Dies kann nur ein sehr skizzenhafter, umrißartiger Einblick in die Archae-Tektonik sein, ganz im Stil der "Umrisse des Leerstellendenkens". Wir können nie jemals mehr als Umrisse dessen aufzeigen, was wesentlich ist. Ich nehme die Seminararbeit zu Platos "Timaios" zum Anlaß, die Methodik und die Prinzipien des Leerstellendenkens weiter zu vertiefen und anhand des bearbeiteten Textes anzuwenden. Das Leerstellendenken ist eine Methode der Erkenntnis des Nicht-Begreifbaren, und wird in der Schrift "Umrisse des Leerstellendenkens" genauer beschrieben. Es befindet sich in der Tradition des sokratischen "Ich weiß daß ich nicht weiß". Die Linie, die hier verfolgt werden soll, reicht von Sokrates über Plato, die Neuplatoniker Plotin und Proklos, Dionysios ps. Areopagita, Cusanus, Giordano Bruno, Leibniz, Kant, Hegel, Gotthard Günthers Polykontexturale Logik, bis zum "Leerstellendenken". Die nächste wesentliche Station scheint 1700 Jahre nach Plato bei Cusanus zu sein. Er kann als der erste christliche Theo-Logiker bezeichnet werden. Cusanus hat in "Docta Ignorantia" eine Logik des Absoluten entwickelt, die nur wenig von einer formalisierbaren Logik vermissen läßt. Wenn man in seinen Schriften überall da, wo das Wort "Gott" vorkommt, das Zeichen des Omnipotenzoperators einsetzt, wird dies deutlich. Die Logik des Absoluten wurde von Hegel wieder in Angriff genommen, und in unserem Jahrhundert von Gotthard Günther wieder aufgegriffen. Die Arbeit des Leerstellendenkens wird in diesem Sinne weitergeführt. Die bisherige geistige Tradition des Westens bestand, von Cusanus abgesehen, im "Wissen des Wißbaren", auch "Wissenschaft" genannt. Diese Tradition hat sich m.E. auf einen Punkt hin entwickelt, an dem sich immanente Probleme dieses Ansatzes zeigen, die nur durch die Refokussierung auf die Grundlagen des Wißbaren und vor allem des Nicht-Wißbaren zu fassen sind. (ANM:WIßBAR [9] ) Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, und damit letztlich auch die Korrektheit jedes Wissens kann nur durch Sichtbarmachen seiner Leerstellen versichert werden, ansonsten verfällt man zu leicht der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Selbsttäuschung, das was wir wissen, für das Wißbare zu halten. Im Augenblick läßt sich dieser Ansatz nur umrißhaft andeuten, wie eben der Titel schon besagt: Es lassen sich nur Umrisse erkennen, und auch diese verändern mit dem Fortschreiten der Arbeit und der Erkenntnis fortwährend ihre Gestalt. Man kann sagen, daß das Projekt darauf hin zielt, neue Denkformen zu finden, und damit einen neuen Ursprung der Kultur, die sich aus dem Ende der europäischen Tradition erheben kann. Ein geeignetes Motto bietet uns ein Zitat von Gotthard Günther.
Die Bewußtseinsgeschichte des Abendlandes und der weltgeschichtlichen Epoche, der Europa angehört, ist zu Ende. Das zweiwertige Denken hat alle seine inneren Möglichkeiten erschöpft, und dort wo sich bereits neue spirituelle Grundstellungen zu entwickeln beginnen, werden sie gewaltsam in dem alten längst zu eng gewordenen klassischen Schema interpretiert. Man kann eben eine alte Logik nicht ablegen wie ein fadenscheinig gewordenes Kleid. Der Übergang von der klassisch-Aristotelischen Gestalt des Denkens zu einer neuen und umfassenderen theoretischen Bewußtseinslage erfordert eine seelische Metamorphose des gesamten Menschen. Einer nicht-Aristotelischen Logik muß ein trans-Aristotelischer Menschentypus entsprechen und dem letzteren wieder eine neue Dimension menschlicher Geschichte.
