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4. Die Thematik des Timaios


Plato hat in diesem Bericht eine Form gewählt, die sich von seinen anderen Werken unterscheidet. Statt eines Dialogs ist hier ein ungebrochener Monolog. Plato subsumiert und kondensiert in diesem Bericht offenbar das kosmologische, naturwissenschaftliche und medizinische Wissen der Griechen seiner Zeit. Er berührt hier Bereiche, über die er sonst in seinen anderen Schriften wenig sagt. Er folgte sonst mehr seinem Lehrmeister Sokrates, der die Erforschung der Natur für weniger wichtig hielt, da die Dinge der Welt sowieso nie mit letzter Genauigkeit zu erkennen waren. Nach Taylor (BIB:PLATO-TAYLOR, p.i x) ist ein wesentlicher Teil des Werks pythagoräischen Ursprungs. Er sagt: "Plato accepted the bulk of timaios as 'the most likely story'" (p. ix). Plato sagt das selber in 29 c-d so:

Wenn es uns also, Sokrates, in vielen Dingen über vieles - wie die Götter und die Entstehung des Weltalls - nicht gelingt, durchaus und durchgängig mit sich selbst über- einstimmende und genau bestimmte Aussagen aufzustellen, so wundere dich nicht. Man muß vielmehr zufrieden sein, wenn wir sie so wahrscheinlich wie irgendein anderer geben, wohl eingedenk, daß mir, dem Aussagenden, und euch, meinen Richtern, eine menschliche Natur zuteil ward, so daß es (d) uns geziemt, indem wir die wahrscheinliche Rede über diese Gegenstände annehmen, nicht mehr über dies hinaus zu suchen.

4.1. Der große Meister Propper

Die wesentliche philosophische Komponente des Timaios scheint die Synthese der polaren Denkenpositionen des Parmenides (Das Sein) und des Heraklit (Das Werden) zu sein. Plato zeigt hier ganz deutlich seine Fähigkeiten als der große "Meister Propper" der antiken Philosophie: Er zwang "Weiß rein, und Grau raus", wie man heute vielleicht sagen würde. Das Grau, das waren die widerstreitenden Ansichten der Vorplatoniker, die divergenten Ideen von der Archae, vom Ursprung, von dem Seienden oder Werdenden. Das Weiß war seine Ideenlehre. Das Agathon, das man besser nicht mit dem "Guten" oder "Schönen" übersetzen sollte, um noch sich noch halbwegs das Verständnis seines Denkens offenzuhalten.
(ANM:SOKRATES [3])

4.2. Das Wesen des Seienden

"Das Seiende" ist das essentielle Thema allen westlichen Denkens. Seine erste systematische Behandlung ist uns von Parmenides überliefert, dessen eindrucksvolles Lehrgedicht "Vom Wesen des Seienden" (nach BIB:PARMENIDES6 9) im Anhang auszugsweise wiedergegeben werden soll. (Anhang 1: Das Lehrgedicht des Parmenides) Mit Parmenides begann das Denken des Seienden. Die eminente Wichtigkeit dieses Themas beruht auf seiner Bedeutung für den Satz vom ausgeschlossenen Dritten:

estin e ouk estin -- es ist oder es ist nicht


Mit dem "Seienden" entdeckt Parmenides die Sphäre logischer Evidenz. (BIB:PARMENIDES74, p.57 )

Demnach ist es ganz zusammenhängend; denn Seiendes stößt an Seiendes. Und unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln ist es ohne Anfang, ohne Ende, da Werden und Verderben in weiteste Ferne verschlagen sind; verstoßen hat sie der evidente Beweis.

(S. Anhang 1)
Diese Formulierung bildet in der mengentheoretischen Sprechweise den Abschluß der Menge des Seienden, der nötig ist, um logische Funktionen darauf zu bilden.

