16-18, 42-44, 46, 50-51, 52-56, 78-79,
209-211, 226-238.
[344]
Insofern entspricht Gumilevs Kohärenzkriterium des
Ethnos
Mühlmanns Anforderung an eine "wirkliche Kultur" (1996: 111): "Wenn es
einer kulturähnlichen Organisation nicht gelingt, ihre Merkmale an die
nächste Generation zu übertragen, kann aus ihr keine wirkliche Kultur
entstehen."
[345]
Wobei die Kriterien, warum sie nicht verträglich sind, natürlich
kulturell determiniert sind, wie etwa "das gesunde Volksempfinden".
[346]
Wenn es sich nicht um eine kohärente Gruppe, sondern nur einzelne
Abweichler handelt, werden diese entweder mit den heutigen Mitteln von
Gefängnis und Psychiatrie, in früheren Zeiten auch durch physische
Elimination, neutralisiert.
[347]
Diamond (1992: 276-309). Nach
Gumilev (1987) fanden in der
2500-jährigen Auseinandersetzung zwischen China und den
Steppenvölkern regelmäßig Exterminationskampagnen beider Seiten
statt, in denen z.B. ganze Nomadenvölker von mehr als 1 Million Menschen
aufgerieben wurden, oder Nordchina von den Mongolen 1210-1240 zwecks
"Umwandlung in Weideland für Pferde" von der menschlichen Population
"gesäubert" wurde. Nach der Tabelle in WER 56, Fall 1987, p.74-75 kostete
das 40 Mio Chinesen das Leben (aufgrund der vagen Zählmethoden der
damaligen Zeit natürlich nicht zu verifizieren).
Howard
Bloom: "The Weave of Conquest and the Genes of Trade" (History of the Global
Brain)
http://www.heise.de/tp/deutsch/special/glob/default.html
(URL)
:
"One
horse people, the Mongols, took China, conquered its landmass, and killed off
as much as a third of its population in the process". "For a vivid description
of Mongol population decimations in East Asia, see: Ki-baik Lee. A New History
of Korea. Translated by Edward W. Wagner with Edward J. Shultz. Cambridge, MA:
Harvard University Press, 1984: 149."
[348]
Hier ist besonders die Theorie
Spenglers zu nennen (1980). Auch wenn Gumilev
(aus verständlichen Gründen) keine direkten Bezüge auf Spengler
macht, lassen sich ihre Werke durchaus in einen gemeinsamen Bezug setzen.
Spengler sieht wie Gumilev die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Volk,
Nation, und Sprachgemeinschaft, aber anstelle des Begriffs "Ethnos" verwendet
er die "Rasse" (1980: 688-745). Sein Begriff der "Rasse" ist im heutigen
Verständnis mißverständlich, da (phylo-) genetische und
(ontische) ethnische Transmission vermischt werden. Ebenfalls hat der
spätere Mißbrauch des Rassebegriffs im Nationalsozialismus zu seiner
Diskreditierung beigetragen. Wie Spengler aber selber in seinen
Ausführungen darstellt, hat sein Rassebegriff eine ganz andere,
nicht-darwinistische Begründung, die erst durch die Arbeiten der letzten
50 Jahre als nicht- (phylo-) genetische, sondern ontogenetische
Transmissionsform auf Basis der
Neuronalen
Resonanz
verstanden werden kann: Die
Physiognomie
der Bewegung
(p. 694, 703-714, bes. 708), die im vorliegenden Kontext als
Kinemorphae
(oder Kata) bezeichnet wird.
->:KATA,
p.
221,
->:DYNAMIC_CMM, p.
203,
->:WHITEHEAD_SOCIETY, p.
112 [349]
Im vorliegenden Kontext
Neuronale
Resonanz
genannt.
[350]
In der englischen Übersetzung wird der Begriff "
drive"
verwendet. Da aber das altgriechische
Energeia
genau das bedeutet, wovon Gumilev spricht, soll hier im weiteren der
griechische Begriff verwendet werden.
[351]
(224): "... the moderate, tidy family man becomes the ideal in quiet times,
while those with drive have no place in life."
[353]
die typisch deutschen Tugenden
[354]
und sie sind die besten Kunden der Versicherungen.
[356]
Ein Seiteneffekt war, daß die amerikanischen Hochtechnologieprogramme des
2. WK, wie die Kybernetik, Computer und die Atombombe, wesentlich mit der
"brain power" der Emigranten angetrieben wurden. Die bekanntesten Beispiele
sind Norbert Wiener, Albert Einstein, John v. Neumann.
[357]
Beitrag von Altbundeskanzler Helmut
Schmidt (1997); Focus Nr. 27, 30.6.1997,
p. 54-63.
[360]
Brock: .../SozioDes.html
[361]
Brock, Abs. 2 in .../SozioDes.html: "Die geforderte Tugend der
Mobilität wird zum Mobilitätsethos, genauer: zur
Veränderungspflicht".