Um eine solche neue Denkform zu finden, ist es nötig, so hat es sich herausgestellt, daß wir eine möglichst gute Kenntnis der Wurzeln und Entwicklungsgeschichte unseres vorhandenen Systems bekommen, und eine Kenntnis der Systeme, die sich alternativ zu unserem entwickelt haben. Wir müssen zu dem Punkt "ex archaes" kommen, zu dem Punkt, an dem alles seinen Anfang nahm, oder auch jetzt noch nimmt, wie wir erkennen werden. Dieser Anfang liegt nämlich vor der Zeit, und damit außerhalb von ihr. Und damit liegt er nicht nur in der Geschichte, sondern im Jetzt, und in unserem kreativen Verständnis, dessen, was sich entwickelt hat, und sich jetzt manifestiert. Die Archae-Tektonik ist ein Begriff, der die systematische und logische Betrachtungsweise der Archae bedeutet, so wie Kant seine Architektonik der reinen Vernunft formuliert hat:
Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Scientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt...
Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.
ANM:BEGRIFFE
[10]
/ BIB:KANT-KRITI
K,
A832/B860
Eine systematische Einheit ist apriorisch. Sie ist eine Idee, also etwas, was
der Vernunft entspringt. Diese Idee wirkt als Ordnungsfaktor und determiniert
sowohl die Grenzen dessen, was als Mannigfaltiges auftritt, als auch seine
innere Ordnung, also das Verhältnis der Teile des Mannigfaltigen
untereinander. Das "Leerstellendenken" verwendet hier den Begriff
"Strukturelles System" anstatt "systematische Einheit".
Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch untereinander beziehen, macht, daß ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmten Grenzen habe, stattfindet.
a.a.o.,
A833/B861
Weiter sagt er sinngemäß: Das Ganze ist gegliedert
(articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio). Es kann
innerlich, aber nicht äußerlich wachsen. Dies wird
durch das Beispiel eines tierischen Körpers erläutert, der zwar im
Laufe seiner Entwicklung gewisse Form- und Größenveränderungen
erfährt, aber die Zahl der Beine, Ohren, Augen, etc. konstant hält.
Dies ist eine etwas schwierige Formulierung, die den vorausgehenden Gedanken
ergänzt. Die Struktur ist der Leitfaktor, und determiniert, ob und an
welcher Stelle im Ganzen, irgendein Teil eingesetzt werden kann, und welcher
Art dieses Teil ist. Umgekehrt, wenn irgendwo ein Teil fehlt, läßt
es sich kraft der Kenntnis der Struktur eindeutig rekonstruieren. (Man beachte
die Ähnlichkeit mit einem Hologramm.) An anderer Stelle führt er das
weiter aus:
Übersehen wir unsere Verstandeserkenntnisse in ihrem ganzen Umfange, so finden wir, daß dasjenige, was Vernunft ganz eigentümlich darüber verfügt und zustande zu bringen sucht, das Systematische der Erkenntnis sei, d.i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip. Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System wird... Dergleichen Vernunftbegriffe werden nicht aus der Natur geschöpft, vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen...
a.a.o.,
A645/B673
Auch diese Begrifflichkeit bedarf der Erläuterung. Innerlich und
äußerlich heißt hier nicht bezogen auf Innen und
Außen eines Körpers, sondern bezogen auf Strukturmerkmale, die
entweder immanent oder extern zur Struktur sind. Ein
Tierkörper folgt in seiner Form einem bestimmten Strukturschema, das wir
in der Wissenschaft z.b. als das Strukturschema der Wirbeltiere festgestellt
haben. Diese Tierklasse hat immer einen Kopf, vier Extremitäten (Beine und
Arme/Flügel, Flossen), und eine gemeinsame Knochenstruktur, die
Wirbelsäule, an der alle anderen Teile auf eine wiederum strukturell recht
festgelegte Weise befestigt sind. Wir arbeiten in der Zoologie mit diesem sehr
bewährten Strukturschema, das sich durch 200 Jahre biologische Forschung
gefestigt hat. Ein Wirbeltier kann sich im Laufe seines Lebens (von
Unfällen abgesehen), nur dadurch verändern, daß seine
Strukturbestandteile sich in der Größe und ein wenig in den
Proportionen gegeneinander verändern. Es kann aber kein fünftes Bein
wachsen. Es gibt auch keine Wirbeltier-Art mit fünf Beinen. Und umgekehrt,
wenn wir einen dreibeinigen Hund sehen, dann können wir ihm zwar kein
viertes Bein mehr wachsen lassen, aber wir wüßten genau, wie dieses
vierte Bein aussehen würde, und wo es am Korper aufgehängt ist. (Man
beachte hier auch die Bezüge zu der Theorie der Morphogenetischen Felder
von Sheldrake.)
