5. Die
Systematik der Formen kultureller Transmission
Im
folgenden soll
ein
System der kulturellen Transmission entworfen werden, das die somatischen
Faktoren der neuronalen Resonanz mit den extrasomatischen Medien verbindet.
5.1. Das
duale Bild von Kollektiver Erinnerung und Transmission des Kulturellen Musters
Im
Sinne der in Kap. 2 dargestellten neuronalen Attraktoren und des Beispiels des
Gestalt-Kippbildes läßt sich kulturelle Transmission in zwei dualen
Betrachtungsweisen erfassen: Als
Kollektive
Erinnerung
und als
Transmission
der/des Kulturellen Muster(s)
.
Beide sind aus verschiedener Perspektive Sichten desselben Phänomens, so
wie
Welle
und
Teilchen
duale Beschreibungunsformen derselben physikalischen Erscheinung sind.
[258]
5.1.1. Kollektive
Erinnerung
Kollektive
Erinnerung
ist die Sichtweise aus der Erfahrung des Erinnerungsträgers, des Menschen,
der an einer kulturellen Tradition teilnimmt, und sie in jedem gegebenen
Augenblick neu inszeniert und belebt. Im ethnologischen Begriff: die
emische
Sicht. Aus philosophischer Sicht ist hier die
Intentionalität
des
Handelnden
bestimmend.
5.1.2. Kulturelles
Muster
Das
Kulturelle
Muster
(cultural pattern) ist die Beschreibung aus der objektiv(ierend)en Sicht des
Anthropologen, der feststellt, daß die Menschen verschiedene,
unterscheidbare, aber systematisch zusammenhängende, Lebens-, Glaubens-,
und Verhaltensmuster aufweisen, die sich über die Zeit hinweg,
diachronisch
(oder
vertikal),
[259]
erstrecken, und sehr oft mehr als die Lebensspanne der einzelnen Menschen. Im
ethnologischen Begriff: die
etische
Sicht. Dies wurde zuerst von Ruth Benedict in ihrem berühmten Buch
"patterns of culture" formuliert (s.o.). Gumilevs Ansatz des
Ethnos
als thermodynamisch- / biosphärisches Phänomen kultureller Muster
wird im vorliegenden Kontext aufgegriffen.
[260]
5.2. Somatische
und extrasomatische Faktoren der kulturellen Transmission
Kulturelle
Transmission findet immer zwischen Menschen statt, insofern steht der Mensch im
Fokus der Betrachtung. Als
Überträger
/
Übermittler
(griech:
Angelos)
der kulturellen Transmission fungiert er/sie als der
Agent,
der/die
Kommunizierende
und
Handelnde.
[261]
Kulturelle Transmission kann
direkt
oder
indirekt
stattfinden. Direkt, über
Kommunikation
oder
Manipulation,
und indirekt, über die Ergebnisse der Veränderung von Dingen und
Lebewesen der Umwelt, durch die Menschen aufeinander Einfluß nehmen.
[262]
Die
direkten
Faktoren werden auch
somatische
(körperliche) genannt, die
indirekten
sind
extrasomatische
(mediate) Faktoren der kulturellen Transmission.
5.2.1. Somatische
Faktoren: Der Menschliche Organismus in der kulturellen Transmission
Die
wesentlichen Funktionen des menschlichen Organismus in seiner Rolle als Agent
der kulturellen Transmission sind seine körperlichen und seelischen
Vermögen:
Wahrnehmungsfähigkeit,
(
Aisthaesis)
Ausdrucksfähigkeit
(
Poiaesis)
und
Erinnerung
(
Mnaemae,
s.o.).
Diese Vermögen beruhen nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis auf der
neuronalen Basis, welche allen höheren multizellularen tierischen
Organismen gemeinsam ist.
[263]
5.2.2. Die
somatischen Faktoren von Wahrnehmungsfähigkeit und Ausdrucksfähigkeit
5.2.2.1. Wahrnehmungsfähigkeit
Die
allgemeinste phänomenologische Formulierung der
Wahrnehmungsfähigkeit,
oder
Aisthaesis,
wurde von Peirce das
Phaneron
genannt.
[264]
Ihre Funktionen werden im wesentlichen unterteilt in:
a)
exogene,
die klassischen
Sinne:
Hören, Sehen, Kinesthetisch,
[265]
Taktil, Geruch, Geschmack, und
b)
endogene,
Gefühle, und
unspezifische
Körper-Wahrnehmungen
.
Z.B. Schlafbedürfnis (bei Schlafentzug), Schmerz, Hunger
,
Durst, Jucken, Sodbrennen, etc. Diese werden im Griechischen auch mit dem
Begriff
Pathe-
(Er-Leiden, Er-Dulden) klassifiziert, und sie werden hauptsächlich von der
Medizin als
Symptomatik
oder
Pathologie
systematisiert.
Krankheiten
sind in unserer Betrachtung ein sehr gewichtiges Element der kulturellen
Transmission, sowohl in ihrer
Symptomatik
als auch ihrer
Diagnostik,
und ihrer
Behandlung.
[266]c)
mentale:
Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen.
5.2.2.2. Ausdrucksfähigkeit
Die
Faktoren der
Ausdrucksfähigkeit,
der
Poiaesis,
sind zu unterteilen in:
1)
willkürliche, hier vor allem die Fähigkeiten der
Bewegung
der
a)
Hand (
Manipulation)
b)
der Körper-(Teile-) allgemein (
Lokomotion,
Gestik,
Mimik,
Kinesik)
c)
der
Stimme
2)
biologische, vom Willen beeinflussbare, wie
a)
Atmen,
Essen
und
Trinken
b)
die Formen der
Exkretion
des Körpers
c)
die
sexuellen
Funktionen
sowie
eine große Zahl von weniger spezifischen Körper-Erscheinungen,
wie:
3)
Erröten, Gänsehaut, Pupillen-Erweiterung oder -Verengung,
Haaresträuben, Schwitzen, Blähungen, Peristaltik, Zähneklappern,
Schluckauf, Niesen, die nicht oder nur wenig der willentlichen Kontrolle
unterliegen, die aber alle ihre (evtl. unerkannte) Rolle in der kulturellen
Transmission spielen. D.h. es sind zwar unwillkürliche Funktionen, die
aber von kulturellen Gegebenheiten (mit) ausgelöst und moduliert werden
.
[267]
5.3. Extrasomatische
Faktoren der kulturellen Transmission:
performativ
- speichernd
Außer
bei direkter Berührung von Körper zu Körper (als
Primär-Medium) ist immer mindestens noch ein anderes Medium in einer
Handlung oder einer Kommunikation involviert.
[268]
Bei Sprechen / Gesang / Musik ist es die Luft, bei Gesten / Tanz ist es das
Licht, beim Schreiben ist es das Papier, die Tinte, und das Licht. Man kann
eine Grund-Unterscheidung zwischen (mehr oder weniger)
a)
ephemären
(flüchtigen)
,
dynamischen
und
[269]
b)
speichernden,
statischen
Medien machen.