Die Entdeckung dieses Satzes bedeutet ... die Entdeckung eines Gebietes, auf dem es unmittelbare Klarheit gibt, die dort, wo mit Hilfe von Beobachtung und Erfahrung die Welt erklärt werden soll, grundsätzlich nicht zu erreichen ist. Hier aber, auf dem Gebiet der Logik, ist sie möglich. Die Entdeckung, daß es eine Sphäre der Evidenz gibt, ist für ihren Entdecker überwältigend gewesen... Die Wahrheit ... ist Sache der Götter... Und jetzt zeigt sich mit einem Male, daß Wahrheit auch dem Menschen unmittelbar zugänglich war.

BIB:PARMENIDES74, p.79

4.2.1. Das Seiende bei Plato


Plato greift das Thema des Parmenides in seiner Einleitung zu Timaios wieder auf:

Zuerst nun haben wir meiner Meinung nach folgendes zu unterscheiden: Was ist das stets Seiende und kein Ent- stehen Habende und was das stets Werdende, aber nimmer- dar Seiende; das eine ist durch verstandesmäßiges Denken (28 a) zu erfassen, ist stets sich selbst gleich, das andere dagegen ist durch bloßes mit vernunftloser Sinneswahrnehmung ver- bundenes Meinen zu vermuten, ist werdend und vergehend, nie aber wirklich seiend. Alles Entstehende muß ferner zwangsläufig aus einer Ursache entstehen. Denn für alles ist es unmöglich, ohne Ursache zu entstehen.

BIB:TIMAIO S, 27d-28a

4.2.2. Das Seiende und das Erkennen


to gar auto noein estin te kai einai -- denn dasselbe ist Erkennen und Sein


Ebenso folgenschwer ist dieser Satz: Das Erkennen, damit das menschliche Bewußtsein, ist dem Seienden logisch nachgeordnet.

Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es ausgesprochen ist, wirst du das Erkennen finden. Denn nichts anderes ist oder wird sein außer dem Seienden, weil Moira es gebunden hat.

(Siehe Anhang 1)
Parmenides setzt hiermit eine Priorität des Ontischen vor dem Epistemischen. Diese Annahme hat in den letzten 2500 Jahren das Denken des Abendlandes geprägt. Man kann sagen, daß die gesamte abendländische Philosophie und Wissenschaft auf Reiterationen und Elaborationen dieser beiden Kernsätze beruht. Die Frage ist, ob Parmenides richtig übersetzt worden ist, und ob Plato im Timaios dieses Thema eventuell umgekehrt hat. Seine Lehre von den Ideen läßt sich ja so oder auch so ausdeuten: Der Begriff der Idee ist ja ebenfalls durch 2300 Jahre konventionellen Sprachgebrauchs in bestimmte Bahnen geraten, und es wäre zu klären, ob hier nicht eine Einseitigkeit vorliegt.

4.2.3. Rückschau auf 2500 Jahre Herrschaft des Seienden

Wir müssen uns vergegenwärtigen, das das Denken des Seienden dermaßen tief in das westliche Bewußtsein eingedrungen und integriert ist, daß es uns kaum möglich ist, etwas anderes als von dieser Kategorie Gebildetes zu denken. Das macht uns schon einer der Grundbegriffe der westlichen Philosophie klar: Das Wort "Ontologie". Wir reden in der Philosophie von der Ontologie aller möglichen Dinge und Begriffe, sogar von der Ontologie des Werdens. Das ist aber ein Widerspruch in sich selbst. In dieser Richtung argumentiert Zeno auch in seinen Paradoxen, wenn er von der Unmöglichkeit der Bewegung spricht. Es gibt keine Ontologie des Werdens, da es kein Sein des Werdens gibt. Es gibt lediglich ein Sein des "Begriffs des Werdenden". Diese Problematik ist ein subtiler Fallstrick der letzten 2500 Jahre abendländischen Denkens. Dadurch daß man einen Begriff für etwas hat, denkt man unwillkürlich, daß dieses "Etwas" als "Seiendes" auch irgendwie vorhanden "sein" müsse, was es in Wirklichkeit garnicht "ist".
Und es gibt nur verschiedene Vorstellungen von Werden, und wenn unser ganzes Denksystem auf Seiendes ausgerichtet ist, dann können wir uns etwas unter "Werden" vorstellen, das aber immer und ewig an den Kategorien des Seienden ausgerichtet ist. Diese Problematik ist es, die Plato mit seinem Begriff der Archae beschäftigt.