Die Idee bedarf zur Ausführung ein(es) Schema(s), d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte (abgeleitete) wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile. Das Schema, welches ... nur zufolge einer Idee entspringt ... gründet architektonische Einheit. Nicht technisch, wegen ... des zufälligen Gebrauchs der Erkenntnis in concreto zu allerlei beliebigen äußeren Zwecken, sondern architektonisch, um der ... Ableitung von einem einigen (einigenden, oder einzigen) obersten und inneren Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen, dessen Schema den Umriß (monogramma) und die Einteilung des Ganzen in Glieder, der Idee gemäß, d.i. a priori enthalten... muß.
a.a.o
.,
bis A834/B862
Auch hier läßt sich sehen, daß die innere Idee, der oberste
Zweck, das Leitprinzip der Architektonik ist. Im weiteren beschreibt Kant, wie
die Entwicklung einer solchen Leitidee aussieht.
Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein, in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich am Anfang von seiner Wissenschaft gibt, nur sehr selten seiner Idee;...
Meistens fängt man beim Erarbeiten irgendeines Wissensbereichs mit einer
vagen Idee an, die aber noch in einem Wust von ungegliederten Daten verborgen
ist. Und der, der als Wissenschaftler einer Idee nachgeht, kann manchmal sehr
lange oder auch auf Lebenszeit von unfertigen Versionen der Kernidee beherrscht
sein:
Um deswillen muß man Wissenschaften, weil sie doch alle aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht werden, nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich selbst nicht haben deutlich machen und daher den eigentlichen Inhalt, die Artikulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft nicht bestimmen können.
a.a.o., A834/B862 10-20
Wir haben hier eine Beschreibung von Zuständen, wie sie uns aus der
Wissenschaft bestens bekannt sind. Kuhn beschreibt seine berühmten
Paradigmenwechsel in einer ähnlichen Weise. So muß erst eine
Forschergeneration aussterben, damit eine jüngere Generation nicht mehr ex
cathedra gezwungen ist, unter den Sichtbeschränkungen der Lehrstuhlinhaber
zu arbeiten, und eine klarere Version formulieren kann. (BIB:KUHN62
)
Es ist schlimm, daß nur allererst (erst dann), nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee... viele dahin sich beziehenden (darauf hinzielende) Erkenntnisse, als Bauzeug (Rohmaterial) gesammelt (und)... zusammengesetzt haben, es uns dann allererst (letztendlich) möglich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.
a.a.o., bis A835/B863
T.A. Edison meinte: "Genius is 10 percent inspiration and 90 percent
perspiration." Wir müssen also erst eine Menge Abraum bewegen, bevor wir
das reine Gold der puren architektonischen Idee gewinnen können.
Wir begnügen uns hier mit der Vollendung unseres Geschäftes, nämlich, lediglich die Architektonik aller Erkenntnis aus reiner Vernunft zu entwerfen, und fangen nur (nun) von dem Punkte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei Stämme auswirft, deren einer (die) Vernunft ist. Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere (oberste, höchste) Erkenntnisvermögen, und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen.
a.a.o., bis A836/B864
Alle Vernunfterkenntnis ist nun entweder die aus Begriffen, oder aus der Konstruktion der Begriffe; die erstere heißt philosophisch, die zweite mathematisch. Von dem inneren Unterschiede beider habe ich schon im ersten Hauptstücke gehandelt... Man kann also unter allen Vernunftwissenschaften (a priori) nur allein Mathematik, niemals aber Philosophie... sondern was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophieren lernen. Das System aller philosophischen Erkenntnis ist nun Philosophie... Auf diese Weise ist Philosophie eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist, welcher man sich aber auf mancherlei Wegen zu nähern sucht... Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur ein Schulbegriff... von einem System der Erkenntnis... Es gibt aber noch einen Weltbegriff (conceptus cosmicus), der dieser Benennung jederzeit zum Grunde gelegen hat... In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft ... und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.