[270]
Die
entsprechenden Formen der kulturellen Transmission werden in
a)
performativ
mit
ephemären
Medien, und
b)
speichernd,
mit
statischen
Medien
untergliedert.
5.3.1. Informations-
und materialtechnische Faktoren zur Klassifikation von Medien
Im
folgenden ist eine Liste von informations- und materialtechnischen Faktoren zur
Klassifikation von Medien, wie sie in kulturellen Transmissionen eingesetzt
werden. Es werden stichwortartige Beispiele der Verwendung gegeben.
1)
Klassifiziert nach Substrat-Material Eigenschaften, Persistenz bzw.
Ephemeralität
:
Hart/Schwer:
Stein, Gebrannter Ton
,
Metall (Eisen, Bronze
[271])
Weich/Schwer
(wiederbeschreibbar): Weicher Ton, Gold, Kupfer
Weich/Leicht
(wiederbeschreibbar): Wachs
Flexibel/Leicht:
Haut (Pergament), Holz, Papier, Papyrus
Phasen-Wechsel
(schmelzbar, wiederbeschreibbar): Metall, Wachs, Siegellack
Materie-Fluß,
ephemär: Geruch, Feuer, Rauch, Luft- und Wasser-Strömungen
Energie-Fluß,
ephemär: Klang, Licht, Elektrizität
2)
Haltbarkeit / Speicherzeit / Speicher-Resistenz gegen Korrosion,
Schädlinge, Wasser, Feuer:
Lange:
(100 J.+): Stein, Metall (Gold, Bronze), Gebrannter Ton, Elfenbein, Pergament
Mittel:
(10 J.+): Holz, Papier, Papyrus, Haut, Knochen, Horn
Kurz:
(0-1 J.), wiederbeschreibbar: Schiefertafel, Sand-Zeichnungen,
Calculi
(Rechensteine, Abacus), Wachs, Weicher Ton
Ephemär:
Klang, Licht, Elektrizität
3)
Instrument- / Material-Eigenschaften des Markiergeräts:
Härte
/ Flexibilität: Meißel (Stein), Gravurstichel (Metall), Bleistift,
Feder, Pinsel, Airbrush,
Limitationen
/ Charakteristiken der damit erzeugten Markierungen:
Pinsel:
Wellenformen, Feder: Linien, Airbrush: Farb-Wolken
4)
Technische / materielle / soziale Kostenfaktoren, um Information zu
speichern/abzurufen:
Energie
* (Personen-Stunden) * (Trainingsaufwand), für Beschaffung des
materiellen/ energetischen Substrats, und für die Markier-Geräte:
Prozess
der Modulation (Informations-Schreib-Geschwindigkeit)
Prozess
des Abrufens des Inhalts (Informations-Lese-Geschwindigkeit)
Haltbarkeit/Kopierbarkeit
der Materialien vs. Informationsverlust wegen Kopierfehler
Transportabilitäts-Faktoren,
Gewicht und materieller Stabilität
Ökonomische
und organisatorische Kostenfaktoren für Kopieren und Sammeln
Kostenfaktoren
für Vergleich, Reorganisation, Systematisation.
5)
Diverse Informations-Faktoren
:
Informations-Dichte
absolut (z.B. Zeichen pro cm
2/cm3),
Informations-Menge
pro mittlerer Einheit des Speichermediums,
Informations-Menge
pro Gewicht einer Einheit des Speichermediums,
Informations-Transmissions-Geschwindigkeit:
a)
Transport des materiellen Substrats
b)
Signal-Geschwindigkeit
6)
Sensorische Modalität, die betroffen ist:
visuell
(Farb-insensitiv / Farb-sensitiv), auditiv, taktil, kinesthetisch,
olfaktorisch, geschmacklich
5.3.2. Die
Bedeutung der informations- und materialtechnische Faktoren der Medien in den
großen Zivilisationen der Geschichte
Die
großen Zivilisationen der Menschheit wurden schon vor der heute als
Welt-Standard herrschenden Kombination von Buchdruck und Papier auch von ihren
unterschiedlichen Informations-Infrastrukturen geprägt, die sich nicht nur
durch ihre verschiedenen Schriften, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen
Materialeigenschaften der verwendeten Medien ergaben. Innis, McLuhan, und die
Forschungen in ihrer Nachfolge, haben wesentliche Auswirkungen beschrieben, die
mit der Verwendung bestimmter Hauptmedien der kulturellen Transmission auf die
Gesellschaften einwirken.
[272]
Dabei sind die Einflüsse der Medien auf Faktoren von
Raum
und
Zeit
von
entscheidender Bedeutung, und zwar bezüglich
Haltbarkeit,
Multiplikativität,
und
Mobilität.
Verbreitbarkeit
ist das Produkt von
Multiplikativität
und
Mobilität.
Stein ist zwar haltbar, aber schwer, und aufwendig zu beschreiben, damit nicht
sehr mobil, und nicht sehr verbreitbar. Papyrus/Papier ist leicht, einfach zu
beschreiben, und damit sehr mobil und verbreitbar, aber nicht sehr haltbar.
Stein wurde daher meist für Langzeit-Transmissionen (Götterkult,
Grab-Inschriften, Monumente des königlichen Ruhmes etc.) verwendet.
5.3.3. Vergleich
der Informations-Infrastrukturen Alt-Ägyptens, Mesopotamiens und des
mittelalterlichen Europa
Weitere
mediale Faktoren lassen sich anhand von Beispielen aus Alt-Ägypten,
Mesopotamien und dem mittelalterlichen Europa darstellen.
[273]
In Ägypten wurde Papyrus für alltägliche und Verwaltungszwecke
verwendet. Das Basismaterial kam in den Nilsümpfen (und nur dort)
reichlich vor und stellte die materielle Informations-Infrastruktur des
Pharaonenreichs. Zwar sind uns aufgrund der geringen Haltbarkeit des Materials
Papyrus-Aufzeichnungen hauptsächlich nur aus Gräbern erhalten, aber
wir können uns durch Abschätzungen und Vergleiche mit den
mittelalterlichen Klosterbetrieben Europas einen guten Überblick über
die Informations-Strukturen Alt-Ägyptens machen. Als regionale
Verwaltungszentren dienten die Tempel, deren Priesterschaft gleichzeitig die
administrativen Aufgaben ausübte. Hier flossen auch die Tribute der
Regionen zusammen, und wurden teils eingelagert, teils an die Zentren, wie den
Pharaonenhof, weitergeleitet. Wesentliche Unterschiede zur europäischen
Kloster-Buchhaltung ergaben sich aufgrund des Schreibmaterials (Pergament in
Europa) und wegen der geringeren Informationsdichte der verwendeten
Papyrusrollen im Vergleich zu den europäischen Folianten. Papyrusrollen,
die häufig referenziert werden müssen, dürfen nicht zu lang sein
(ca. 3-5 m, äquivalent 10-20 DIN A4 Seiten), da ansonsten das Aufsuchen
einer bestimmten Textstelle zu aufwendig wäre und das Material zu starken
Beanspruchungen jenseits seiner geringen mechanischen Belastbarkeit ausgesetzt
wäre. Sehr lange Rollen über 10 m sind daher nur in den untypischen
Grabbeigaben zu finden, die natürlich nicht für häufigen
Gebrauch gedacht waren. Die geringere Informationsdichte schlägt sich
zudem in einem höheren Platzbedarf für die Lagerung nieder. Wo man
mit Büchern europäischen Typs einen einzigen Bücherschrank
braucht, benötigt man mit Papyrusrollen einen ganzen Raum mit
Rollenständern. Ein weiterer Informations-Engpaß der ägptischen
Buchhaltung ist die Abnutzung der Rollen. Da häufiger Zugriff (wie auch
bei heutigen Magnetbändern) Materialabnutzung verursacht, müssen die
Rollen häufiger kopiert werden, als bei Folianten, deren weiche Seiten
durch den stabilen Einband geschützt sind, und beim Umblättern nicht
der Beanspruchung unterliegen, wie eine Papyrusrolle. So brachte die
ägyptische Buchhaltung einen erheblichen, konstanten Aufwand des
Umkopierens mit sich, der letztlich auch weltgeschichtlich seine Rolle spielte.