4.2.4. Die Logik des Seienden und ihre sprachliche Fundierung

Nach der Sapir-Whorf Hypothese (BIB:WHORF5 6) wird das Denken der Menschen durch ihre Sprache determiniert. Dies kann man vielleicht in seiner scharfen Form bezweifeln, aber im einer abgeschwächten Form ist es sicher einsichtig: Wenn uns unsere Sprachstruktur, die Grammatik, mit ihrer alles dominierenden Form von "Subjekt-Prädikat-Objekt" suggeriert, daß da immer ein "seiendes" Subjekt sein muß, das an einem "seienden" Objekt etwas "tut", dann kann man irgendwann einmal nicht mehr den Gedanken fassen, daß es auch anders sein könnte. Whorf hat uns Beispiele von Indianersprachen gegeben, die auf völlig anderen Sprachkategorien beruhen, als unsere indogermanischen (und semitischen) Sprachen. Griechisch, die Wurzelsprache des westlichen Denkens, und Sanskrit, die der indischen Philosophen, sind indogermanische Sprachen, deren Kategorien nur solche Konstrukte zulassen.

4.3. Plato und die Politeia

Ein kleiner Seitenblick auf die Zeitgeschichte erscheint hier angebracht. Plato lebte zu einer Zeit, als das Staatswesen der athenischen Polis im vollsten Niedergang war. (ANM:NIEDERGAN G[4]) Der peloponnesische Krieg hatte Griechenland ausgeblutet, und das goldene Zeitalter des perikleischen Athen war nur noch eine genau so schöne Legende wie das Ur-Athen, das Plato in der Vorrede zu Timaios in seinem siegreichen Kampf gegen die Atlantischen "Sturmtruppen" schildert. Es ist verschiedentlich die Vermutung geäußert worden, daß der Konflikt Athen-Atlantien eine etwas eidetisch (im Sinne Platos) geklärte Version der Geschichte der Perserkriege gewesen sei. Die Zeit der Perserkriege war ein Aufbruch ungeheurer Dimension für das Griechentum gewesen, und der schmähliche Zusammenbruch, dessen Zeuge Plato war, dafür umso schmerzlicher. Er konnte nicht mehr miterleben, wie ausgerechnet sein widerborstiger Musterschüler Aristoteles genau dem Mann den geistigen Schliff (die paideia, wie er gesagt hätte) gab, der dann alle platonischen Ideale von dem besten Staat wie Staub in die Winde zerblies. Alexander, der in seinem hellenistischen Staatswesen ausgerechnet bei den Erzfeinden, den Persern die entscheidenden Anleihen für die Herrschaftsform genommen hatte.

4.3.1. Plato und Leibniz

Plato war selber bei seinen politischen Versuchen auf das gründlichste gescheitert, und konnte von Glück reden, daß er diese Abenteuer überhaupt überlebt hatte. So war er durch Erfahrung klug genug geworden, den idealen Staat nur in seinem Geiste auszudenken, und seinen Büchern und Schülern anzuvertrauen. Der Timaios war sein Ansatz, die Idealität des Staates auszudehnen auf die Natur. Wir können einen interessanten Vergleich zwischen ihm und Leibniz ziehen, der 2000 Jahre später seine Theodizee entwickelte, die Idee von der idealen Welt, die von idealen Gesetzen geregelt wurde. Beide entstanden trotz, oder vielleicht auch gerade wegen, der Situation einer Wirklichkeit, die alles andere als ideal war. Bei Plato war es der peloponnesische Krieg, der Griechenland verwüstet hatte, bei Leibniz der dreißigjährige Krieg, in dem Deutschland ausgeblutet war. Sowohl Plato wie Leibniz mußten das Scheitern ihrer hauptsächlichen politischen Anstrengungen erleben. Um so intensiver widmeten sie sich der Ausformung ihrer ideellen Welt.