a.a.o., A837/B865 bis A839/B867
Kant hat damit für das Denken der Reinen Struktur einige wesentliche
Fundierungen gegeben. Struktur ist ein Phänomen der Erkenntnis. Sie
entwickelt sich nicht abhängig von Daten, sondern ist den Daten
entgegengesetzt. Sie regiert die Anordnung von Daten und Fakten nach ihrem
Muster. Kants Anleitung für das Denken der Reinen Struktur ist: Man
muß seine Daten und Fakten "nach der Idee, welche man aus der
natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der
Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen." Auch
wenn das allen anderen Lehrmeinungen und dem Expertenwissen widersprechen mag.
Wir können jetzt den großen Bogen von dem architektonischen Ansatz Kants bis zu der Archae des Denkens der Menschheit schlagen. Hesiod hat die Archae mit der Leere gleichgesetzt. Die Archae ist dem Denken gegenüber transkategorial. Es überschreitet alle Kategorien des Denkens und des Denkmöglichen. In der buddhistischen Philosophie wurde das Konzept "Shunyata" für diese Transkategorialität geprägt. Man sollte diese Transkategorialität immer, wenn man "Shunyata" mit "Leere" übersetzt, bewußt halten, um nicht dem Fehlschluß auf Nihilismus anheimzufallen. Das Thema der Transkategorialität ist der wesentliche Inhalt der Arbeiten des Cusanus von der Grundlegung seiner Methode in "Docta Ignorantia" 1440 bis hin zu seiner letzten Schrift "De apice Theoriae" in seinem Todesjahre 1464. Cusanus hat mit seiner Methode den Grund gelegt (wieder eine Archae), wie man trotzdem, und in vollem Bewußtsein des Nicht-Denkbaren, dennoch mit dieser ultimaten Leerstelle umgehen kann (wobei hier der Rückgriff auf mystische Terminologie der einzige Weg einer Begrifflichkeit ist. Das Denken muß nämlich im Transkategoriellen aufgehen, und sich erfassen lassen, anstatt zu versuchen, zu erfassen). Das Leerstellendenken setzt diese Idee in eine etwas andere Begrifflichkeit um: Die Archae, das Nie-Zu-Fassende, muß nicht formlos, nicht chaotisch sein, wie man gemeinhin annimmt. Die Archae ist gegliedert, eben architektonisch, in dem Sinne wie Kant annimmt. Diese Gliederung ist die Verbindung zwischen dem erkennenden Geist und dem Ursprung. Auf diese Weise ist der Ursprung dem Erkennenden immer präsent.
Leibniz hat wesentliche Kerngedanken des Cusanus weitergedacht, und mit seinem Binärsystem einen philosophischen und metaphysischen Kalkül geschaffen, der heute aber leider nur für so profane Zwecke wie Computer gebraucht wird. Daß Leibniz das Binärsystem wirklich für philosophische Zwecke gedacht hatte, beweist ein Zitat aus einem Brief von Leibniz an Pater Bouvet, dem jesuitischen Gesandten des Papstes am Hof des Kaisers von China:
... ich weiß nicht, ob ich in meinen anderen Briefen an Eure Reverenz schon einmal von meinen neuen numerischen Rechensystem berichtet habe, das ich nicht für den gemeinen Gebrauch, sondern für die Theorie der Wissenschaft erfunden habe, weil es ein großes Feld für neue Theoreme eröffnet; und vor allem gibt dieses Rechensystem eine wunderbare Darstellung für die Schöpfung. Das ist, weil in Anwendung dieser Methode sich alle Zahlen durch eine Mischung von der EINS und der NULL schreiben lassen, ungefähr so, wie alle Kreaturen nur von Gott kommen, und von Nichts. Es gibt nichts in den Mathematikwissenschaften, das mir geeigneter erscheint, für die Zwecke der Religion gebraucht zu werden; und um einen der wichtigsten