Wie McLuhan feststellt, trug die Abhängigkeit von Papyrus als
strategischem Informations-Medium der Staatsverwaltung mit zum Untergang des
Römischen Reiches und letztlich dem Verlust des antiken Wissens bei.
[274]
Denn nicht nur war in der Antike Ägypten der einzige Lieferant für
Papyrus, sondern wegen seines extrem trockenen Klimas ist Ägypten auch
einer der wenigen Orte der Erde, wo sich Papyrus auch über längere
Zeit ohne spezielle Konservierung erhält. Dieser Faktor machte ein noch
häufigeres Umkopieren der Schriftrollen in den feuchteren Klimata der
Römischen Reichsländer notwendig. Dies wurde zu Zeiten der
Prosperität und Expansion von Sklaven besorgt, aber als letztlich alle zu
erobernden Nachbarländer erobert waren (oder sich erfolgreich
widersetzten, wie die Parther und Germanen), blieb der Sklavennachschub aus,
und selbst wenn die Bibliotheken in den Stürmen der Zeitenwende nicht
verbrannt wären, so wäre das Material von selbst zerfallen. Zudem war
Papyrus durch den jahrhundertelangen Raubbau so selten geworden, daß der
Nachschub versiegte. Erst die Umstellung auf das haltbarere, aber auch viel
teurere Pergament, und die systematische Sammlung, Schulung, und Nutzbarmachung
des intellektuellen Potentials der nachgeborenen, nicht erbberechtigten
Söhne Europas in den Skriptorien der Mönchsorganisationen der
katholischen Kirche, brachte dann den Umschwung zu einer neuen
Informations-Infrastruktur des mittelalterlichen Europa.
[275]
Eine
völlig andere Informations-Situation lag im antiken Mesopotamien vor. Die
Keilschrift ist nur für Inskription, also Eindrücken, oder Einritzen,
nicht aber für Auf-Schreiben zu verwenden, und damit an das dort
überall vorkommende Material Ton angepaßt und gebunden. Dieser war
zwar leicht zu beschreiben, aber schwer, und ungebrannt nicht haltbar, somit
nicht sehr mobil, und verbrauchte im Vergleich zu Papyrus noch einmal deutlich
mehr Speicherplatz. Den Ton zur Erhöhung der Haltbarkeit zu brennen, war
insofern ein Problem, als daß Feuerholz sehr knapp war, so daß man
die Täfelchen gewöhnlich nur in der Sonne trocknete. Man stelle sich
das Äquivalent eines europäischen Buches in Tontäfelchen vor,
die jeweils nur etwa einen Absatz mit ca. 10-20 Zeilen Text enthalten, und man
bekommt eine Vorstellung davon, daß Bücherlesen und -Schreiben im
alten Mesopotamien eine Art von Jongleurskunst war, ganz abgesehen von der
zusätzlichen Komplikation der Keilschrift, die ursprünglich (ca.
-3000) für den speziellen Sprachtypus des Sumerischen entwickelt worden
war, dann aber von den Akkadern für ihre völlig andere semitische
Sprache mehr schlecht als recht angepaßt wurde, und letztlich im
Perserreich noch einmal an ihren indo-europäischen Sprachtyp adaptiert
wurde.
[276]
Einen besonderen Vorteil aber hatten die Tontäfelchen-Informationssysteme
Mesopotamiens: da gebrannte Tontäfelchen auch als Seiteneffekt von
Bränden auftraten, entstand die historische Kuriosität, daß uns
die Geschichte Mesopotamiens so gut erhalten ist, gerade weil in der sehr
wechselhaften Geschichte des Landes bei den dauernd hin- und herwogenden
Zerstörungen und Verwüstungen die Paläste und Tempel immer
wieder verbrannt sind. Damit ergab sich also zum Vorteil der
Geschichtswissenschaften der umgekehrte Effekt zu der Bibliothek von Alexandria.
5.4. Sprachliche
/ Nichtsprachliche Transmission
Eine
weitere Unterteilungsmöglichkeit der kulturellen Transmission ist
diejenige in
sprachliche
und
nichtsprachliche
Bereiche.
Sprache
bedeutet hier: eine natürliche,
[277]
sprechbare Sprache, wie Deutsch, Englisch, Latein, Griechisch, oder eine
künstliche, wie Esperanto. Nicht als
Sprache
bezeichnet werden im vorliegenden Kontext Systeme wie
Musik
und
Mathematik,
sowie die bekannten Computer-"Sprachen". Diese werden zwar oft auch Sprachen
genannt, da man ihre Elemente auch verbal aussprechen kann (z.B.:
Do-Re-Mi-Fa-So-La-Ti-Do) aber hier ist es eine Definitionsfrage. Es geht hier
wesentlich um die Ausdrucksmöglichkeiten, ob man sich mit Hilfe dieser
Systeme, z.B. über das Wetter unterhalten kann, oder die Befindlichkeit,
oder den Weg von A nach B erfragen kann, was damit eben nicht möglich ist.
Der
Grund für diese Unterscheidung ist die starke Dominanz sprachlicher Formen
in menschlichen Kulturen, die besonders in der westlichen Zivilisation durch
die Schrift noch verstärkt wird. Es ist ein Ziel dieser Studie, die
Aufmerksamkeit auf solche Transmissionsformen zu lenken, die der
verbal-sprachlichen Behandlung nicht, oder nur schwer zugänglich sind, und
auf die Probleme aufmerksam zu machen, die auftreten können, wenn
große Segmente nichtsprachlicher Transmission verloren gehen (z.B.
Verlust von indigenen oder Handwerks-Traditionen).
[278]
5.5. Bewußt
/ Unbewußt, Funktional / Ritual
Eine
weitere Unterscheidung läßt sich zwischen
bewußten
und
unbewußten,
sowie
funktionalen
und
ritualen
Aspekten der Transmission machen.