4.3.2. Plato als Retter Griechenlands

Wie die Dinge so laufen, war Platos Rückzug aus der Welt der aktiven Politik der Grund, warum Griechenland nicht schon 200 Jahre später zu genau dem vergessenen Hinterhof der Weltgeschichte geworden ist, der es heute ist. Die Geschicke der Welt wenden sich schnell, und das Reich Alexanders und seiner Nachfolger dauerte ca. 150 Jahre, um dann von den römischen Legionen überrannt zu werden. Daß man dabei die Griechen nicht allesamt, wie die Völkerschaften der anderen eroberten Länder, in den Steinbrüchen, auf den Landgütern, und bei den Gladiatorenspielen verheizte, hatten sie Plato zu verdanken. Da er nämlich seine Akademie gegründet hatte, war Athen zu einem Zentrum von etwas geworden, von dem die Römer nur sehr wenig Ahnung hatten: Von der Gelehrsamkeit. Zu einer Zeit, als es noch keine Mercedes-Benz Automobile und kein Fernsehen gab, hatte diese einen höheren Kurswert bei den Reichen und Mächtigen als heute. Die Folge war, daß viele der griechischen Sklaven wesentlich angenehmere Positionen in den Häusern der Römer für die Erziehung der Jugend bekamen, und Griechenland wegen dieser geistigen Spielereien so etwas wie eine Narrenfreiheit genoß, mit der sich auch unter dem Joch der neuen Herren noch ganz gut leben ließ. Der Bildungstourismus blühte, und den Griechen ging es besser als zu den früheren Zeiten der Freiheit, als sie sich selber mehr schlecht als recht regierten und gegenseitig bekriegten (Polis und der ideale Staat hin oder her, denn was der Oikonomia recht, ist der Politeia billig).


[3]ANM:SOKRATES
Auch sonst war Plato ganz der aristokratische Meister Propper. Den weltlichen Genüssen war er abhold, nie im Leben hatte man ihn lachen sehen. Darin war er wirklich ganz anders als sein Lehrmeister Sokrates, der es liebte, auf Gastmähler zu gehen, wo er sich am Freiwein labte (Freibier gab es damals noch nicht), und der sich auch gerne zu den Hetären legte, wenn diese ihm mal eine Freifahrt spendierten. Geld, sie zu bezahlen, hatte er keines. Und zwei Frauen hat er gehabt. Neben seiner berühmten Xanthippe hatte er noch eine gewisse Myrto, so daß es bei ihm zu Hause keine ruhige Minute gab, weil die Frauen immer miteinander stritten.
[4]ANM:NIEDERGANG

Plato wurde geboren, als Perikles starb, erlebte als Kind und Jüngling die Katastrophe Athens, den Wechsel der Parteien und Verfassungen, die turbulente, Unheil zeugende Begnung der politischen Zustände. Sein Leben lag in der Zeit vor der Wende von der Poliswelt zur Großstaatswelt, vom Griechentum zum Hellenismus. Er erlebte sehend den Ruin, aber er kannte und ahnte noch nicht die neue, andere Welt... Nach Sokrates' Tod faßte er den radikalen Entschluß, sich zusückzusiehen, und der Philosophie zu leben... Er berichtet, wie ihm in der Jugend das Politische Enttäuschung auf Enttäuschung brachte.

BIB:JASPERS67, p. 16


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