Punkte zu beweisen, den die heidnischen Philosophen gewohnheitsmäßig einstimmig verwerfen; und sagt man nicht vergeblich, daß die Wesenheiten wie die Zahlen sind, und alle Unvollkommenheiten der Dinge aus nichts als Negationen bestehen; daher kommt, daß St. Augustin sehr richtig sagte: Das Übel kommt aus dem Nichts... Aber mein wichtigstes Ziel ist gewesen, verehrter Vater, Ihnen eine neue Bestätigung der christlichen Religion in die Hand zu geben, die meiner Meinung nach ein großes Gewicht bei den chinesischen Philosophen haben wird, und vielleicht sogar bei dem chinesischen Kaiser selber, der ja die Wissenschaft der Zahlen liebt. Einfach zu sagen, daß alle Zahlen sich durch Kombinationen der Einheit mit der Null formen, und daß das Nichts genügt, um sie zu differenzieren, das erscheint genauso glaubwürdig, wie zu sagen, daß Gott alle Dinge aus Nichts erschaffen hat, ohne sich irgendeiner Urmaterie zu bedienen; und daß es nur diese beiden Urprinzipien gibt: Gott und das Nichts. Gott für die Vollkommenheiten, und das Nichts für die Unvollkommenheiten oder die Leerstellen der Esszenz. Und wenn Sie die eigentliche Herleitung der Erfindung dieses Rechensystems weglassen (es stammt aus der Analogie der Binär-Progression mit der Dezimal-Progressio n) dann erscheint die Sache umso bewundernswerter. Vielleicht wird dieser große Monarch nicht böse sein, zu erfahren, daß ein Europäer Ihrer Bekanntschaft, der sich unendlich für alles interessiert, was mit China und seinen Handel des Lichts mit Europa zusammenhängt, diese Entdeckung gemacht hat, und sie speziell an Sie geschickt hat, um sie Seiner Majestät zu unterbreiten.
(Leibniz an Pater Bouvet, Braunschweig, 15. 02. 1701) Hervorhebung des
Nichts, der Übersetzer.
Im Rahmen dieser Schrift soll das Thema unter dem Aspekt aufgegriffen werden,
ob Leibniz vielleicht der besten Darstellung der Dinge sehr sehr nahe war, und
nur ganz knapp das Ziel verfehlt hat. Leibniz kannte sehr wohl die Arbeiten von
Cusanus
,
auf den er sich wiederholt bezieht. Man kann sagen, daß Cusanus einer der
großen Meister und Vorbilder von Leibniz war, der sein metaphysisches
Denken entscheidend geprägt hatte. Wie Leibnizens metaphysische
Beschreibung seines Binärsystems
zeigt, hatte er mit diesem System so etwas wie den "Stein der Weise
n"
gefunden. Ihm war ja das alchemistische
Gedankengut noch durchaus geläufig, und mit diesem System lieferte er
genau das Unterpfand, das als Beweis seiner Errungenschaften im Metaphysischen
in diese Welt des Greifbaren und Dinglichen von jedem Adepten der Alchemie als
Zeichen seiner Meisterschaft zurückzubringen war.
Mit dem Binärsystem hatte er die formale Repräsentation eines
außerordentlich weit entwickelten metaphysischen Prozesses geliefert.
Leibniz brauchte noch seinen Gott, also den Omnipotenzoperator , und damit ein
Sein, um die Leerstellen auseinanderzuhalten. Wie wäre es, wenn das gar
nicht nötig wäre, sondern wenn die Leerstellen selber die EINS
generieren, und nicht umgekehrt, wie Leibniz dachte. Wenn also die Wurzel
allen Übels nicht im NICHTS sondern im Gegenständlichen liegt, um
St. Augustin
das Wort im Munde herumzudrehen. Dies war die Esszenz des Denkens der Leere
taoistischer, buddhistischer, und vedantischer Prägung. Auf diese Esszenz
konnte das westliche Denken einfach nicht kommen, da es mit seinem Paradigma
der Causa Finalis in Form von Gott einfach noch zu verwickelt war.