[279]
Für die naive Vorstellung von kultureller Transmission sind natürlich
die
bewußten
und
funktionalen
Aspekte am sichtbarsten, also z.B. die Inhalte, die die gesellschaftlichen
Institutionen, wie etwa die Schule, oder die Universität, vermitteln. Hier
werden die bekannten "Kulturgüter" weitergegeben, Fähigkeiten und
Fertigkeiten, wie Lesen und Schreiben, oder die Kenntnisse der Wissenschaften.
Über diese Transmissionen existiert natürlich schon eine umfangreiche
Literatur, wie z.B. aus der Pädagogik. Dieser Bereich kann daher im
vorliegenden Kontext als bekannt vorausgesetzt werden.
Die
funktionalen Aspekte betreffen die (z.B. in einer anthropologischen Studie)
bewußt wahrgenommenen Inhalte von
Nutzung
und
Bedeutung
von Gegenständen und Verhaltensweisen. So müssen z.B. die Formen von
Werkzeugen und Geräten bestimmten praktischen Standards genügen, die
vom Gebrauch bestimmt werden. Die Wirtschaftfsormen von Gesellschaften werden
meist unter funktionalen Gesichtspunkten interpretiert, also den materiellen
Überlebensbedingungen der Menschen und den Produktionsbedingungen der
Güter.
Das
Ritual
als spezifische Form kultureller Transmission ist Gegenstand umfangreicher (und
widersprüchlicher) ethnologischer Theorien. Ihn hier im Einzelnen zu
erläutern, würde den Umfang dieser Arbeit sprengen. Rituale sind mit
stereotypen Handlungssequenzen verbunden, die von der Ethnologie oftmals
mangels anderer Erklärungsschemata so bezeichnet werden.
[280]
Die Definition, was ein Ritual ist, unterliegt demnach einer fast genauso
großen Bandbreite, wie der Begriff der Kultur.
[281]
Auch in der Biologie werden stereotype Handlungssequenzen als Ritual
bezeichnet, z.B. beim Balzverhalten von Vögeln (die aber phylogenetisch
verankert sind).
Rituale
Aspekte
kultureller Transmission sind solche, bei der der Aspekt der
Form
vorrangig vor dem Aspekt der
Nutzung
oder
Bedeutung
ist, so z.B. die Stilformen von Ornamenten auf Geräten und Gebäuden.
[282]
Im Begriff des Ritual erscheint das primäre Spannungsfeld von Form und
Substanz wieder. Ritual muß nicht mit Feierlichkeit und
außergewöhnlichen Anlässen verbunden sein, gerade profane und
unauffällige Rituale prägen die unterschiedlichen Erscheinungsbilder
der Ethnien.
[283]
Rituale Aspekte der Transmission werden von den betreffenden Handelnden meist
mit mythologischen Begründungen, oder profaner, nach dem generellen
Erklärungsmuster "das haben wir schon immer so getan", oder "das tut man
eben so und nicht anders" rationalisiert. Im vorliegenden Kontext wird
Ritual
für Komposite multi-modaler, multi-medialer Transmissionsformen verwendet,
die funktional schwer zu erklären sind, und die eine große
diachronische Persistenz aufweisen.
Die
unbewußte
Transmission
ist im vorliegenden Kontext besonders wesentlich, weil hier mit
Wahrscheinlichkeit die größten "weißen Flecken" auf der
wissenschaftlichen Landkarte vorhanden sind.
[284]
Die Primärbereiche der
unbewußten
Transmission
liegen in der frühkindlichen Phase, der "primären Sozialisation",
welche im Normalfall zwischen Mutter (oder der Amme) und Kind stattfindet,
damit also fast ausschließlich eine Sache der Frauen ist. Deshalb kann
man hier auch von einer genuinen Form des
Matriarchats
sprechen, also mit dem alten griechischen Begriff der
archae,
nicht als
Herrschaft,
sondern als
Ursprung.
[285]
Weiterhin von Bedeutung in diesem Bereich ist Unbewußtheit als Faktor
und Inhalt kultureller Transmission. Dies ist das Generalthema der
Ethnopsychoanalyse (Erdheim 1984).
5.6. Eine
Tabelle kultureller Transmissionsformen
Die
folgende Abbildung zeigt die o.g. Grundtypen kultureller Transmission als
Tabelle. Der Bereich "Ritual" erscheint als wesentlicher Transmissionsfaktor
über dem Gitter, und tangiert alle genannten Bereiche.
Nun
eine kurze Übersicht über die verschiedenen Formen:
5.6.1. Speichernde
sprachliche Transmission: Schriften
Aufgrund
ihrer starken Dominanz
soll
zuerst die
speichernde
sprachliche Transmission in Schriften
genannt werden.
[286]
In den westlichen Zivilisationen wird die
Alphabetschrift
verwendet.
[287]
Damit
verwandte
Schriften sind die Arabische und Hebräische, und die indischen Schriften,
deren Haupttyp das Devanagari ist. Die chinesische Schrift unterscheidet sich
von den Alphabet-ähnlichen Schriften grundsätzlich, weil sie nicht
die Laute der Sprache codiert, sondern Konzept-Bilder (Worte und Begriffe). Es
existieren ca. 15.000 bis 50.000 verschiedene Bilder (die aus ca. 230
Primitivzeichen zusammengesetzt sind). Um einfache Texte zu verstehen,
muß man etwa 3000 Zeichen kennen. Die Komplexität dieses
Schriftsystems erscheint oberflächlich als großer Nachteil, aber
unter dem Aspekt der kulturellen Transmission hat sie einen entscheidenden
Vorteil: Da sie unabhängig von der gesprochenen Sprache ist, können
sich die Chinesen verschiedener Dialektgruppen, die sich wie Deutsch und
Französisch unterscheiden, über die Schrift verständigen.
[288]
Ebenso können auch Angehörige völlig anderer Sprachgruppen mit
der chinesischen Schrift kommunizieren, ohne chinesisch sprechen zu
können, wie die Japaner. Allerdings ist das japanische Chinesisch (Kanji)
nicht mehr mit dem chinesischen identisch.
[289]
Weiterhin wesentlich ist, daß Texte, die z.B. Konfuzius vor 2500 Jahren
geschrieben hat, heute noch in der Originalschrift verständlich sind. Um
einen entsprechenden Text aus Altgriechenland zu lesen, muß man auch
Altgriechisch können, was vor allem in heutiger Zeit der für
überflüssig erklärten klassischen Bildung kaum mehr vorkommt.
Die Thematik des Faust ist in unserem Kontext ein gutes Beispiel für die
Wiederherstellung einer kulturellen Kontinuität zwischen Altgriechenland
und dem Heute.
5.6.2. Performative
sprachliche Transmission
Performative
sprachliche Transmission wird meist
Orale
Tradition
genannt, also Märchen, Epen, Sprichwörter, Witze, Rätsel,
Schimpfwörter, Flüche, etc.
Sprache
selber ist natürlich auch eine orale Tradition, weil man sie als Kind von
der Mutter lernt. (Die Muttersprache).
