In Platos Timaios begegnet uns die archae, der Ursprung, in mehrfacher Form. Um mit Aristoteles zu sprechen: archae legetai pollachos. Zum einen ist das Thema des Werkes der Ursprung der Welt, der Menschen, und der Lebewesen. Zum anderen ist Plato die archae des westlichen philosophischen Denkens:
Plato ist der Gründer für das, was erst seit ihm mit vollem Gewicht des Sinns den Namen Philosophie trägt.
Eine Besprechung des Timaios ist eigentlich eine Angelegenheit für jemand, der Experte in Metaphysik, reiner Mathematik, Astronomie, Medizin, Psychologie, Theologia Naturalis, Paleographie, und Griechischer Grammatik zugleich ist. (BIB:PLATO-TAYLO R, p. vii) Der letzte Mensch, der diese Spannweite von Wissensgebieten in sich vereinen konnte, war Leibniz. Wir Nachgeborenen und der Zersplitterung und Spezialisierung der Wissenschaften zum Opfer gefallenen können nur noch sagen: "Wir wissen nicht." Dies ist Grund genug, hier eine neue, sehr alte Betrachtungsweise einzuführen: Das Leerstellendenken. Das Leerstellendenken ist eine Denkmethode, die vom Wissen um das Nichtwissen ausgeht, also vielleicht genau die geeignete Ausgangsbasis, sich diesem Werk zu nähern. Wenn wir schon nicht wissen, dann wenigstens mit Systematik (oder Architektonik). Siehe dazu auch den Abschnitt: Das Leerstellendenken und die Architektonik. Wir erhalten auch von Plato selber Schützenhilfe, denn der Timaios ist das Werk über das, von dem man nichts genaues wissen kann, es ist also im Ton und Bereich des Wahrscheinlichen gehalten (29 c-d).
Wir können feststellen, daß westliches Denken nach Plato und Aristoteles ein Gewordenes ist, in den Schriften Platos aber ein Werdendes. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf Versuche, ein Verständnis seiner Schriften zu erlangen: Wir müssen davon ausgehen, daß die philosophische Sprache nach Plato in einer Weise von Plato geprägt ist, daß uns wesentliche Inhalte seines Denkens verloren gehen, wenn wir dies nicht berücksichtigen.
So muß man denn gewahr bleiben, daß man bei all der Vertrautheit mit dem Denken Platos nicht übersieht, daß wir hier in die archae blicken, von der aus die Dinge noch anders sind, als vom Standpunkt des Gewordenen. Die offenbare Vertrautheit von Platos Denken - wie Jaspers es in dem folgenden Zitat ausdrückt - soll uns nicht verleiten, sein Denken in dieselben Kategorien zu pressen wäre als unseres.
So großartig die vorplatonische Philosophie in ihren ehernen Gebilden, in ihrer Nähe zum Ursprung, in ihrer unendlichen Deutbarkeit ist, - wir vermögen sie zu bewundern, nicht in sie einzutreten. Denn diese Philosophien sind in ihrer Radikalität doch wie neue vielfache Befangenheiten. Daher kann es uns geschehen, daß wir aufatmen, wenn wir von den Vorsokratikern zu Plato kommen, während unsere romantische Sehnsucht dorthin zurückblicken mag wie in eine verlorene Welt von Uroffenbarungen des Gedankens.
Man
kann in der Entwicklung der griechischen Sprache bis heute mehrere wohl zu
unterscheidende Stadien ausmachen: Mykenisch, Homerisch, Platonisch,
Byzantinisch, und Neugriechisch. Von dem mykenischen Stadium wird kaum je etwas
zu erfahren sein. Es gibt einige Relikte mit einigen hundert Schriftzeichen in
der kretisch/minoischen Linear-B Schrift in griechischer Sprache. Diese Schrift
ging in den Wirren der "Dunklen Zeiten" um ca. -1200 verloren.
(BIB:HAARMANN-SCHRIFT, p. 70-94, 243 ff., 365, ANM:EUROP-SCHRIFT
[1]) Die Griechen lernten um ca. -1000 ihre Schrift völlig
von Neuem, diesmal von den Phöniziern, deren Aleph-Beth System sie
übernahmen. (BIB:HAARMANN-SCHRIFT, p. 267-29
5)
Homerisches (evtl. noch Hesiodsches) Griechisch unterscheidet sich tiefgreifend
in der Bedeutung der speziellen "philosophischen" Begriffe: wie nous, ousia,
hyle, morphe, psyche, doxa, logos, genesis, einai, agathon, aletheia etc.