Die EINS
muß nämlich in ihrem metaphysischen Gehalt als "gegen NULL
konvergierend" betrachtet werden. In Wirklichkeit ist Sie NICHTS. Die EINS ist
NICHTS als eine Grenz
e,
eine Unterscheidun
g,
oder eben ein Umri
ß,
der den EINZigen Zweck hat, die Nullstelle
n,
also die Leerstelle
n,
auseinanderzuhalten, so daß sie nicht ins unterschiedslose Absolute
zusammenfallen. Daß sie sich nicht in der Nacht des Absoluten
auflösen, in der alle Katzen grau sind, wie Hegel
es ausdrücken würde.
Auf diese Weise läßt sich auch das Binärsystem für die Basis einer Archae-Tektonik und eine Logik des Absoluten verwenden. Wir erhalten damit eine Archae-Logik, oder besser: Eine Archae-Nautik. (ANM:ARCHAE-NAUTIK[11] ) Hiermit befinden wir uns wieder in bester Gesellschaft. Nämlich bei der Archae Noah, und bei den Archonauten auf ihrer Suche nach dem goldenen Vlies.
[9]ANM:WIßBAR
Ein etwas simplistisches Beispiel soll hier zeigen, wie die Fokussierung auf
Gewußtes und Wißbares unter gleichzeitiger Vernachlässigung
des Nichtgewußten und nicht Wißbaren ein sehr schiefes Bild eines
betrachteten Gegenstandes bilden kann:
Die Zeit von der vermuteten Entstehung der biologischen Spezies "homo xxx" vor
ca. 2 Millionen Jahren bis zu etwa -7000, also die weitaus längste Periode
der menschlichen Existenz auf diesem Planeten, war eine Periode reger
menschlicher Aktivität und kulturellen Schaffens. 99% der kulturellen
Schöpfungen der damaligen Menschen waren entweder in Form von Rhythmen,
Gesängen, und Ritualen, Geschichten und Mythen, oder in Form von
Gegenständen, die aus verwitterbarem Material gemacht worden waren: Holz,
Pflanzenfasern, Federn, Fell, Leder, und weniger als 1 % der kulturellen
Schöpfungen waren aus haltbarem Material, Stein gemacht. Weil aber nur
diese steinernen Relikte zu uns herübergekommen sind, hat man dieses
Zeitalter "Steinzeit" genannt, und in weiten Kreisen (und nicht nur bei den
Laien) stellt man sich dieses Zeitalter als ein primitives vor, in dem die
Menschen dumpf dahinvegetierten, und gegen deren Zustand sich unser heutiges
technisches Zeitalter wie der Himmel auf Erden ausnehmen soll. Eine auch
einigermaßen aufrichtige Beschäftigung mit einem Thema wie diesem
muß immer mit dem Satz beginnen: "Wir können aufgrund der
Umstände der Dokumentation nur 0,1% dessen, was da geschah, hoffen, auch
nur grob und schemenhaft zu begreifen, und wir müssen daher eine
Leerstelle einrichten, die wir in allen unseren Überlegungen sichtbar
mitführen müssen, als sichtbares Zeichen, daß wir hier einen so
riesigen Bereich haben, den wir nie werden wissen können."
[10]ANM:BEGRIFFE
Ein Aggregat ist eine Ansammlung von Daten und Erkenntnissen, die eher
weniger als mehr systematisch miteinander verbunden sind.
a priori heißt eine Einsicht, deren Richtigkeit durch die
Erfahrung weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Kant kennzeichnet damit
Begriffe, die allein dem Verstande, der Vernunft entstammen.
BIB:SCHISCHKOFF, p.37
Es ist Kants wesentliches Ansinnen in der "Kritik der reinen Vernunft", die Relevanz der apriorischen Erkenntnis zu beweisen, und sie gegen den Empirismus zu verteidigen.
[11]ANM:ARCHAE-NAUTIK
Da der denkende Geist die Archae nicht erfassen, begreifen, berühren, oder
sonstwie objektifizieren kann, ist das Aufgehen des Geistes in der Archae eben
eher mit dem Eintauchen in das Wasser, nach den Vorsokratikern das archaische
Element der Archae, zu vergleichen.