Das
Aoide-Denken: Eine Hypothese von Neuronalen Resonanzmustern in Poesie und
Musischer Sprache
In
den nichtschriftlichen Kulturen hatte die performative sprachliche Transmission
einen wesentlich höheren Stellenwert als in den Schriftzivilisationen, und
sie wurde einer speziellen Klasse von Personen anvertraut: Den
Aoidoi.
[290]
Sie hatten die vitale Funktion, die Esszenz und die höheren spirituellen
Werte ihrer Gemeinschaften über die Zeiten zu tragen, und sie vor
Degradation zu bewahren. Nach der heutigen neuronalen Erkenntnis der
Arbeitsweise des Gehirns, als
Neuronale
Aktivationsmuster
,
von
Neuronale
Oszillationsfeldern
und logischen
Relations-Strukturen
neuronaler
Assemblies
,
die als gekoppelte dynamische Systeme arbeiten,
[291]
lassen sich auch neue Hypothesen über die Gehirnfunktionen bilden, die in
der epischen Poesie ausgebildet werden. Dies wird im vorliegenden Kontext als
die
Aoide-Hypothese
formuliert. Ausgangsbasis dazu ist die
phememe
Hypothese von Mary LeCron Foster (1996).
[292]
Die Autorin nimmt an, daß in archaischen Sprachen Klänge
stärker als Bedeutungseinheiten fungierten als in den modernen Sprachen,
daß also die Saussure'sche Doktrin des
Signe
Arbitraire
nicht universell gilt (oder galt). Worte müssen ausgesprochen und
verstanden werden, sie bauen also auf extrem subtile neuro-muskuläre
Konfigurationen auf. Es ist allseits bekannt, daß von allen
möglichen Phonemkombinationen jede Sprache nur eine sehr kleine Untermenge
verwendet, ein Indiz dafür, daß ein "Sprachzeichen", das Wort, einem
sehr engen Selektionskriterium folgen muß, um im "Sprachschatz" seinen
Platz zu finden.
[293]
Auf neuronaler Ebene kann dies begriffen werden als ein "Feld" von aktiven,
dynamischen, aufeinander einwirkenden neuronalen Konfigurationen. Auch wenn
diese neuronalen Konfigurationen in der Neurologie noch nicht genau bekannt
sind, so erlaubt uns der heutige Wissensstand eine hypothetische Formulierung
auf dieser Basis. Foster formuliert die
Hypothese,
daß in der archaischen Vergangenheit eine größere
Einflußnahme
der
Kulturschöpfer auf Kultivation und Formung der Sprache in einer Art
phememe-Design
bestanden hat, als es in der herkömmlichen Sprachforschung angenommen wird
.
Diejenigen, die das
Sprach-Design
betrieben, waren in Altgriechenland die oben genannten
Aoidoi.
Die Rolle von Goethe in der Formung der neueren deutschen Sprache wurde schon
oben angesprochen.
[294]
Weitere Hinweise finden wir in Plat
ons
Werken Kratylos und Timaios.
[295]
Nach dieser Hypothese lassen sich die Klänge der archaischen Aoide-Sprache
auf Basis ihrer spatio-temporalen neuronalen Infrastruktur in einem technischen
Modell ähnlich einer Molekular-Simulation darstellen.
[296]
5.6.3. Nichtsprachliche
speichernde Transmissionssysteme
Wegen
der besonderen Dominanz des Druckverfahrens in unserer Zivilisation werden
diese grob in solche unterteilt, die auf Papier zu drucken sind, und solche,
die sich nicht (so gut) auf Papier drucken lassen.
[297]
Eine grundlegende Problematik
wurde von Tufte dargestellt:
Tufte
(1990: 9): The world is complex, dynamic, multidimensional; the paper is
static, flat. How are we to represent the rich visual world experience and
measurement on mere flatland?
Musik-
und Mathematik-Notation, wissenschaftliche Formalsysteme, wie Chemiesymbole,
Ornamentik, Graphik allgemein sind druckbare Systeme.
Nicht
(so gut) druckbare Systeme gibt (oder gab) es vor allem im indigenen Bereich:
wie die Inka-Quipus, die mit Knotensystemen in vielfarbigen Schnüren
hergestellt werden, oder die Südsee-Navigatoren-Karten, die aus
Stöckchen und Muscheln bestehen. Weiterhin sind sehr verbreitete
materielle Transmissionssysteme mit Webtechnik verbunden, sowie mit Flechtwerk
(Körben, Wandschirmen, etc.). Diese Transmissionssysteme sind entweder
meist schon verschwunden, oder im Zuge der Tourismus- Souvenir-Industrie in
ihren Formen und Detailreichtum stark degeneriert. Ein wesentlicher, von der
Schrift nicht nachzuahmender Aspekt dieser Systeme, die mit Knoten, Web- und
Flechtarbeit zu tun haben, ist, daß es für den Produzenten eine
wesentlich andere körperliche Beteiligung bedeutet, ein solches Werk
herzustellen. Bei den Knotensystemen, wie den Quipus, gilt das ebenfalls
für den Rezipienten. Die körperliche Präsenz und manuelle
Performanz hat vor allem eine Auswirkung auf die Aufmerksamkeit und das
Gedächtnis. Wie die in vielen Religionen verbreitete Benutzung des
Rosenkranzes zeigt, hat das manuelle Bewegen von solchen Strukturen eine
besondere neuronale Wirkung, die u.a. unter dem Begriff "Meditation" bekannt
ist. Den Kontrast dazu, wie leicht es ist, etwas zu vergessen, das man nur mit
den Augen wahrgenommen hat, kann man selber jeden Tag erleben. Die Schrift ist
zwar sehr praktisch zum schnellen Schreiben und Lesen, aber nicht gerade
optimal für das Behalten von Texten. Das hat Plato schon in seinem
"Phaidros" bemängelt: "Denn sie [die Schrift] wird Vergessenheit in den
Seelen derer schaffen, die sie lernen... Also nicht für das
Gedächtnis, sondern für das Wieder-Erinnern hast du ein Elixier
erfunden." (247c).
[298]
Alle
bildenden Kunst- und Handwerkstraditionen im weitesten Sinne gehören
natürlich ebenso in diese Kategorie.
5.6.4. Nichtsprachliche
performative Transmissionssysteme
Hier
sind weit bekannt: der Tanz, das Ballett, der Sport (Gymnastik), Fechtkunst,
asiatische Kampfsportarten
,
Yoga, Gaukelei, Massage, und Sexualkünste (z.B. Tantra, Kama Sutra).
[299]
Besondere
Bedeutung in diesem Bereich haben Transmissionssysteme, die mit Lust und / oder
Schmerz verbunden sind. Der
sexuelle
Akt
bietet die direkteste und intensivste Erfahrung lustbetonter
neuronaler Resonanz
.
Im
Bereich schmerzbetonter
neuronaler Resonanz finden sich die Phänomene
der
sadomasochistischen und punitiven Kultur
[300]:
Krieg, Prügel, Strafen, Folterungen, Körperverstümmelungen.
