Triftige Gründe, sich mit der Archae zu beschäftigen, sind besonders dann gegeben, wenn die Menschen, wie heute, sich an einem Punkt befinden, da es offenbar wird, daß jenseits des Gewordenen etwas völlig Neues im Entstehen ist. Dieses Werden des völlig Neuen läßt sich gerade aus seinem Wesen heraus nicht mit der Begrifflichkeit und der Begreiflichkeit des Gewordenen erfassen, begreifen, manipulieren, handhabbar machen, managen, verwalten, oder sonstwie in die bekannten Bahnen zwingen. Dieses Neue läßt sich nur als das völlig Neue verstehen, erkennen, und auf sich einwirken lassen, dann kann man mit dem Neuen mitgehen, und sich auf die neuen Bahnen der Geschichte einschwingen. Um das zu machen, ist es nötig, ein neues, altes, archaisches, Verhältnis zu der Archae, zu dem Ursprung, zu erlangen.
Das
griechische Wort archae hat eine Mehrfachbedeutung, deren zeitlose
Vielgestaltigkeit uns heute noch begegnet: In vielen Lehnwörtern, die
unser westliches Denken den bahnbrechenden Leistungen der griechischen
Philosophen verdankt, ist eine oder andere Bedeutung von archae erhalten:
Archäologie, archaisch, Archiv, Monarchie, Oligarchie, Anarchie,
Hierarchie, Patriarch, Arch-Bishop, Archangel.
Das Wort archae bedeutet:
1) Anfang, Beginn, Anfangspunkt, Ursache, erste Veranlassung, (phil.)
Prinzip.
2) Anführung, Herrschaft, Obrigkeit
3) Reich, Gebiet, Statthalterschaft
4) Ur-Grund, Wesensgrund
Wenn
wir noch weiter zurückschauen in die Entstehung der griechischen
Philosophie, so finden wir in der Theogonie Hesiods den Ausspruch: "Im Anfang
war das Chaos." Chaos wird in seiner normalen heutigen Bedeutung als
"ungeordnet", "unwirklich", eben "chaotisch" verstanden. Eine wesentliche
Bedeutung ist aber: Der leere, unermeßliche Raum. Die absolute
Leere.
Die Archae, der Ursprung, ist etwas, das mit den Kategorien des Seienden
nicht zu erfassen ist, und für diese Kategorien daher leer.
Nach Meinung von Hölscher hat Hesiod seine Theogonie wahrscheinlich aus
semitischen Schöpfungsmythen entlehnt, so die Kumarbi-Epen und dem
phönizischen Sanchujaton-Epos, das von Philo erzählt wird. (S.a.
BIB:HÖLSCHER-ANAXIM
,
p. 136, 143-168) In diesen Epen kommen ähnliche Szenen vor: Kronos
heißt hier Kumarbi, der seinen Vater, den Himmelsgott kastriert. In der
phönizischen Version kommen sogar schon die Namen selbst vor: Eliun,
Uranos, El-Kronos und Demarus (a.a.o. p. 137). Die Sichel, mit der Kronos den
Uranos entmannt, wird harpae genannt, und ist ein sichelförmiges Schwert,
dessen Namen und Form semitisch ist. Das Alter dieser Mythen ist noch vor -1600
anzusetzen, also 800 Jahre vor Hesiod (a.a.o., p.138). Der Begriff des Chaos
wurde von Hesiod mit dem Urstoff des semitischen Mythos übernommen. Damit
ist eine Wesensverwandtschaft zu der anderen, bekannten semitischen
Erzählung gegeben, die in der Bibel auftaucht: "Und Finsternis war
über dem Abgrund - und der Wind (Gottes) schwebte über dem Wasser"
(a.a.o., p.141). Aus einer verwandten Quelle hat Thales anscheinend seine
Anschauung von der archae als Wasser entnommen (a.a.o., p. 126-133).
Plato erwähnt die Hesiodsche Kosmogonie in einem einzigen Satz in Timaios
40e, 41a.
Das
Bestreben der vorsokratischen Philosophen richtete sich auf die Nennung einer
Ursubstanz, aus der alle Dinge der faßbaren Welt entstanden sein sollten.
Man versuchte, wahlweise das Wasser, das Feuer, oder andere Elemente zur
Ursubstanz zu erklären. Es könnte scheinen, als ob die Griechen der
damaligen Zeit eine Art naiven Realismus als Grundlage ihrer impliziten
Erkenntnistheorie genommen hätten. Das "Seiende" des Parmenides und einige
Aussagen des Heraklit weisen darauf hin. Allerdings muß hier, wie bei
allen Deutungsversuchen der vorplatonischen Zeit, sehr darauf geachtet werden,
daß wir nicht unsere durch das Platonische (ANM:PLATONISC
H[2]) gebildeten Denkkategorien den damaligen
Begriffen aufzwingen. Daher auch die oben genannte Differenzierung der
griechischen Sprache. Wenn Heraklit sagt: "Feuer ist vernunftbegabt" so hatte
er sicher keine naive Vorstellung von dem Herdfeuer als intelligent, sondern er
bezog sich auf eine Tradition von mindestens einer Million Jahren in der Archae
des Menschengeschlechtes, während der das Feuer das wesentliche Kultobjekt
war. So gesehen, ist die Feueranbetung der Zoroastrischen Religion der letzte
Überrest dieses ältesten Kultus der Menschheit. Das Feuer als
quasi-autonomer Prozess, der sich aus seiner eigenen Dynamik ernährt, hat
Eigenheiten, die es tatsächlich sehr in die Nähe von Intelligenz
rücken.
Plato hat im Timaios, 48 c explizit angegeben, daß er sich mit dem
Ursprung der Dinge nicht direkt beschäftigen will:
Über den "Ursprung von allem" oder die "Ursprünge" oder wie man es sonst damit hält, soll jetzt nicht gesprochen werden, und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil es schwierig ist, unsere Meinung bei der gegenwärti- gen Weise der Behandlung deutlich darzulegen. Glaubt also ihr nicht, ich müsse darüber sprechen, noch dürfte ich selbst imstande sein, mir selbst einzureden, daß ich mich wohl mit Fug an ein solches Unternehmen wagen dürfe.
[2]ANM:PLATONISCH
Platonisch im Sinne der oben genannten Sprachstruktur des Griechischen, das
eine spezielle Formierung und Kristallisation bestimmter
Schlüsselbegriffe, und damit Denkkategorien aufweist.