Dieser subtile Begriffswandel war es ja, der überhaupt das Griechische zu
einer philosophischen Sprache machte. Die Begriffswandlung läßt sich
in einem mehrhundertjährigen Prozess nachzeichnen, der mit den milesischen
Naturphilosophen begann und im Wesentlichen mit Aristoteles seinen
Abschluß gefunden hat. (S.a. BIB:HÖLSCHER-ANAXI
M)
Die archae der philosophischen Sprache, und damit des westlichen
philosophischen Denkens muß vor dem Hintergrund dieses Prozesses gesehen
werden, und seine Dynamik aus der Dynamik der Wandlungen der Wortbedeutungen
der Schlüsselbegriffe verstanden werden.
Platos Werk ist sachlich erwachsen im Zusammenhang mit den alten und gegenwärtigen Philosophen. Es ist, als ob alle vorhergehenden griechischen Gedanken, aus vielen Quellen unabhängig von einander fließend, in Platos umgreifendes Bewußtsein münden. Aber diese Herkünfte sind bei ihm eingeschmolzen, weil in einen neuen Sinnzusammenhang aufgenommen... Plato eignete sich fortschreitend die gesamte philosophische Überlieferung an. Es gab den Kosmosgedanken der milesischen Philosophen (Thales, Anaximander, Anaximines), des Anaxagoras und Empedokles... Es gab die bis heute gültigen Seinserhellungen des Heraklit und Parmenides... Es gab die Ansätze von Wissenschaften in Geographie und Medizin, und es gab die große, Plato zeitgenössische, von Entdeckung zu Entdeckung schreitende Forschung in Mathematik und Astronomie...
BIB:JASPERS6
7,
p. 28
In der Tat reichen die Vorgänger Platos noch viel weiter zurück.
Nicht umsonst erwähnt er in der Vorrede zum Timaios und an vielen Stellen
anderswo das uralte Wissen der Ägypter, das durch die ausgedehnten Reisen
der Vorsokratiker "zu den Quellen des Wissens" nach Griechenland gebracht
wurde: Pythagoras, der bei den Ägyptern, Chaldäern, und
Phöniziern gelernt hatte, Demokrit, der "bis an die Grenzen der Welt
gekommen war", d.h. das gesamte damalige Perserreich unter dem Schutz des
persischen Königs bereist hatte, und nicht nur Ägypten und
Mesopotamien gesehen hatte, sondern wohl auch an die indischen Grenzen gekommen
ist und Kontakt mit den dortigen Geistesströmungen hatte. Plato war nur
bis Ägypten gekommen, und schien mit Demokrit tiefgehende ideologische
Differenzen gehabt zu haben. Er wollte sogar seine Schriften verbrennen lassen.
Es war zu den damaligen Zeiten nicht üblich, die Meinungen anderer
Philosophen unter Namensnennung zu zitieren, da man voraussetzen konnte,
daß die Leser einer neuen Schrift die Schriften der anderen Philosophen
auch kannten. So ist es gut möglich, daß in Platons Schriften die
Werke der anderen Philosophen unerkannt vorkommen, von Plato nach seinem System
kondensiert und geordnet.
[1]ANM:EUROP-SCHRIFT
Die Vinca-Schrift ist von der Zeit um -5000 erstmals dokumentiert. Damit ist
diese original europäische Schrift mit 7000 Jahren die älteste der
Menschheit, und noch etwa 2000 Jahre älter als die
sumerisch/indus-Schriftformen. Haarmann gibt eine nahe Verwandtschaft zwischen
der Vinca-Schrift und dem Linear-A des altkretisch-minoischen an. Linear-A ist
wiederum recht nahe verwandt mit Linear-B so daß eine Abstammung oder
Diffusion anzunehmen ist. Da aber Linear-B benutzt wurde, um das mykenische
Griechisch zu schreiben, ist das Griechische die älteste Schriftsprache
der Menschheit - wenn man der Argumentation von Haarmann folgen mag. Er
hat als Zusammenfassung das Wort geprägt: Ex occidente lux. Die Wiege
der Zivilisation lag im Westen, nicht im Osten.