Letztere gehören zum Standardrepertoire der meisten indigenen
Initiationsrituale und sind damit sehr wesentliche kulturelle
Transmissionssysteme. Besonders bemerkenswert erscheint unter diesem Aspekt die
Tatsache, daß Dinge, die unter Schmerzen gelernt werden, besser in der
Erinnerung behalten werden, als ohne. Schmerz war und ist in allen kulturellen
Traditionen immer noch so etwas wie ein mnemotechnisches Wundermittel. In der
europäischen Tradition sind in diesem Zusammenhang die bekannten
Prügel-Schulen
[301]
zu nennen, aber auch Militär, Gefängnisse, und Konzentrationslager.
Dies
zeigt uns eine sehr dunkle und pathologische Seite der kulturellen Tradition
der Menschheit, die sich auch mit gutem Willen und moderner Gesetzgebung kaum
auslöschen lassen wird. Denn nicht erst seit Freud wissen wir, daß
der am wenigsten bewußte Schmerz, das am tiefsten verborgene Leiden, und
die am tiefsten verdrängten Schrecken, auch die dauerhafteste mnemonische
Beständigkeit haben. Dies erklärt auch die tiefsitzenden
Feindschaften unter den Ethnien, die über Jahrhunderte gegeneinander
Blutrache-Feldzüge führen, wie gerade in Ex-Jugoslawien geschehen.
Das allgemeine Gesetz der Presse: "
Real
News are Bad News
"
gilt übertragen auch für die kulturelle Transmission: "
Bad
oldies are the most persistent oldies
".
Vielleicht
ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der Vorgeschichte des
Menschen, als seine Mnemotechnik. "Man brennt etwas ein, damit es im
Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im
Gedächtnis" - das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten ...
Psychologie auf Erden... Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der
Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die
schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören),
die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Kastration), die
grausamsten Ritualformen aller religiösen Kulte (und alle Religionen sind
auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) - alles das hat in jenem
Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel
der Mnemotechnik erriet... Je schlechter die Menschheit "bei Gedächtnis"
war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche.
5.6.5. Faktoren
der Dynamik in der kulturellen Transmission
In
den westlichen Zivilisationen herrscht ein Übergewicht der statischen,
speichernden Formen
der Transmission, also all dessen, was man in Bibliotheken und Museen einlagern
und zur Schau stellen kann, die sogenannten "Kulturgüter".
[303]
Auch performative Kultur, wie Musik und Theater, wird zumeist über
Speichermedien tradiert. Der Vorteil dieser Formen ist, daß keine
fortwährenden Anstrengungen unternommen werden müssen, um die
Transmission aufrechtzuerhalten, und die Permanenz des Materials eine gewisse
Sicherung gegen Verluste bietet. Der Nachteil ist, daß das Gespeicherte
den essentiellen Hauptfaktor des Lebens, die Dynamik, verliert. Ein weiterer
Nachteil ist die Tendenz des ungehemmten Anwachsens der gespeicherten
Aufzeichnungen, und der fehlende Anreiz, die Kondensation und Synthetisierung
des Materials zu optimieren. Abgesehen von den Lagerungskosten ergibt sich die
Gefahr von Transmissionsverlusten, die durch den "Nadel-im-Heuhaufen"-Effekt
entstehen: Wichtiges Material gerät in Gefahr, unter Massen von
mitgespeicherten
Duplikationen und Paraphrasen verloren zu gehen, und gesuchte Information ist
zwar irgendwo in den Bibliotheken und Museen der Welt vorhanden, aber nicht
mehr auffindbar
.
Dies betrifft besonders Themen, die sich schlecht auf Stichwort- und
Klassifikationsverzeichnisse abbilden lassen
.
[304]
In rein performativen Traditionen, wie bei den australischen Aborigines,
muß die Kultur im permanenten dynamischen Fluß, in permanenter
Er-innerung und Re-Inszenierung, und damit in immerwährender Präsenz
in der Aktualität des gelebten Lebens gehalten werden.
[305]
Alles, was die Menschen solcher Kulturen an immateriellen Kulturgütern von
Generation zu Generation übermitteln, erhält entweder die lebendige
Seele dieser Kultur, oder die Kultur stirbt. Leider ist in den letzten 100
Jahren genau dies weltweit geschehen, nicht nur in Australien, sondern
überall sterben die indigenen performativen Traditionen rapide aus.
[306]
Ein
weiteres Problemfeld speichernder Transmissionen sind die Gesundheitsprobleme,
die in Verbindung mit überwiegend statischen Arbeitsweisen auftreten
können, die körperliche Bewegung, und Atmung, der gesamte physische
Tonus, ist beim sitzenden Arbeiten am Schreibtisch und am Computer auf ein
Minimum eingeschränkt
.
[307]
Im Gegensatz zu den Zeiten Goethes, Schillers und Humboldts, als nur eine
extrem kleine Minderheit der Bevölkerung eine formale universitäre
Ausbildung erhielt, und die überwiegende Mehrheit die informellen,
dynamischen Transmissionen der Bauern und Handwerker übernahm, befindet
sich heute die Mehrheit in Schreibtisch-Arbeitssituationen. Die
Handwerkstraditionen sind fast ausgestorben, oder erhalten sich nur in kleinen
Nischen. Die dynamische Transmission wird in den europäisierten
Zivilisationen nur von einer sehr dünnen Minderheit gepflegt, wie
Tänzer, Schauspieler, und Akrobaten. Für die überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung ist das nur als Freizeitaktivität und Hobby
möglich. Es erscheint angebracht, der dynamischen Transmission mehr
Gewicht beizumessen, wobei sich besonders die Pflege der Bereiche
Tanz,
(improvisierende)
Musik
und
Rhythmik,
Akrobatik,
und
Gymnastik
im Sinne der antiken
paideia
anbietet, und eine neue Formulierung des alten Erziehungsideals als "
anima
sana in corpore sano
"
bewirken könnte.
5.6.5.1. Ein
Programm zur Dynamisierung des Wissens:
Die
Wiedereröffnung der Peripatetischen Schule
Ein
weiterer Vorschlag, um eine entscheidende Weichenstellung zur Dynamisierung der
kulturellen Transmission einzuleiten, ist:
Die
Wiedereröffnung der Peripatetischen Schule
.
Damit
ist nicht gemeint das System von Lehrmeinungen, das uns Aristoteles
hinterlassen hat,
[308]
sondern viel einfacher,
die
Methode seines Lehrens
,
die, im Gegensatz zu seinen Lehr-
Inhalten,
zeitlos gültig und wertvoll ist.
[309]
Dies ist vielleicht das größte, und bedeutendste, bisher noch
völlig unbeachtete Vermächtnis dieses großen Denkers. Das
Programm ist sehr einfach zu formulieren: Von einem bestimmten Zeitpunkt X an,
wird der Unterricht an den Schulen und Universitäten der Welt nur noch
peripatetisch
durchgeführt, d.h. im Umhergehen. Wobei es durchaus erwünscht ist,
daß dabei auch stärkere Bewegungen stattfinden, wie z.B. Springen,
Klettern, Tanzen, Hämmern, Sägen, Nageln, Feilen, und Musizieren.
Sodann soll neben Sprechen auch Singen erlaubt sein. Strikt verboten ist aber
das Hinsetzen während des Unterrichts, das nur während der Pausen
erlaubt ist. Auf diese Weise wäre ein starker Anreiz gegeben, das
Menschheitswissen in dynamischer Form darzustellen und zu übertragen, und
es bestehen Chancen, dadurch eine wesentliche Blockade unserer Zivilisationen
aufzulösen. Da wir mit unserer Computertechnik schon heute technisch dazu
in der Lage sind, geht es nur noch darum, diesen Plan auch umzusetzen.
5.6.5.2. Die
japanische Kata-Tradition
Hier
soll auch der Beitrag der japanischen Kultur Beachtung finden, die, wohl
einzigartig für eine industrialisierte Zivilisation, noch heute eine
Tradition der
Muster
der reinen Bewegung
unterhält: Die
Kata.
[310]
Dies wird in allen (Budo-) Kampfkünsten, sowie der Noh-, Bunraku-, und
Kabuki-Tradition gepflegt.
Kata
ist die Esszenz des
Nicht-fixierbaren,
ein System von kombinierbaren Bewegungsformen, die jeweils im und aus dem
Augenblick heraus inszeniert werden. Diese kompromißlose Fokussierung auf
den Moment, das
Jetzt,
seine unbedingte Erfahrung und Auskostung, ohne ihn anhalten zu wollen, ist die
Esszenz der buddhistischen Zen-Tradition. Sie stellt damit den
komplementären Gegenpol zu dem Grundmotiv der Szene aus Faust
(11581-11594) dar.
[311]
5.7. Kulturelle
Transmission nach Altersstufen
Die
Hauptformen der kulturellen Transmission beim Menschen lassen sich nach den
Altersstufen unterteilen, in denen sie stattfinden.
[312]
Ihre Abfolge entspricht den Entwicklungsstadien und der Plastizität des
Nervensystems:
5.7.1. Jahr
0 bis 3: Primäre Sozialisation
In
dieser Phase findet kulturelle Transmission hauptsächlich auf neuronaler
Ebene statt.
[313]
(Primäre Sozialisation,
Radermacher
(1998), Ebene 2).
[314]
Dies beginnt schon im Mutterleib, vor allem über klangliche / rhythmische
/ kinesthetische Einflüsse. Der Foetus nimmt den Klang der
mütterlichen Stimme und ihre Bewegungen, sowie andere Geräusche der
Umwelt wahr
.
In der Beziehung zwischen Säugling und Mutter kann man Muttermilch auch
als Kommunikationsform ansehen, z.B. für Hormone und Antikörper. Der
starke Emotional- (neuronal-) Kontakt zwischen Mutter und Kind beim Saugen an
der Brust ist bestens bekannt. Das Kind lernt im engen Kontakt mit der Mutter
die fundamentalen kulturellen Muster vom Umgang mit dem Körper (aufrechter
Gang, Bewegungsmuster, Exkretionskontrolle), sowie primäre Sozialformen
(Proxemik, Kinetik), die in seiner Kultur vorherrschen, sowie die
Muttersprache.
Das Kind hat in dieser Phase keine Wahl, als die angebotenen Kulturmuster zu
übernehmen. Wenn auf dieser Ebene eine Blockade der neuronalen Resonanz
eintritt (z.B. Autismus)
,
[315]
ist das Kind mit großer Wahrscheinlichkeit in seiner weiteren Entwicklung
für immer gestört. Diese Ebene kann auch als
Prägung
bezeichnet werden, da die in dieser Phase erworbenen neuronalen Muster
später nicht mehr durch andere zu ersetzen sind. So ist z.B. die in dieser
Phase erworbene neuronale Disposition zum Verstehen und Aussprechen der Nuancen
der chinesischen Tonsprache nicht mehr durch späteres Lernen akzentfrei zu
beherrschen. Eine systematische Behandlung dieser Transmissionsformen ist
dadurch erschwert, weil sie weitgehend unbewußt stattfindet. Sie
läßt sich nur durch Beobachtung von Pathologien (s.o.) und
differenzielle Analyse im Kulturvergleich durchführen. Das
Sprachlernen
bildet die Basis für die weiteren Formen der
Sekundären
Sozialisation
.
5.7.2. Jahr
1 bis 5: Die Spielphase.
Je
nach den kulturellen Gegebenheiten kann das Kind nach dem Laufenlernen mehr
oder weniger autonom seine Umgebung aktiv erforschen.
[316]
Hier fand vor dem Zeitalter der Kleinfamilien und Massemedien der westlichen
Zivilisationen (z.T. bei "indigenen" Völkern noch heute) eine wesentliche
orale Transmission über Geschichten, Märchen, und Erzählungen
statt, mit der die Kinder von den Großeltern (die von Erwerbsaufgaben
freigestellt waren) und Verwandten, oder Ammen...
in
die fundamentalsten Kenntnisse von Leben und Tod und Himmel und Hölle
eingeführt worden
waren... Die Institution, die die nahtlose Übermittlung vollzieht,
heißt Kinderstube, und die kompetente Literaturgattung für solche
Informationen nennt man seit alters 'Ammenmärchen'.
[317]
Ebenfalls
fand kulturelle Transmission nicht nur von den Erwachsenen, sondern auch von
Kindern gleicher oder höherer Altersstufen statt. Es existier(t)en z.B.
geschlossene Kindergesellschaften, die eine völlig eigene Traditionsform
haben/hatten. Gleichzeitig ist diese Phase von aktiver Gestaltung
gekennzeichnet. Die frühere, quasi autonome Tradition unter Kindern ist in
den westlichen Zivilisationen (und heute mit dem
McDonalds-CNN-Effekt
praktisch global) durch das Fernsehen entscheidend verändert/zerstört
worden, denn die modernen Mythen von Sesamstraße und Soap-Operas, bis zu
den 100.000 Gewalt-Szenen, die ein Kind durchschnittlich im Fernsehen sieht,
haben einen wesentlich anderen Charakter und Hintergrund als die alten
Traditionen.
5.7.3. Jahr
5 bis 20: Die formale Lernphase
Die
formale Lernphase unter Aufsicht der Erwachsenen, (
Radermacher
(1998), Ebene 3), Transmission der hauptsächlichen symbolischen
Kulturinhalte.
[318]
Je nach den kulturellen Gegebenheiten wird das Kind entweder in die formale
Schulung des Erziehungssystems eingegliedert, und lernt Schreiben und Lesen,
sowie mathematische Grundfertigkeiten, oder wird in den traditionsorientierten
Jäger- / Krieger- / Sammler- / Bauern- / Handwerks- Fertigkeiten seiner
Gesellschaft ausgebildet.
5.7.4. Zwischen
Jahr 14 bis 25: Übergang ins Erwachsenenleben
Je
nach den lokalen Gegebenheiten wird der/die Heranwachsende mit mehr oder
weniger Zeremoniell in die Welt der Erwachsenen eingeführt. Im indigenen
Setting
Initiation,
in zivilisierten Gesellschaften "
Mittlere
Reife
",
"
Berufseintritt",
"
Matura",
"
Graduation"
o.ä. genannt.
[319]
Als Erwachsener kann er/sie dann die Aufgabe der Fortpflanzung und die Rolle
der kulturellen Transmission an die nächste Generation übernehmen.
Danach
ist (zumindest theoretisch) die Möglichkeit gegeben, an der kulturellen
Transmission (Bildung) höherer Ebene bzw. höherer Abstraktionsgrade
teilzunehmen,
[320]
entweder indigenen Initiationsgraden höherer Ordnung
[321]
oder in den Zivilisationen, akademischen Abschlüssen höherer Weihen ("
Promotion",
"
Habilitation"),
und in den Kreis derer aufzusteigen, denen die Lizenz zur aktiven Gestaltung
und Re-Inszenierung des kulturellen Materials verliehen wird: Die Aufnahme in
die kulturelle Elite einer Gesellschaft.
[322]
Dies wird das Thema des nächsten Abschnitts sein.
Das
Spannungsfeld dieser Sichtweisen wird in der ethnologischen Literatur anhand
jeweiligen Positionen und Lehrmeinungen deutlich, die entweder den einen oder
anderen Aspekt als bestimmend oder dominierend annehmen. Dazu auch den Beitrag
von Ruth Benedict, oder die Diskussion in Strecker (1988: 21-22).
->:MEMORY_PATTERN,
p.
134,
->:RITUAL_PATTERN, p.
224[259]
horizontal
und
vertikal
sind Begriffe aus der Epidemiologie für
synchron
und
diachron.
[260]
Gumilev behandelte das Thema in seinem Werk "Ethnogenesis and the Biosphere"
(1990) in Nachfolge von
Vernadski u.a. auf thermodynamisch- /
systemtheoretisch- / geographisch- / biospherischer Basis. Da die russische
Ethnologie relativ isoliert von der europäisch-amerikanischen arbeitete,
entstand seine Arbeit anscheinend ohne Kenntnis von Benedict und Bateson.
Gumilev erwähnt lediglich die gemeinsamen Vorläufer: Ibn Khaldun,
Vico,
Spengler und Toynbee (p. 150, 196). Seine Rejektion der Position
Toynbees, p. 150-153.
[261]
Gumilev (1990: 204): In the words of Frederick Engels, 'no one can do
anything without at the same time doing it for the sake of one or other of his
needs and for the sake of the organ of this need'.
[262]
Gumilev (1990: 244) definiert hierzu seinen Begriff
ethnocoenosis:
"... besides the total human stock, a certain number of elements of living
nature and technically organized inert matter... includes, along with people,
certain domestic animals, cultivated plants, and things as objects of use."
(p.
175): "Man... is a social being because his personality is moulded in ceaseless
intercourse with other people and with objects created by the hands of his
forefathers (technique)."
Siehe
auch die Betrachtung von Krankheiten als kulturelle Muster der Koexistenz von
Menschen und Endo-Organismen (Parasiten).
[267]
Beispiel: So ist der völlig durchkulturalisierte Komplex der
Ernährung
natürlich "intimst" mit der
Systematologie
der auftretenden Blähungen
verbunden, wie jeder feststellen kann, der in ein Land kommt, wo viele Bohnen
gegessen werden.
->:PET,
p.
151 [271]
Aere Perennius (Horaz)
Die
Besonderheiten der Chinesischen Zivilisation in Abhängigkeit von ihrer
Schrift werden unter den Schrift-Typen behandelt:
->:SCHRIFTEN,
p.
73,
->:CHINESE_ALTERN, p.
186[275]
Hier ließe sich die Geschichte weiter fortsetzen, mit der Einführung
des Papiers, das in China erfunden wurde, und das aufgrund seiner Filz-Struktur
materialtechnisch erheblich widerstandsfähiger war als Papyrus (Sandermann
1997).
[276]
Die Assyrer und Perser verwendeten zunehmend auch Papyrus zum Schreiben, mit
aramäischer Schrift und Schreibern.
[277]
"natürlich" ist im strikten Sinn inkorrekt, da Sprache ein Phänomen
der Kultur ist.
[282]
solche Stilformen wurden z.B. von Frobenius und seiner Schule in
Verbreitungskarten dokumentiert. S.a. die Werke von
Frobenius, und
Haberland (1973).
[283]
Z.b. Verneinung als Kopfschütteln oder Aufwärtsnicken,
Begrüßungsrituale, etc...; bei Luhmann: "Generalisierung von
Verhaltens-Erwartungen".
[284]
Erdheim (1984), bes. xi, xii, xiv, 327-8, 361. Die Funktionen der
Unbewußtmachung der akademischen Wissenschaften werden auf p. xii
dargestellt. Der besondere Wirkmechanismus der Unbewußtmachung wird auf
p. 291 erläutert:
"Diese
im Unbewußten verankerte Unterordnung erzielt eine ähnliche Wirkung,
wie wenn sie genetisch gespeichert worden wäre. Dem Bewußtsein
entzogen und von einem Schein von Natur umstrahlt, sind diese Normen gegen
Verlust und Eingriffe besser abgesichert, als wenn sie, über Einsichten
vermittelt, nur im System "Bewußt" eingeschrieben wären."
Ebenfalls
Gumilev (1990: 126-127), (p. 186): "ethnoi arise and disappear independently
of the existence of any notions of contemporaries." / (p. 175): "Man... his
personality is moulded in ceaseless intercourse ... with objects created by the
hands of his forefathers (technique)."
[285]
Rancour-laferriere (1985: 120): "... the 'myth of matriarchy' as a
psychological construct built simply upon the universal experience of having
had a mother".
[293]
Cassirer (1960: 161)
[294]
In dem Sinne, wie Plat
on
in Kratylos (390e) Homer den
daemiourgon
onomaton
nannte.
s.a.
Cassirer (1960: 198-201),
Cassirer (1994: 113-118). Zu der Rolle von
Goethe in der Neuschöpfung in der deutschen Sprache.
->:EX_ARCHAE,
p.
36 [308]
Bzw., da uns keine Originalwerke erhalten sind und die vorhandenen Schriften
aus Notizen seiner Schüler zusammengeschrieben wurden, das, was alle die
unzählichen Generationen seiner Rezipienten und Rezipienten von
Rezipienten daraus gemacht haben.
[309]
Siehe auch das obige "Spannungsfeld von Form und Substanz"
->:FORMSUBST,
p.
29 [310]
Spengler (1980: 703-713) beschreibt unter der leider sehr irreführenden
Bezeichnung "Das Wesen der Rassen" die Esszenz seiner dynamischen Morphologie
als "Physiognomie der Bewegung" (708). Da in den westlichen Zivilisationen kein
Term existiert, der genau das Wort "Kata" übersetzt, und der Begriff
Morphologie
von vielen anderen Bedeutungen überfrachtet ist, wäre für den
vorliegenden Kontext der Terminus Technicus
Kata-Logie
eher angebracht, um Mißverständnisse zu vermeiden.